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Das Persönlichste, was Wagners Musik und Dichtung ausspricht, was seine Werke am tiefsten eingesogen, von den Feen bis zum Parsifal: das Geschlechtliche ist in ihm selbst genau vorgebildet: so in den Formen seiner Phantasie wie in den Erlebnissen seiner Erfahrung. Die Kenntnis dieser spezifischen Art seiner Sinnlichkeit führt vorwärts und rückwärts zur Erkenntnis seines gesamten Wesens und seiner gesamten Musik.
In jenem » Krampf«, von dem er oft gesprochen, liegt Verwirrung, Überspannung und Unterbrechung seiner Lebenskräfte begründet. Wie Vitalität und Weltflucht zischend aufeinandersprühen, wie der Wille zur Wirkung schmilzt vor der Ohnmacht, eine Welt in gradem Kampfe zu besiegen, wie seine originalste Musik die Exaltationen bis hinauf zum »Erlösungswillen« illustriert: dies alles findet seinen Mittelpunkt eben in jenem Krampfe, von dem der Sechsundvierzigjährige sagte: »Ich kann Wohlgefühl in keiner Form mehr empfinden, als wenn ich mich auf höchste Höhe geschwungen habe.« Als Greis, ein Jahr vor dem Tode, hielt er bei der Hochzeit seiner Tochter »eine der ergreifendsten Ansprachen, indem er seine innersten Empfindungen zu Worte kommen ließ«. Er ging davon aus, daß er sein ganzes vorausgegangenes Leben mit einem Krampfe verglich. Erst in seiner zweiten Ehe habe dieser Krampf Erlösung gefunden, und zwar sei diese Erlösung für ihn »durch einen inneren Seelenkrampf« eingetreten.
Wagner hat in seinen Werken die Geschichte seiner Sinnlichkeit geschrieben, man braucht sie nicht zu erzählen. Auf eine Formel gebracht: unsägliches Begehren gärt in ihm – aber er »erlebt« nichts. Von erster Jugend wird sein Wesen davon bestimmt, selbst seine Memoiren erzählen von Pikanterien des unbewußten Kindes, von Ausschweifungen des Jünglings. Die »Hochzeit«, die erste Oper des Neunzehnjährigen, schildert schon einen wütend glühenden Mann, der nachts der Braut seines Freundes ins Fenster steigt und ihr Gewalt antun will. Wagners Schwester bat ihn, das allzu sinnliche Sujet aufzugeben.
In der Musik der Feen finden sich Stellen, die das nämliche andeuten. Im »Liebesverbot« des Dreiundzwanzigjährigen steigert sich »die freudige Erregtheit im Karnevalsliede bis zur Gluthitze«, und hört man ihn dann von den »herausfordernden Eingangstrillern von Triangeln, Kastagnetten und Tambourins« schwärmen, so ist man schon beim Tannhäuser, der bekennt: »Denn unversiegbar ist der Bronnen, wie mein Verlangen nie erlischt!«
Hier findet sich die einzige Stelle, hier im Venusberg, wo Wagners glühendes Begehren frei und ohne Verdeutelung, prachtvoll wie bei Rubens dahinströmt. Denn hier kommt der Krampf erst später, wenn der Berg versunken ist, in dem Erlösungsverlangen. »Es war eine verzehrend üppige Erregtheit, die mir Blut und Nerven in fiebernder Wallung erhielt, als ich die Musik des Tannhäusers entwarf und ausführte ,… Wie und wo ich nur meinen Stoff anrührte, erbebte ich in Wärme und Glut.« Allerdings: »Mein Drang ging (aus der frivolen Sinnlichkeit) nach dem Unbekannten, Reinen, Keuschen, Jungfräulichen.« Aber Elisabeths Musik wurde langweilig, Zerknirschung trivial, Wolframs oder Walters Tugend kalt, und jeder nimmt Partei für den Frevel, die Sünde: Venus.
Unmittelbar auf Tannhäuser folgt die große Caesur. Jenseits steht Lohengrin. Nichts ist so bedeutungsvoll für die Entwicklung von Wagners Werk, auch nicht die Wandlung seiner ästhetischen Urteile, als eben diese Caesur. Vor ihr hatte er zum ersten und letzten Male die Wildheit seiner Sinne frei strömen lassen. Nach ihr beginnt die Schwüle.
Wagners Sinnlichkeit war immer Wollust, niemals Leidenschaft. Er kannte weder die spezifisch männliche noch die spezifisch künstlerische Liebe: weder das stahlblau blitzende Verlangen zu erobern, noch das zwecklos schöne Gaukelspiel der Dichter. Daß er den Urtrieb nicht ehrlich sich gestand, vielmehr verschleierte, »vertiefte«, tat seiner Musik den größten Abbruch.
Wagner hat, dreiundzwanzigjährig, eine schöne Schauspielerin geheiratet und mehr als fünfundzwanzig Jahre dauernd mit ihr gelebt. Sie war nicht seine Gefährtin, aber wenn die Seinen über dieses »Schicksal« klagen, übersehen sie dessen Symbole.
