Anzeige. Gutenberg Edition 16. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++
Dies, die gefährlichste aller Epochen, stellt erst den gleichsam vorbereiteten Charakter auf die Probe. Was ist schwieriger, als lange am Ziele stehn?
Doch, der Künstler steht nie am Ziel, niemals kann es eine Epoche der Erfüllungen für ihn geben. Wie aber, wenn er nur zu einem Teile Künstler, wenn sein weltliches Bestreben: nach Macht, nach Lust, nach Wirkung von solcher Stärke wäre, daß es nun, wenn ihm Genüge geschah, den Anteil des Künstlers schmälerte? Wie, wenn in den Jahren höchster Reife das Werk verblaßte, – zugunsten einer Art des Glückes, das sich die Jugend wünschen mag, nicht Greise? Der Fall Wagner.
Die Seinen klagen, erst so spät sei »das Glück« zu ihm gekommen. Wir deuteten an, wie es ihm vielmehr immer folgte. Die völlige Erfüllung seiner Wünsche, seit er den König traf, beginnt freilich erst mit seinem einundfünfzigsten Jahre. Was aber hätte ein Mann, der sich so vielfach mit dem Leben zu verständigen suchte, der es an soviel Punkten angefaßt; was hätte ein Reformator, der soviele Technika mußte beherrschen lernen, ein Oppositioneller, der seine Kraft an Widerständen stählte, mit einem frühen Siege gemacht? Und schließlich hat er ihn fast zwanzig Jahre genossen. Balzac, als er auf seine Art Erfüllung seines lebenslangen Wunsches fand, starb nach sechs Monaten.
Als Wagner sich plötzlich in so veränderter Lage fand – Horaz neben Augustus, sagte Bülow und irrte sich in beiden –, da entfiel ihm unwillkürlich eine Äußerung, in der er sehr schön ist, wenn man das dreißig Jahre lange Rennen vergißt, an dessen Ziel er eben ausruhen will. Frau Cosima von Bülow ist angekommen am Starnberger See, mit ihren Kindern: »Das belebt etwas«, schreibt Wagner, »doch bin ich so eigen, daß nichts rechten Eindruck mehr machen will ,… Ich stürbe jetzt so gern!« Und als er, sieben Jahre später, den Grundstein zu seinem Werke legt, finden wir noch einmal den ungespielten, würdigen Ausdruck eines Renners am Ziel.
Fast zu gleicher Zeit fand Wagner alles, was er lange ersehnte: einen Fürsten, der seinem Theatersinne jede Möglichkeit zur Entfaltung größten Stiles bot. Eine Rente, die ihn zeitlebens der Notwendigkeit überhob, zu verdienen: also Muße zur Arbeit und ein Feld zur Bewegung. Endlich eine Gefährtin, wie sie ihm früher fehlte.
Knapp zwei Jahre, nachdem Wagner zu König Ludwig kam, starb plötzlich seine Frau in Leipzig, er erfuhr es auf einer Reise in Marseille. Das war Ende Januar 66. Sechs Wochen später war die Gattin seines Freundes Bülow bei ihm in der Schweiz: mit größter Unerschrockenheit, entschlossen, mit ihm sofort sich zu verbinden. Ein Zwischenzustand verzögerte ihre Heirat. Als Wagner 55 Jahre war, heiratete er zum zweiten Male, eine dreißigjährige Frau. Sie war Tochter und Gattin seiner nächsten Freunde. Als Zwanzigjährige hatte sie ihn in Zürich besucht. Vielleicht hat Herwegh es getroffen, als er ihr damals die schönen Zeilen aufschrieb:
»Der Genius der Harmonie
wird dich mit seinen Wundertönen
umrauschen, und du wirst dich nie
mit der verstimmten Welt versöhnen.«
Ein Urteil über ihren Einfluß, wäre es möglich, wäre zumindest heute noch nicht frei. Wenn Wagner öffentlich über sie schreibt, so tut er das auf seine Gefahr. Dem Dritten steht das nicht an.