Das ist nicht ein Mädchen, dem er die Ehe versprochen, oder eine reiche Frau, die er aus Not geheiratet. Sondern: »Ich war verliebt und heiratete in heftigem Eigensinn.« Wir wiederholen nicht die peinlichen Details, die Wagner darüber veröffentlicht. Später kam es zu mancher Krisis, aber noch nach fünfzehn Jahren schreibt er, sie habe »die Feuerprobe bestanden«. Ja selbst nach den Tagen in Villa Wesendonk, als er entschlossen ist, sich endlich von ihr zu trennen, läßt er sie schon nach Jahresfrist zu sich nach Paris kommen. Zwei Jahre darauf: neue Trennung, neue Auflösung des Hausstandes. Ein Jahr darauf: erneutes Zusammensein in Bieberich. Drei Jahre später war sie tot.
Er brauchte sie, auch diese. War es wirklich nur die »weibliche Hand«, die er für seine Ordnung nicht entbehren konnte? Das Schicksal dieser Frau ist viel beklagenswerter als das seine Man weiß, daß er in einer öffentlichen Schrift über das Unglück einer in der Jugend geschlossenen Ehe klagte, während er mit dieser Frau ungetrennt zwanzig Jahre zusammenlebte. Weiß man auch, daß er diese Schrift seinen Freunden im Beisein dieser seiner Gattin in Zürich vorgelesen? (Glasenapp.).
Während dieser Ehe tönen nun die dreißigjährigen Klagen, nicht nur öffentlich, auch brieflich an die Freunde. »Ich gebe alle meine Kunst für ein rückhaltlos liebendes Weib hin.« Oder: »Namentlich sind aber durch das ewige Phantasieleben ohne alle genügende Realität meine Gehirnnerven so stark angegriffen, daß ich nur noch in großen Absätzen und mit langen Unterbrechungen arbeiten darf.« Oder: er müsse sich, vierzigjährig »immer aufrichtiger zugestehen, da ich es erst jetzt, seit wenigen Jahren – zu spät! – gewahr werden mußte, wie ich eigentlich noch gar nicht gelebt habe!«
Dies alles ist erotisch zu verstehen, denn zur selben Zeit schreibt er: »Ich lebe ein unbeschreiblich nichtswürdiges Leben, vom wirklichen Genuß des Lebens kenne ich nichts: für mich ist Genuß des Lebens, der Liebe nur ein Gegenstand der Einbildungskraft, nicht der Erfahrung. So mußte mir das Herz in das Hirn treten und mein Leben nur noch ein künstliches werden.«
Was tut Wagner in dieser realen, ihn persönlich treffenden Unruhe? Er formt seinen Mangel zur allgemeinen Notwendigkeit um. Dieses Verfahren – Wagners pro domo-Motiv – findet sich überall; am deutlichsten in seinen, den Grenzen seiner Gaben angepaßten Theorien. Es hat seinen Grund in dieser unbesiegbaren Vitalität, in dem grenzenlosen Optimismus dieses Mannes, in der Unendlichkeit seines Glaubens an sich selbst. Ich will nicht der Besiegte des Lebens sein, sagt sich Wagner, der nicht als Sieger geboren war. Also, da die Welt mir weder Liebe noch Macht gibt, da meine Fähigkeiten bestimmt umgrenzt sind, bilde ich die Kunstgesetze so lange um, bis sie auf mich passen. Endlich steht er im Brennpunkt der Welt und macht es wie Hegel, der, als man entgegen seinen Theorien, den achten Planeten fand, trumpfte: »Um so schlimmer für die Natur!«
Aus Mangel an Liebe formt dieser sinnlichste Mensch eine »höhere« Liebe. Weil seine Sinnlichkeit nirgends gestillt wird, lehrt er eine »Erlösung«, der sein natürlichstes Leben und seine beste Musik widersprechen.
Wie dieser Kopf von sinnlichen Dingen schwankte, deutet sein Werk. Aber auch in den Prosaschriften, zehn Bände, fast ausschließlich Essays, spielt das Gewimmel sexueller Gleichnisse, die mit der Platonik des Gegenstandes kontrastieren Ein Beispiel für Hundert. Entstehung des »Wort-Ton-Dramas«: Musik und dichtender Verstand vereinigen sich, »das notwendig aus sich zu spendende, der nur in der brünstigsten Liebeserregung aus seinen edelsten Kräften sich verdichtende Samen, der ihm nur aus dem Drang, ihn von sich zu geben, d. h. zur Befruchtung mitzuteilen, erwächst, welcher an sich dieser gleichsam verkörperte Drang selbst ist – dieser zeugende Same ist die dichterische Absicht, die dem herrlich liebenden Weibe Musik den Stoff zur Gebärung zugeführt. Belauschen wir nun den Akt der Gebärung dieses Stoffes!«.
Aber: er meint nicht etwa »jene frivole, unzüchtige Liebe, in welcher der Mann nur sich durch den Genuß befriedigen will, sondern die tiefe Sehnsucht in der mitempfundenen Wonne des liebenden Weibes, sich aus seinem Egoismus erlöst zu wissen«.