Ein künstlerisches Bild von ihr hat Wagner nicht hinterlassen. Was er hinterließ, hat sie mit künstlerischem Genie gepflegt. –
Dieser Mann, bisher immer ruhelos, findet jetzt, am Ausgang der fünfziger Jahre, am Vierwaldstättersee eine Stätte, an der er sechs Jahre lang, und später in Bayreuth eine zweite, an der er zehn Jahre bis zum Tode ungestört lebt. Nun sieht man den früher immer Kinderlosen im Landhaus mit den Kindern seiner Gattin leben, bis er siebenundfünfzigjährig den ersten Sohn umarmt: »Heute ist der glücklichste Tag meines Lebens ,… Er gedeiht nun mit meinem Werke und gibt mir ein neues Leben, das endlich einen Sinn gefunden hat!« Sogleich denkt er an die ihm einzig natürliche Bestimmung des Sohnes: »Ein schöner kräftiger Sohn ,… wird seines Vaters Namen erben und seine Werke der Welt erhalten.«
Diese Idylle schildert Wagner in jenem reizenden Orchesterstück, das sich aus den Motiven des Siegfried aufbaut. Doch mußte er bald fühlen, daß seinem Bewegungsdrang die Idylle widerstrebte. Rasch wurde das einsame Bauernhaus zum Ausgangspunkte zahlloser Rufe in die Welt, zum Sammelpunkte der Antworten und Menschen, die diese Welt entsandte.
Die Idylle ist Gegenwart. Wagner lebt darin zugleich vorwärts und rückwärts. »Gar manches aus meiner Vergangenheit hat sich jetzt bei mir angesammelt, was achtlos leichthin zerstreut war.« Familienbilder. Zugleich diktiert er seine Biographie. Zugleich beginnt die jahrelange großartige Agitation für das Festspielhaus, er empfängt, instruiert, entläßt seine Boten. »Mein Leben ist jetzt dem einen Unternehmen gewidmet.« In Bayreuth kann er sich sechzigjährig endlich sein eigenes Haus bauen. Darin umgibt er sich, ganz wie ein großer Schauspieler, mit sich selbst: Wagner in Öl, in Stein, zweimal im Mittelgrunde. Umher Silhouetten von Wagners Helden. Rings läuft ein Fries mit Darstellungen aus dem Ringe. Die Büsten zweier Sänger.
Alle vitalen Kräfte steigen, seit die Erfüllungen für ihn begannen. Während er in München lebte, in gewissem Sinne unbeschränkt, fast wie der König selbst, schrieb er Streit- und Propagandaschriften, haßvolle Rezensionen über das Buch eines Dichterkomponisten, der einst gegen ihn gewirkt: fünfundfünfzigjährig, in Zeitungen – »Horaz neben Augustus«. Oder er wendet sich zweimal an Bismarck um Unterstützung für Bayreuth, vergeblich, läßt sodann den Großherzog von Baden fragen, ob er nicht beim Kaiser intervenieren könne, denn die Festspiele sollten im Jahre 76 »als Lustralfeier des Frankfurter Friedens« von Reichs wegen unterstützt werden. Oder er fragt in Berlin an, ob man bei der Rückkehr der Truppen (März 71) für eine Totenfeier ein Requiem von ihm wolle; man lehnt ab; Wagner offeriert ein anderes Musikstück, beim Defilieren der Truppen zu spielen (Regisseur), am Schluß mit einem Gesang aller Truppen (Volk). Man lehnt wieder ab. Darauf richtet Wagner den Kaisermarsch für den »Konzertsaal« ein.
Zugleich mit seiner Lebenskraft steigt sein Genuß als Künstler. Als er den Tristan in München aufführt, fühlt er sich »mit meiner ganzen Kunst wie auf einen Pfühl gebettet ,…« »Edel, groß, frei und reich die Anlage der Kunstwerkstatt, ein wunderbares, vom Himmel mir beschiedenes Künstlerpaar, innig vertraut und liebevollst ergeben, begabt zum Erstaunen. Wie ein Zaubertraum wuchs das Werk zur ungeahnten Wirklichkeit ,… So wundervoll, wie nie etwas erlebt wurde!«. Zugleich steigt sein Ruhm. Er reist nach Leipzig, Wien, Berlin, er wird mit unerhörten Ehren empfangen. In Berlin liest er im Ministerium die Dichtung der Götterdämmerung vor einem geladenen Publikum.
Nur eines sinkt: das ist die Kraft zu produzieren, zugleich der Wert der Produktion. Zwischen 66 und 83, in fünfzehn Jahren, hat dieser unermüdlich tätige Mann, der Muße, Geld, Familie besaß, außer dem Schluß des Siegfried und zwei Märschen, im ganzen zwei Werke geschaffen: Götterdämmerung und Parsifal, die selbst seine Anhänger meist hinter alles setzen, was er seit Tannhäuser hervorgebracht hat.
Am neunundfünfzigsten Geburtstage legte er den Grundstein zu seinem Theater, das er über zwanzig Jahre geplant hat. Noch einmal finden wir ihn in jener Erschöpfung des Wirkenden, die soviel schöner ist als die zähe Dauer der Hast. »Sei gesegnet, mein Stein, stehe lange und halte fest!« Nach diesen schönen Worten wandte er sich ab, um den Hammer einem anderen zu reichen. Er war blaß und hatte Tränen. Nietzsche schreibt: Als sie zur Stadt zurückfuhren, »schwieg er und sah dabei mit einem Blicke lange in sich hinein, der mit einem Wort nicht zu bezeichnen wäre ,… Alles bisherige (Leben) war die Vorbereitung auf diesen Moment.« Nietzsche war der einzige Geist ersten Ranges, der an diesem seinem wichtigsten Tage bei Wagner war. (Symbolisch, daß die drei anderen Freunde, alle aus rein persönlichen Gründen, fehlten: Liszt, Bülow und der König. Auch vor den Festspielen fuhr der König fort, der Wagner seit acht Jahren nicht gesehen und jetzt nur die Proben angehört hatte.)
Was nun folgte, war eine zehnjährige Kette von Zugeständnissen, die er einging, von Kompromissen, die er schloß, ein stetes Zurückweichen, um vorzudringen: bis schließlich etwas verwirklicht wurde, dessen Unwert in dieser Form Wagner kannte und beklagte.
Aber er konnte nicht anders. Wie ein Schauspieler mußte er die Rolle, die er so vollkommen studiert, auf die Bühne bringen, die Idee, die er gepflegt, auf sein Theater – gälte es auch, fast auf alles zu verzichten, was er sich vorgesetzt hatte. Denn Wagner, viel mehr Reformator als Künstler, besaß nicht jene Kraft der Phantasie, die mit dem eigenen Werk vor innerem Auge spielt und mit dem Spiel die dichterische Nötigung beschließt. Und wenn er sie besaß, so brachte sie ihm keine Lust. Er wollte sein Werk nicht sehen, er mußte es gesehen haben: das ist alles.
Daß weder das Reich noch das Volk dies Festspielhaus baute, sondern Patrone und Vereine, ist zwar typisch für die Unfruchtbarkeit seiner Volks-Kunsttheorien, seines Nationalkunstgedankens, doch schließlich irrelevant. Daß er aber vor diese Idee, deren Sinn sich in offenen Türen darstellen wollte, vor dies »Festspiel der Nation«, dies erneute Hellas, vor dies Volks-Mythos-Drama eine Kasse stellte! Ehe er ein Billett verkaufen ließe, hatte er noch kurz zuvor gerufen, ehe er »einen Groschen Geld für sein Kunstwerk« annähme, würde er das Haus mit der Bayreuther Garnison anfüllen lassen! Dann sah er aber, daß es nicht anders ging. Etwas aus inneren Gründen aufzugeben, war Wagner immer unmöglich: so gab er nach.
Belastet durch dieses kopflose Zurückweichen, mußte der Reformator nun die Folgen erleben. Nichts von allem trat ein, was er gehofft hatte, und während er das Außerordentliche zu erreichen schien, erreichte er nichts. Die Wagnerianer fühlten sich am Ziele. Ein einziger verstand, was hier geschah: Nietzsche verließ die Festspiele vor dem Ende. Wie er, fühlte nur Wagner.