Erlösung. Es ist schwer, über dies erste Hauptmotiv seines Lebensringes klar zu werden, weil seine Deutung dauernd schwankt. Man muß es aus Wagners Optimismus verstehen, wenn er diesen Egoismus, von dem wir in gedachter Weise erlöst werden sollen, wiederum aufs höchste pflegen und beglücken will. Denn »höchste Befriedigung« des Egoismus finden wir nach Wagner nur in vollstem Aufgeben desselben, und dieses findet der Mensch nur durch die Liebe: »Allein der wirkliche Mensch ist Mann und Weib, und nur durch die Vereinigung von Mann und Weib existiert erst der wirkliche Mensch. Erst durch die Liebe daher wird der Mann wie das Weib – Mensch!«
Zweites Hauptmotiv: » Vertiefung«, durch die sich Wagner zu orientieren sucht. Diese Gewohnheit, deren Folgen sich später in der Erörterung des Mythos zeigen werden, wird ihm zur zweiten Waffe gegen die Deutlichkeit seiner Natur, die er dauernd zu »veredeln« sucht. »Die Mittlerin zwischen Kraft und Freiheit ,… ist die Liebe, jedoch nicht die so geoffenbarte, von vornherein uns verkündete ,… wie die christliche, sondern die Liebe, die aus der Kraft der unentstellten wirklichen menschlichen Natur hervorgeht ,…, die sich in reiner Freude am sinnlichen Dasein ausspricht, und von der Geschlechtsliebe ausgehend ,… bis zur allgemeinen Menschenliebe fortschreitet.« Gibt es in Wagners Werk zu diesem Ziele auch nur einen Weg? (Kurwenal und Hans Sachs sind vielleicht Stationen am Beginn dieses Weges.)
Drittes Hauptmotiv: aus der Verwirrung über den Zwiespalt seiner Sinnlichkeit und dem Mangel an würdiger Befriedigung wendet sich Wagner gegen sein Jahrhundert. ( Jahrhundertmotiv, kehrt in der Lehre vom geschichtlichen Menschen wieder.) »Die Sehnsucht, die mich auf jene Höhe getrieben, war eine künstlerische, sinnlich-menschliche gewesen: nicht der Wärme des Lebens wollte ich entfliehen, sondern der morastigen brodelnden Schwüle der trivialen Sinnlichkeit ,… des Lebens der modernen Gegenwart ,… Sinnlichkeit und Lebensgenuß stellten sich somit meinem Gefühle nur in der Gestalt dessen dar, was unsere moderne Welt als Sinnlichkeit und Lebensgenuß bietet ,… Im Punkte der wirklichen Liebe beobachtete ich zu gleicher Zeit an einer von mir bewunderten Frau die Erscheinung, daß ein dem meinigen gleiches Verlangen sich nur an den trivialsten Begegnungen befriedigen durfte.«
Nun sucht er Befriedigung »in einem höheren, edleren Elemente, das in seinem Gegensatz zu der eigentlich unmittelbar verkennbaren Genußsinnlichkeit, der mich weithin umgebenden modernen Gegenwart in Leben und Kunst mir als ein reines, keusches, jungfräuliches unnennbar und ungreifbar lebendig erscheinen mußte«.
Bei Darstellung der oben gedachten Caesur erklärt er: im Tannhäuser habe er sich »auf die ersehnte Höhe des Reinen, Keuschen durch die Kraft des Verlangens geschwungen«. Nun fühlte er sich »außerhalb der modernen Welt in einem klaren, herrlichen Ätherelemente, das mich in der Verzückung meines Einsamkeitsgefühles mit den wollüstigen Schauern erfüllte, die wir auf der Spitze der hohen Alpen empfinden ,… Solche Spitzen erklimmt der Denker, um auf dieser Höhe sich ,… als höchste Summe der menschlichen Potenz zu wähnen: er vermag hier endlich sich selbst zu genießen«.
Wir vergessen, daß auch diese Darstellung ad hoc gearbeitet ist, um »das Bild abzurunden«. Wir fassen Geduld und folgen. Er hat sich also als Tannhäuser von der Sinnlichkeit erlöst und befindet sich jetzt auf einsamem Alpengipfel. Was tut er dort? »Grade diese selige Einsamkeit erweckte mir, da sie kaum mich umfing, eine neue, unsäglich überwältigende Sehnsucht, aus der Höhe in die Tiefe, aus dem sonnigsten Glanze der keuschesten Ahnung nach den trauten Schatten der menschlichsten Liebesumarmung. Von dieser Höhe gewahrte mein verlangender Blick – das Weib, das nun aus sonniger Höhe Lohengrin hinab an die wärmende Brust der Erde zog« Dies die spätere Redaktion seiner Stimmung. Während er auf dieser sonnigen Höhe weilte, grade in der Zeit zwischen Tannhäuser und Lohengrin, war er in unablässiger Bewegung, verhandelte mit mehreren Bühnen, versuchte Dedikationen an Fürsten, drang auf neue Besetzungen: der übersinnliche sinnliche Freier..
Hier hat man zugleich Lohengrin und Wagner. Wer etwa zweifelte, daß Wagner selbst die beiden Helden als Selbstporträts auffaßt, lese den Zusatz: Lohengrin sollte nichts anderes werden und sein, als »Mensch, nicht Gott, das heißt absoluter Künstler«. Die Identität liegt am Tage.
Denn wirklich trat, von dem Bombast der späteren Deutungen befreit, Wagner damals in die Stimmung der »Vertiefung« der »Erlösung« ein, die ihn seither kaum verlassen und ihn aus der strahlender Kraft des Venusberges, aus der Wonne eingestandener Lust in die Schwüle seiner späteren Sinnlichkeiten führte. Diese Schwüle begann bei Lohengrin, der aus blauer Freiheit unter gedeckten Himmel führte. In den ausgespannten Brünsten seiner erlösenden Heldinnen klingt sie dann wieder, im Krampf der Kundry klingt sie aus.
»Wagner ist gewiß ein geistreicher Mensch, aber er redet in einem fort. Man kann doch nicht immer reden.«
Schumann.
»Ich bin sechsunddreißig Jahre alt geworden, ehe ich erriet, was eigentlich der Inhalt meines Kunstdranges sei: so lange galt mir die Kunst als der Zweck und das Leben als das Mittel. Nun war die Entdeckung allerdings zu spät, und nur tragische Erfahrungen konnten meinem neuen Lebenstriebe antworten.«
Er sehnt sich nach dem Leben. Dies Leben, seine Macht, die Vielfalt seines Genusses bot ihm aber so wenig Genüge wie die Frauen. Und so entsteht der nämliche Krampf.
Der Vierzigjährige: »Wenn die Leute doch wüßten, daß ich nur einmal ganz glücklich sein möchte, und dann gar nicht existieren wollte!« Oder, im selben Jahre: »Ruhe ist mein Tod. Wenn ich sie oft so sehr suche, die andere Ruhe, die schöne, wonnevolle, so fühle ich, daß das eigentlich doch wohl auch nur der Tod sein kann, aber der wirkliche, noble, vollständige Tod, nicht dieser Tod im Leben, den ich jetzt täglich sterbe!« Liszt soll ihm schleunigst die Rückkehr nach Deutschland auswirken. »Wenn es nicht geht, so beginne ich ein anderes Leben. Dann stelle ich auf Geld aus, wie und wo ich nur kann. Ich borge und – stehle, wenn's drauf ankommt, um reisen zu können ,… So gehe ich nach Spanien, nach Andalusien, suche Gefährten und versuche noch einmal zu leben, so gut es gehen kann. Ich hätte Lust, um die Welt zu fahren!«
Während der größten Schaffensruhe, in völlig gesicherter Lage, unternimmt er immerfort »Exkursionen oder Ausflüge« von Zürich nach Italien, nach der Südschweiz, will nach Deutschland, nach Paris. »Ich kann nur in Extremen leben, – größte Elastizität und vollkommenste Ruhe.«
Achtunddreißigjährig: »Wunsch: ein kleines Häuschen, mit Wiese und Gärtchen! Arbeiten mit Lust und Freude, aber nicht fortgesetzt ,… Wenn alle deutschen Theater zusammenbrechen, schlage ich ein neues am Rhein auf, rufe zusammen und führe das Ganze (den geplanten Ring) im Laufe einer Woche auf. – Ruhe! Ruhe! Ruhe! – Land! Land! Eine Kuh, eine Ziege usw. Dann – Gesundheit – Heiterkeit – Hoffnung! Sonst alles verloren! Ich mag nicht mehr!« Ergreifende Zeilen: nur muß man nicht wissen, was dieser selbe Brief, der sie enthält, vorher behandelte: die Erbschaft eines Gönners, der ihm eine Rente gibt; Geschäftliches über jemand, der den Tannhäuser in zweiter Auflage herausbringen will; Zusendung einer Korrektur an Liszt; Bericht über verschiedene Geldsendungen; Mahnung wegen einer anderen Korrektur usw.
Der Lebenskrampf, wie er ihn selbst genannt, zwang Wagner, sich immer mit Maßlosigkeit ins Leben zu werfen – und immer schnappt seine Vorstellung von Glanz, Macht, Genuß ins Wahnsinnige über. Hat er aber die Macht, so ist er ihr nicht gewachsen. Während er halb München – nicht nur das künstlerische – als Freund des Königs besitzt, ist seine Sehnsucht »nach der letzten Ruhe unsäglich. Mein Herz kann diesen Schwindel nicht mehr ertragen«. Vorher, im schwärmerischen Beginne dieser zuckenden Freundschaft, als er mit dem Könige am Starnberger See lebt, in einer Villa für sich, verwöhnt: »Meine Einsamkeit ist furchtbar, – nur wie auf höchster Bergesspitze kann ich mit diesem jungen König mich erhalten ,… Noch fehlt mir etwas Hausumgang, vielleicht bekomme ich Cornelius her.« Außerdem fehlt ihm »eine weibliche Hand. Die Nötigung, mit Dingen, für die ich wahrhaft nicht gemacht, mich immer noch selbst zu befassen, lähmt meine Lebensgeister. Ich leugne nicht, daß mir diese vollständige Einsamkeit jetzt sehr verderblich wird: glauben Sie mir, es ist ein Elend, an dem ich verbluten werde«. Der Ekstatiker, der Anmutlose, der Schauspieler, der Zuschauer braucht.
Den Krampf der Seele hätte Wagner durch Humor paralysieren, hier hätte er den Ausgang aus den barocken Klüften finden können. Er besaß nur Ironie. Sein Humor war ein Nachtalben-Lachen.
Sehr kennzeichnend, wie er zuerst mit einem heiteren Stoff zusammenstieß. Zwischen Tannhäuser und Lohengrin entwarf er die Meistersinger »als Satirspiel nach dem Sängerkriege«, verwarf sie aber wieder, weil er, so sagt er, zunächst nur ganz formale Ironie, nicht Heiterkeit hier darstellen konnte. Statt zu lachen oder zu lächeln, fühlte er sich »gegen unsere unnatürliche Allgemeinheit und Öffentlichkeit« zu einem Widerstande gedrängt, »der sich endlich nur als Empörung, somit in tragischen Zügen kundgeben kann.« Als er zwanzig Jahre später den Plan dennoch wieder aufnahm, hatte sich nichts geändert als seine Ehrlichkeit gegen sich selbst.
Zuweilen zeigt er eine gewisse Selbstironie, die sich in Knittelversen an Freunde und Bekannte äußert, oder er macht seine berühmten Späße. Liszt konnte freilich nicht den Witz verstehen, der darin liegen sollte, daß etwa Wagner, nachdem Liszt gespielt, auf allen vieren zu ihm herankroch, um Bewunderung zu erweisen. Gelegentlich stellte er sich, mehr als fünfzigjährig, vor vielen befreundeten Musikern aus Vergnügen auf den Kopf (Glasenapp). Wollte er eine Stimmung abspannen, die er selbst erzeugt, so rief er oft: »Und jetzt kein ernstes Wort mehr!« Oder er äußert, während er die oder jene Handreichung tut, in komischer Selbstbiographik: »So war Wagner!«
Grade diese Züge, die man als Zeichen gesunden Humors dargestellt, zeigen, neben der schauspielerischen Allüre, aufs neue den Krampf. Man fühlt, wie unharmonisch in ihm die Grenzen zusammenklirren. Er wußte es selbst: »Das war meine Rettung, daß mir die Fähigkeit gegeben war, aus dem Ernstesten heraus augenblicklich in den befreiendsten Unsinn umzuschlagen. So konnte ich mich von je an den Abgründen halten.« Typisches Barock der Seele, völliger Mangel an Heiterkeit und Anmut.
Die Harmonie, die allen Äußerungen dieses genialischen Menschen fehlte, seinem gesamten Leben und seiner gesamten Kunst (versteht sich, nicht im technisch musikalischen Sinn), der Krampf, in dem er diese Harmonie gesucht, drückt sich auch in seiner Körperlichkeit aus. Ein kleiner Mann, der lauter Riesen, ein leidenschaftlicher Feind der Tierjagd, der lauter Jäger schildert; ein Dithyrambiker, der keinen Wein trinkt; ein Schöpfer des Urmenschen, der sehr viel Seide, Samt und Kissen braucht: dies alles korrespondiert mit jenen psychischen Dissonanzen. Dieser Vitalist war immer magen-, immer nervenleidend, wochenlang braucht er Wasserkuren. Im Jahre 49 nennt er sich gemütskrank, und »eine zwangvolle Affektion meines Gemütes hat (die Krankheit) zu so bedrohlicher Höhe gesteigert, als sie sich jetzt mir kundgibt«.
Wegen Schlaflosigkeit und kranker Gehirnnerven verstummen seine Klagen nicht. Im Jahre 54 erklärt er seine Nerven für ruiniert. Wunderbarerweise täten sie ihm aber, »wenn es gilt«, die größten Dienste. »Soll ich nun sagen, meine Nerven sind ruiniert? Ich kann's nicht. Ich sehe nur, daß der meiner Natur ,… normale Zustand die Exaltation ist, während die gemeine Ruhe ihr anormaler Zustand ist ,… Wenn Goethe anders war, so beneide ich ihn drum nicht!«
Seine physischen Leiden brachten Wagner auf die Frage der Ernährung, die auch damals Mode war (Moleschott, Liebig, Buckle, Feuerbach). Nach dem Prinzip, von sich aus die Welt zu erobern, bis er in ihrer Mitte steht, wünscht er, da er kein Fleisch verträgt, ernsthaft, die »edleren Rassen« des Nordens sollten, da man hier Fleisch braucht, eine »vernunftgemäß eingeleitete Völkerwanderung« in andere Weltteile ausführen Bei dieser Gelegenheit passierten ihm zwei Entgleisungen: um seinen Magen zu verallgemeinern, läßt er ausdrücklich in seiner Schrift auch den vorgeschichtlichen Menschen nur von Pflanzen leben und ebenso die Inder. Aber jene aßen Fleisch (Ranke), diese, die vedischen Inder, ebenfalls (Oldenberg)..
Mit einem Lebensdrange voll so vieler Vorhalte und Verschiebungen korrespondiert schließlich ein Todesgedanke, den Wagner stets von sich weg seinen Helden zuschiebt.
Merkwürdig, wie dieser Mann, dessen drittes Wort »Erlösung von der Lebenstragik« und dessen Helden stets des tragischen Bewußtseins voll sein sollen, dem Todesgedanken ausweicht. In den zahllosen Dokumenten seines Lebens, Schriften, Briefen, Gesprächen findet man ihn – zweimal. Das eine Mal, als er den Tod als Regisseur erlebt, wie oben angedeutet. Das andere Mal, kurz darauf, will er vom Geländer seines schönen Palazzo sich in den großen Kanal von Venedig stürzen, aus Liebeswahn, aus Sehnsucht. Auch hier wird er sogleich zum Schauspieler: »In dieser Nacht,« schreibt er Mathilde, »da ich die Hand vom Geländer des Balkons zurückzog, war es nicht meine Kunst, die mich hielt, in diesen furchtbaren Augenblicken ,… das warst du! Wie ein Lächeln überflog's mich: wär es nicht wonniger, in ihrem Arme zu sterben? ,… Die Träne quillt, die Erde hat mich wieder. Allerseelentag! Auferstehungstag!« (Zitat und Morgenröte.)
Sogar die Natur kann dieser Vitalist nicht anders als im Sichtbaren belebt verstehen. Wagner war ein großer Freund der Tiere: das ist gewiß der schönste Zug dieses Charakters. Trotzdem haftet auch ihm etwas Erzwungenes, Übertriebenes an: man denke an die gewisse Breite und Lautheit, mit der er gegen die Vivisektion auftritt. Rührend schildert er dem Freunde, wie sein Hund gestorben. »Unaufhörlich mußte ich weinen und habe um den lieben, dreizehnjährigen Freund, der stets mit mir arbeitete und spazieren ging, eine Trauer und einen Schmerz empfunden ,…«
In seinen Memoiren, zehn Jahre später, wirft er sich vollends ins Zeug: im Augenblick, als der Hund umsank, hätte er an der Uhr die Todesstunde auf ein Uhr zehn Minuten festgestellt. »Den nächsten Tag widmeten wir unter den bittersten Tränen seiner Bestattung.«
Beim Tiere beginnt Wagners Verhältnis zur Natur und hört sogleich wieder auf. Was sich nicht selbst bewegen kann, scheint diesen beweglichen Musiker nicht zu fesseln. Er geht spazieren, aber erklärtermaßen aus Hygiene. Währenddem disputiert er gern mit den Freunden. Dieser Nervöse, abhängig von hundert kleinen Dingen, Farben, Teppichen, Decken, Schlafröcken, vor der Natur ist er völlig sicher. Sie kommt in seinen Briefen nicht vor, oder nur so: »Die Natur liegt mir nicht so fern, als du glaubst, durch den Freund erfahre ich gar schöne, wichtige Dinge von der Natur, und sie bestimmt mich zu Vielem und Großem. Nur wenn sie mir das eigentliche Leben, – die Liebe ersetzen soll, so lasse ich sie links.« Oder aber, dreiunddreißig jährig, an die Mutter: »Wenn ich mich der Natur oft weinend und mit bitteren Klagen in die Arme warf, so hat sie mich immer getröstet und erhoben.«
Dies ist die intellektuelle und die repräsentative Seite. Wo fände sich eine tiefere Beziehung? Warum spricht dieser Wortreiche, Mitteilungsüberreiche nirgends in Hunderten von Dokumenten vom Eindruck eines Waldes, eines Sees, oder wie eine Wolke kam oder das Meer? Oder daß ihm ein Strom, ein Stern die Melodie gegeben? Wie? Ist er nicht ein Künstler?
Künstler sollten, ferne der Welt, schweigen und schaffen, oder: der Welt gewachsen sein. Wagner hat stets die Welt gesucht, er war ihr nie gewachsen. Einen Weg von Konzession zu Konzession ist er als Künstler gegangen; wir folgen ihm später. Auch in seinen Privata drückt sich dies aus. Ein Verbannter von Ort zu Ort: weil er der Welt sich aufdrängt. »Ich müßte mich eigentlich schämen, auf diese Weise mich dem Dasein immer noch aufzudrängen, da mich die Welt, genau genommen, eigentlich nicht will.« Man könnte auch formulieren: ein Schauspielerschicksal, immer wandernd.
Wagner war niemals ruhmsüchtig, ehrgeizig oder gar geldgierig, wie unpsychologische Pamphletisten meinen. Ruhm und auch Geld verstand er an sich zu bringen. Der aber kennt ihn nicht, der hier das Ziel seiner Wünsche sucht. Denn Wagner hatte nur einen allumfassenden Wunsch: Wirkung.
Wirkung war für ihn beinahe Wollust, und das ist bei diesem Manne maximal. Hätte er plötzlich, wie durch ein Wunder, sein künstlerisches Vermögen verloren, sogleich hätte er etwas anderes ergriffen, um zu wirken. Man muß ihn in seinen Pariser Novellen verfolgen: wie erlebt die Schilderung der Antichambres klingt, in denen die hoffenden Künstler warten, Musiker, die in Paris »gemacht« werden wollen. Oder man muß hören, wie er, zwanzig Jahre später, aufs neue den ersehnten Pariser Erfolg umkreisend, sich auf drei Jahre ein Häuschen mietet, mit dem ausgesprochenen ausschließlichen Zwecke, Annahme und Ausführung des Tannhäuser zu betreiben. Er betonte stets, er brauche den Erfolg, um zu leben. Aber er hatte damals dauernde Renten und gestand an anderer Stelle selbst, daß er gut von ihnen leben könnte. Er brauchte einzig: Wirkung.
Da Wagner nicht nur kein »absoluter« Musiker war, wie er selbst mit Stolz betont, sondern auch kein absoluter Künstler, wie er selbst mit Unruhe erkennt, mußte er rasch vorgehen: er hätte sterben müssen, hätte man ihn auf die einsame Insel verbannt.
Und nun verbannte man ihn aus Deutschland, ließ ihn elf Jahre lang im Auslande »schmachten«, raubte ihm das eigentliche Feld seiner Wirkung. Was er damit gewonnen, ist deutlich: Reizung des Widerstandes in einem typisch reformatorischen Temperament.
Dennoch lebte er in Zürich gelegentlich »einzig nur noch durch die Post. Mit der leidenschaftlichsten Ungeduld muß ich jeden Vormittag gegen elf Uhr den Briefträger erwarten. Bringt er nun nichts – oder bringt er Ungenügendes –, so ist mein ganzer Tag eine Entsagungs-Einöde. Das ist mein Leben! Darum lebe ich!« (Zwischen Dichtung und Komposition des Ringes!) »Oft mache ich unerhörte Anstrengungen, mir von auswärts etwas zukommen zu lassen; so kürzlich: ich lasse meine neue Dichtung drucken, um ein starkes Lebenszeichen von mir zu geben; ich sende sie allen Freunden zu ,… So hoffe ich nun, die Menschen gezwungen zu haben, mir wieder einmal ein Zeichen von sich zu senden: X. hat mir darauf geschrieben, – sonst hat keiner der Mühe wert gehalten, mir auch nur den Empfang anzuzeigen ,… Ich bin verflucht, in Laster und Dumpfheit zugrunde zu gehen.«.
Währenddessen werden seine vier Opern in ganz Deutschland gegeben, drei von ihnen hat er selbst dort aufgeführt. Was macht ihn also wild? Daß er seine Wirkung nicht sieht, nicht genießt. Wagner will nicht wirken, wie einer, dem an der Wirkung liegt, sondern um sich zu genießen. Alle Fäden laufen in das Ego-Zentrum zusammen.
Nur eine einzige Verbannung hieß mit Namen Verbannung. Doch überall, wohin er kam, war er zuerst entzückt, um später den Ort in Wut zu verlassen: Dresden, Paris, Zürich, Wien, München. Grund: Wagner überspannt jedes Verhältnis. (Vergleiche seine Musik.) Er verachtet die Welt und ist entschlossen, sie zu seiner Lust zu mißbrauchen. Das merkt die Welt und läßt sich's auf die Dauer höchstens von einem Geist der Anmut bieten, von grazilen Fingern, von Unwiderstehlichen, von Überrednern. – Das aber war's, was Wagner fehlte, Anmut, Reiz, das Liebenswerte.
Aus Dresden wäre er geflohen, auch ohne durch Teilnahme an der Revolution seine vom König bezahlte Stellung zu zerstören. Schon zwei Jahre vorher verwickelte er sich (in glänzender Lage, Autor dreier hier mit größtem Erfolge gespielter Opern) in Gegnerschaft mit seinem Generaldirektor, es gab Beleidigungen, Verbitterungen und im Verfolg die Ablehnung des Lohengrin. Als schließlich die Mairevolution kam, mit der Aussicht auf das Zuchthaus, floh er bei Nacht und Nebel.
Zürich. Als er zu Wesendonks zieht: »Ich weiß nun, wo ich hingehöre, und kann getrost allen Wechselfällen meiner künstlerischen Laufbahn, allen Mühen und Anstrengungen entgegensehen.« Seine Lage war ideal. Nach einem Jahr: ein Krach, alles ist aus, Flucht bei Morgengrauen. Wer nur die sachlichen Gründe erforscht, hat an den Symbolen vorbeigesehn. Wagner: »So kalt, wie ich einst Dresden verließ, könnte ich mich jetzt auch von Zürich wenden, wo ich kein hingebendes Opfer gescheut habe (die Konzertaufführung seiner Werke), um endlich zu erkennen, daß, wie einst dort, alle meine Aufopferung fruchtlos blieb.«
Paris. Vom Kaiser persönlich geschützt und tatsächlich Herr der Großen Oper, kennt er genau die Schliche der Kritik und der Gesellschaft. Warum, fragt man sich schließlich, ist dieser Dichter, dieser Komponist durch zwanzig Jahre mit solchem Lärm als Demagoge, Reformer, Agitator, Propagandist, Theatraliker, Polemiker herumgezogen, daß dann jedes Mitglied des Jockeiklubs ihn anfassen kann wie einen Journalisten? Es ist unrichtig, daß diese Herren den Tannhäuser ausgepfiffen haben, nur weil sie ihr Ballett im zweiten Akte nicht bekamen. Vor der Geschichte haben sie sich blamiert, aber ihre Haltung an diesem Tage hat Wagners Trommelschlag drei Jahre lang in Paris mit beeinflußt Und was hatte er gegen die Franzosen geschrieben!.
München. Eine Stellung, wie nie zuvor ein deutscher Musiker sie besaß, mußte in Wagner, wenn nicht den Takt, doch mindestens die Klugheit wecken, als plötzlicher Günstling des Königs die Legitimen nicht zu brüskieren. Was tut er? Beim ersten Schritt in die aufs höchste erregte Münchener Öffentlichkeit, bei der Generalprobe des Holländer vor geladenen Künstlern und Spitzen, hält er eine Rede an das Orchester, in der er »konstatiert«, es seien grade jetzt fünfundzwanzig Jahre, seit der hiesige Intendant die Partitur abgelehnt. Sodann verletzt er alle dortigen »Größen«: Kaulbach, Lachner, Heyse, Bodenstedt; auch eine wirkliche: Meister Schwindt. Dies alles ist nicht Naivetät eines Kindes der Phantasie, das plötzlich auf den Thron der bösen Welt gelangt. Es ist nicht einmal der berauschte Übermut eines jungen Künstlers; er war über fünfzig. Es ist die egozentrische Nonchalance gegenüber einer Welt, die grade er doch unablässig braucht, um darin zu wirken!
Dazu kam die laute Verkündigung eines Festtheaters mit Straße à la Spanische Treppe, wofür sechs Millionen gefordert wurden, deren Verwendung das Volk nicht verstand. Diese Dinge bereiteten die Katastrophe vor. Sie tritt ein, als Wagner, der Künstler, seine Ideen über das Schweizer Militär und dessen wünschenswerte Verpflanzung nach Deutschland dem königlichen Kunstfreunde vorlegt, wie er sie ehedem in Zürich zusammengefaßt. Der neunzehnjährige Phantast dringt sofort seinem Minister gegenüber auf Änderung der bayrischen Heeresverfassung! Dieser macht alles bekannt: nun rast die öffentliche Meinung gegen einen Mann, der vordem alles getan, um sich verhaßt zu machen. Grund: Wirkungsdrang größten Stiles, Berauschung an dem Gedanken: Ich habe das Heer in Bayern umgewandelt, All-Genie!
»Bei Gefahr eines Volksaufstandes« fordert die Familie, fordern die Minister die Ausweisung des Günstlings. Rasch gibt der König nach, so rasch, als er die überzüchtete Freundschaft mit Wagner eingegangen. Als ihn der Sekretär des Königs auffordert, die Stadt und Bayern schleunigst zu verlassen, glaubt Wagner die Sache einfach nicht. Da wird der Ton des Königs männlich: »Mein teurer Freund! So leid es mir tut, muß ich Sie doch ersuchen, meinem Wunsche Folge zu leisten, den ich Ihnen gestern durch meinen Sekretär aussprechen ließ. Glauben Sie mir, ich mußte so handeln.«
Es folgt Richard Wagners letzte Flucht.
Denn in Bayreuth hat er die Welt besiegt. Innerer Grund: schrittweises Aufgeben aller Hauptforderungen. Ein Sechzigjähriger will nicht verloren haben, er will Erfüllungen sehn.
In seinen dreißig Mannesjahren war Wagners Wirkungsdrang von Schritt zu Schritt gehemmt. Die Seinen nennen das Torheit der Welt oder Bosheit der Kritik, am liebsten »Tragik des Schicksals«. In Wahrheit ist es Folge seiner Haltung, Folge seines Wesens: das, nur auf sich gerichtet, die Welt, in der es leidenschaftlich wirken wollte, doch stets brüskierte.
Dies ist Wagners Wirkungsdrang, gehemmt durch völlig egozentrisches Gefühl: ein drittes Zeichen des großen Krampfes, der seine Sinnlichkeit, der seine Lebenslust erschüttert hat und der sich überall in den Exaltationen seiner Werke schüttelt.