Wagner hatte sich in seine reformatorischen Gedanken, die doch nichts Geringeres als den Beginn einer neuen Kultur heranführen wollten, zu sehr vertieft, um sich blenden zu lassen. Nach den Festspielen hielt er den Patronen eine Rede: »Jeder ist achtlos wieder abgereist. Das Ganze war eine Vergnügungsreise, etwas Außerordentliches ohne weitere Bedeutung und Konsequenz. Man hatte mir ungeheure Ehren erwiesen, mir das Glück bereitet, in einem eigens für mich erbauten Bühnenhause die besten Sänger und Musiker Deutschlands zur Darstellung eines meiner Werke vereinigt zu sehen, Kaiser und Fürsten hatten die Aufführung mit ihrem Besuche beehrt. Was will der Mann mehr? das war die allgemeine Stimmung, von der ich mich überzeugen mußte.« Mit dem Entschluß eines Mannes faßt sich Wagner zusammen: »Das ist dies eine Mal geschehen, und nie wieder! Dadurch ist die Sache auf einen Weg gekommen, von dem sie durchaus zurücktreten muß. Wir sind beurteilt worden wie Leute, die sich für Geld preisgeben.«
Bei der ersten Aufführung in Bayreuth saß Wagner »über unbedeutende Einzelheiten tief verstimmt und niedergeschlagen in seinem Zimmer, schimpfte auf alle Darsteller ,…, er war nicht zu beruhigen.« Am Schluß erschien er nicht. Aber am Schluß des letzten Abends dankte er von der Bühne den Künstlern und faßte sich gegen Deutschland in das »Axiom« zusammen: »Sie haben jetzt gesehen, was wir können. Nun ist es an Ihnen, zu wollen. Und wenn Sie wollen, so haben wir eine Kunst!« Wann hat ein deutscher Künstler je einen solchen Satz gewagt?
Kurz darauf schreibt er einem Freunde: »Ich glaube, Du warst einer von den wenigen, die mir anmerkten ,… wie es mir bei all der anscheinenden Herrlichkeit zumute war. Es hat sich im Verlaufe auch mehreren offenbart.« Und immer rief er: » Nie wieder! Nie wieder!«
Dies alles gibt eine Stimmung, zwischen Übermut und Erkenntnis. Je mehr er dies Publikum verachten lernt, das ihm aus Neugier Geld gezahlt, um so höher steigt er vor sich selbst. »Es schien, daß so noch nie ein Künstler geehrt worden sei. Denn hatte man erlebt, daß ein solcher zu Kaisern und Fürsten berufen worden war, so konnte niemand sich erinnern, daß je Kaiser und Fürsten zu ihm gekommen seien ,… Es mußte mir deutlich werden, daß mehr die Verwunderung über das wirkliche Zustandekommen der Unternehmung die Teilnahme der höchsten Regionen mir zugewendet hatte, als die eigentliche Beachtung des Gedankens, der das Unternehmen mir eingab.« Und über die widerspenstige Presse, bald darauf: »Diese Menschen wissen, daß sie recht haben, daß wir keine Kunst haben, daß ich ein Tor bin!« Als sich zu alledem die Entdeckung eines großen Defizits gesellte, schrieb er entschlossen, öffentlich: »Mein bisheriges Unternehmen war eine Frage an das deutsche Publikum: wollt ihr? – Nun nehme ich an, daß man nicht will, – und bin demnach am Ende.«
Bei so vielfältiger Beleuchtung seiner Erkenntnis war Wagner, nach seinem größten Kompromiß, noch einmal die Möglichkeit gegeben, sich als ein Mann und vollends als ein Künstler zu zeigen. Er hatte alles durchschaut, nun mußte er umkehren.
Aber Wagners Wirkungsdrang – genau wie seine Sinnlichkeit – war Wollust und nicht Leidenschaft. Er schuf: