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»Es ist leichter, gigantisch zu sein, als schön.«
Nietzsche
Den internationalen Musikern hat Wagner durch die Neuheit seiner Orchestration ein Jahrhundertgeschenk gemacht, den deutschen Dichtern hat er durch Theatralisierung der edelsten Stoffe für ein Jahrhundert ein Stück Licht verstellt. Seine ästhetischen Ideen waren zerstückt wie das Naturell, das sie für sich formte, aber reich im Metall. Hätte Wagner, der Wirkungsdurstige, Regisseur und Reformator, nicht selbst die Beispiele für seine Theorien gegeben: ein wunderbarer Genius hätte am Ende die gesprungenen Stücke herrisch ergreifen, nach eigener Einsicht und Kraft zusammenschweißen können, wie Siegfried das Schwert. Aber auf Wagner den Ästhetiker folgte auf die natürlichste Weise nur Wagner der Künstler. Erst schrieb er zwar: »Das Kunstwerk der Zukunft kann jetzt nicht geschaffen, sondern nur vorbereitet werden.« Zwanzig Jahre später aber hielt er es doch von sich selbst geschaffen; er und die Seinen verkündeten das der Welt.
Seine Musik ist vielen helleren und leichteren Naturen nicht erträglich, andere aber, die ihm ähnlich sind, vermag sie gänzlich zu bezaubern. Seine reformatorischen Gaben muß jeder bewundern, Zähigkeit und Organisation. Nur als Dichter, nur als Dramatiker ist er unecht über jedes Maß hinaus, und zwar später schlimmer als anfangs, weil er anfangs nichts prätendierte als Theaterstücke mit Musik. Rückwärts hat er dann freilich auch diese ersten Opern »vertieft«, aber er konnte es nicht mehr ändern, daß sie, von ungebrochnen Theaterinstinkten diktiert, bühnenwirksam, spannend blieben, während der Ring, in dem seine »ganze Weltanschauung ihren vollständigsten künstlerischen Ausdruck gefunden«, nur noch aufregende Szenenbilder zwischen lange Besprechungen setzt, unvermittelt, dekorativ; wie die Pyramidengruppen von Gizeh und jene von Sakkara mit burlesker Plötzlichkeit aus der unendlichen Wüste steigen.
In den ersten Opern werden mit primitiver Theatralik Welten gegeneinander aufgestellt: Ruhe und Abenteuer, Glaube und Zweifel, himmlische und irdische Liebe, und unter Aufzügen, Verhandlungen und Zweikämpfen zu einem tragischen Ende geführt, das regelmäßig – echt wagnerisch – rasch noch ins Hedonistische umgebogen, zur Versöhnung »erlöst« wird: Senta fährt mit dem Holländer in die Soffiten, Elsas Bruder tritt aus der Kulisse, Tannhäuser sinkt entsühnt als zweite Leiche an der ersten nieder, nachdem alle drei eine Minute vorher folgerichtig verloren waren. Katharsis durch den Regisseur.
Die meisten Dramen Wagners beginnen mit der Verkündigung eines Mittelpunktes, der strahlend sich bald irgendwie enthüllen werde. Strahlt er dann auf, so dreht er sich nach Art der Feuerwerker-Sonnen so lange um sich selbst, bis alle Zuschauer, geblendet, den Versuch aufgeben, eine dramatische Entwicklung aufzufinden. Das Eruptive, Plötzliche, also Antidramatische ist das Kennzeichen aller Wagnerischen Handlungen (Tannhäuser, Siegfried, Elsa, Kundry usw.). Dagegen fehlt ihnen fast überall das szenische, ja selbst das sprachliche Epigramm, Hauptmittel jeder dramatischen Wirkung.
Man findet es zuweilen, etwa an der wunderschönen Stelle, wo Tannhäuser plötzlich an der Oberwelt erwacht: zwischen einem Hirten und einem Chor von Pilgern, nach einem Venusberge: da fällt er in die plötzlich ergreifenden Worte: »Allmächtiger, dir sei Preis! Groß sind die Wunder deiner Gnade!« Oder an jener Stelle, wo Elsa auf dem Höhepunkt ihrer Neugier plötzlich ausruft: »Rette dich! Dein Schwert!« Wie da Telramund als der Körper gewordene geheime Wille in Elsa dasteht und von einem Streiche fällt. Oder wenn Loge am Schlusse zurückbleibt, das Ende voraus weiß und dann der Rheintöchtergesang herauftönt.
Solche szenischen Epigramme, an denen Meyerbeers schlechte Texte reich sind, die aber die Libretti der Carmen, des Fidelio, des Don Juan und vor allem des Figaro völlig beherrschen, haben bei Wagner Raritätswert.
Im Ringe aber zerfließen, wie alle Gesetze, auch die antithetischen fast ganz. Dieses Hauptwerk, in dem ein Epiker sich zuweilen plötzlich wie ein Dramatiker schüttelt, hat durch einen glücklicherweise verkehrten Instinkt des Dichters die Edda und nicht das Nibelungenlied zum Stoffe. Dies hatte zugleich mit Wagner Hebbel unter Dach gebracht. Im Ringe treten an die Stelle des theatralisch Wirksamen der frühen Opern die unermeßlichen Erzählungen. Beispiele: Loge erzählt Wotan den Raub des Rheingoldes, den wir eben mit angesehen. Wotan erzählt Brünnhilde die Geschichte von Alberich und dem Rheingold, die vorher Loge dem Wotan und uns erzählt hat und die noch früher vor unseren Augen sich zugetragen hat. (Diese hält den Rekord, es sind über zweihundert Verse.) Wotan erzählt dem Mime die Struktur der Welt aus den drei Teilen, von denen wir gehört und die wir selbst gesehen haben. Die Nornen erzählen die ganze, uns mehrfach mitgeteilte Göttergeschichte von der Weltesche bis zum Siegfried nochmals. Siegfried singt seine ganze Geschichte, die wir, mit Einschluß seiner Erzeugung, deutlich mit angesehen haben, zum letzten Male, ehe er stirbt.
Wer Wagner kennt, wird das Gefühl nicht überwinden, daß er nicht so, wie er vorgibt, mit den drei ersten Abenden Vorbereitungen für seine Tragödie »Siegfrieds Tod« benötigte (die völlig selbständig bestehen könnte: es war, mit ganz geringen Änderungen, die heutige Götterdämmerung); sondern wie Äschylos eine Trilogie, eine Tetralogie formen wollte: ein Festspiel – ein Festtheater – Dreißigtausend – der Oberregisseur Deutschlands – das Überlebensgroße. In seinem »Entwurf zu dem Drama: Der Nibelungenmythos« nimmt das, was später die zweite Hälfte der Götterdämmerung, also der achte Teil des Ganzen wurde, mehr ein als die andern sieben Achtel zusammen!
Sukzessive wurde die Geschichte von Siegfrieds Tod rückwärts vorbereitet. Kennte man diese Entstehung nicht, ein guter Philologe möchte von selbst darauf schließen. Denn ist »Siegfried« etwas anderes als eine Idylle aus drei Sätzen: Ausritt, Pastorale, Liebesduett? Geschah hier mehr, als daß ein Rhapsode die einzelnen Taten des Helden aneinander reihte? Und was enthält die Walküre? Zuerst den Kampf zweier Männer um eine alte Blutschuld, die niemand auf oder vor der Szene sonst angeht, die vor und nachher nie vorkommt. Wer ist Hunding? Eine Anekdote, statt einer dramatischen Verankerung. Taucht auf, singt einen halben Akt, verschwindet für immer. Es folgt die Auseinandersetzung der beiden Göttergatten, die nicht in die Fäden der Dichtung führt: denn Siegfried ist schon erzeugt, gleichviel, ob Siegmund falle oder siege: Sein Blut muß kommen. Jetzt plötzlich fängt Wotans Streit mit seiner Tochter an; folgt ihre Verbannung. Nur Siegfrieds Erzeugung, die drastisch vorgeführte, hängt im Netze der Siegfried-Tragödie. Dem geht das Spiel der Götter, Riesen und Zwerge voraus, die sämtlich nicht wiedererscheinen. Nun wirft der Kenner ein: Der Ring! Wotan! Schopenhauer! – Vergleiche den nächsten Abschnitt.
Ein einziges Mal in seiner reifen Periode – Tristan hier und immer ausgenommen – hat Wagner eine Tragödie geschrieben: Siegfrieds Tod oder Götterdämmerung. Und grade diese wurde Vgl. Shaws »Wagner-Brevier«. eine wirkliche »Oper« mit Schwüren vorn an der Rampe, mit Terzetten und Duetten, mit einem Theaterintriganten und einer Abschiedsrede des sterbenden Helden an die unsterbliche Geliebte. Dies Alterswerk, fast nur mit den Motiven der vorigen Stücke arbeitend, dafür doppelt so lang und furchtbar wirksam: dies also war die Krone, zugleich der Anlaß zum Ganzen. Die Tragödie läuft in ein Orchesterstück ohne Worte aus, der Dichter schweigt, aber Regisseur, Beleuchter, Versenkungen, Einstürze, Feuer und Wasser werden aufs großartigste aufgeboten.
Wagners dichterische Mittel zur Wirkung, vom Holländer bis zum Parsifal, sind, außer der »Vertiefung«, folgende: Verschwülung. Nie sollst du mich befragen. Zauber. Verhandlungen. Visionen und Ahnungen. Prospekte und Maschinen.
Erstens: Verschwülung. Typischer Fall: Siegmund und Sieglinde. Erst wird die Sage umgeformt. In der Edda wird Sieglinde dem Bruder in stolzer Dämonie zugetrieben, weil sie zur Rache für den Vater und acht erschlagene Brüder den Helden braucht, den nur der tapferste, der überlebte, nur Siegmund zeugen kann, »durch Hexenkunst«. Er aber ahnt nicht, daß sie seine Schwester sei. Wagner braut grade aus diesem Wissen seinen schwülen Trank. Statt nun natürliche Tragik daraus zu entwickeln oder göttliche Heiterkeit, nutzt er sie nur zu jener brünstigen Szene, in der sich »der Lenz zu seiner Schwester schwingt ,… Jauchzend grüßt sich das junge Paar ,… vereint sind Liebe und Lenz.« In dieser wortspielerischen, doppelt schillernden Wollust schwillt dies Duett zu dem Schlusse: »Braut und Schwester bist du dem Bruder, so blühe der Wälsungen Blut! – Er zieht sie mit wütender Glut an sich, sie sinkt mit einem Schrei an seine Brust. Der Vorhang fällt schnell« Ähnlich: Brünnhilde »stürzt in Siegfrieds Arme. Der Vorhang fällt«. Schopenhauer notiert sich daneben: »Es war die höchste Zeit!«.
Wendet man dieselbe Stimmung ins »Mädchenhafte«, so erhält man den dritten Akt Lohengrin, – ins »Jungfrauenhafte«, den dritten Akt Siegfried.
»Das Brautgemach. In der Mitte des Hintergrundes das reich geschmückte Brautbett.« Wagner schwelgt. Die freie Glut des Venusberges ist für immer dahin.
Hauptgriff ist die Verschmelzung von Glauben und Wollust. Hier ist Wagners eigenstes Element, seine suggestivste, wagnerischeste Musik umwogt diese Kombination. Im Tannhäuser, wo noch gesunde Luft weht, trennt er die Welten, Venus und Maria stehen feindlich, antipodisch da. Nirgends wollen sie eins werden. Versinkt die Göttin, so steigt Madonna auf. »Mein Heil, mein Heil ruht in Maria.« »Der Grundzug ist,« meint Wagner zu Schnorr von Carolsfeld, »höchste Energie im Entzücken wie der Zerknirschung. Jäh und bestimmt im Wechsel.«
Im Lohengrin schmelzen sie schon arg zusammen. Doch nennt er jene andere Welt aus Klugheit nicht mit Namen, und nur am Schluß, ein einziges Mal wird zwar der Gral, nicht aber der Erlöser selbst genannt. Die Erzählung bleibt im Märchenstil und braucht nicht christlich verstanden zu werden (»ein lichter Tempel, Engelschar« usw.). Lohengrin wird gesandt, ausschließlich, um bedrängte Unschuld zu beschützen. Aber nun gefällt sie ihm: er will das Mädchen haben, das er gerettet hat. Statt ihr und uns dies zu bekennen, drückt er sich, wagnerisch, folgendermaßen aus:
»… Und schnell hätt' ich ein neues Glück erkannt.
Die hehre Macht, die Wunder meiner Art,
Die Kraft, die mein Geheimnis mir bewahrt,
Wollt ich dem Dienst des reinsten Herzens weihn!«
Im Hintergrunde das reich geschmückte Brautbett.
Dreißig Jahre später gelingt ihm die völlige Durchdringung: Glaube und Wollust hat er in Siedehitze verschmolzen, wie er Musik und Dichtung, nach seinen Worten, nur in der Ekstase zu verschmelzen vermag. Achtzehn Jahre, ehe er Parsifal schuf, schrieb er der Freundin in einer gesunden Wallung: »Denken Sie, um des Himmelswillen, was da los ist! (Amfortas) ,… Es ist mein Tristan des dritten Aktes mit einer undenklichen Steigerung.« Folgt mit kräftigen Worten die ganze überspannte, wahnsinnige Stimmung des Amfortas vor dem Gral, sodann: »Und so etwas soll ich noch ausführen und gar noch Musik dazu machen? Bedanke mich schönstens. Das kann machen, wer Lust hat; ich werde mir's bestens vom Leibe halten!«
Aber der Greis griff mit Begier zu diesem äußersten von Dumpfheit, Brunst und Schwüle, er übertyrannte den Tyrannen von einst, er wob dies Netz von Heiligkeit und Lust, zwischen versinkenden Zaubertürmen, wandelnden Felsen, nackten Mädchen ließ er den Gral elektrisch erglühen, – und sollte mit diesem gefährlichsten seiner Werke für immer auf sein Festspielhaus zurückgezogen bleiben.
Zweitens: Nie sollst du mich befragen. Schon in den »Feen« darf Arindal die Fee nicht fragen, wer sie sei, acht Jahre lang; tut es schließlich doch und verliert sie. Auch der Holländer darf nicht gefragt werden. Im Lohengrin hält sie es nicht einen Abend aus, und hätte doch nach einer Schutzfrist von nur einem Jahre den Bruder wiederbekommen. Tannhäuser verbietet es den Genossen. Elisabeth: »Sieh mir ins Auge, sprechen kann ich nicht!« Elsa: dreimal vom Könige befragt, nickt nur und »drückt durch eine Gebärde aus: nichts!« Wotan auf seinem Thron läßt sich von Waltraute nicht ansprechen, und Parsifal täte auch besser zu schweigen als zu fragen.
Überhaupt wird die Spannung dadurch stark erhöht, daß die Helden bis zum Ende namenlos bleiben, dann aber, nach stundenlang gedehnter Erwartung, ausrufen: »Den Fliegenden Holländer nennt man mich!« Oder: »Sein Ritter, ich, bin Lohengrin genannt!« Ähnlich (zweimal): »Bleib bei Elisabeth!« Man atmet auf. In anderen Fällen wissen sie ihre Namen nicht (»Friedmund darf ich nicht heißen, Frohwalt möcht ich wohl sein«) oder geben ihn sich gegenseitig (»Bist du Siegmund, wie ich dich sehe, Sieglinde bin ich, die dich ersehnt!«).
Drittens: Zauber. Überall, wo die dramatische Motivierung aussetzt und auch die »Vertiefung« nichts fruchtet, tritt der Zauber in Kraft. Schon in den Feen mußte der Held, durch Zauber gebannt, zusehen, wie seine Kinder ein Feuerschlund verschlang. Fünfundzwanzig Jahre später wurde dieser Feuerzauber nur vertieft. Lohengrin ist ganz verzaubert. Wie nach seinen wundervollen Abschiedsworten plötzlich Ortrud den doppelten Zauber enthüllt, der niemand interessiert, weil von Elsas Bruder seit dem ersten Auftritt nicht mehr die Rede war; wie plötzlich Lohengrin aufpaßt, betet, die Taube kommt, der Schwan versinkt, der Knabe auftaucht, die Taube den Schwan vertritt: es ist doch alles herrlich anzusehn!
Wie dann die Tränke kommen: des Vergessens, der Erinnerung, der Liebes- und der Todestrank; wie Siegfried noch einmal die tote Hand erhebt, der tote Titurel noch einmal im Grabe aufsteht: Aufregung läßt zuletzt die Schwäche vergessen, die diese Zauberei verhüllen soll.
Schlimmer als diese Kunstgriffe sind, ist aber die Furcht des alt gewordenen Meisters vor den Folgen. Beim Parsifal bekommt er Angst vor dem Wunder: er hat ein böses Gewissen. Plötzlich spricht er sich sehr lebhaft »gegen alles bloß äußerlich Mirakelhafte aus. Selbst der von oben in den Gral fallende Lichtschein sollte nicht ohne weiteres als übernatürliche Erscheinung aufzufassen sein, sondern als das Licht der Sonne vorgestellt werden können, die – beim Erreichen ihres höchsten Standes um die Mittagszeit – durch die Öffnung der Kuppel auf das heilige Gefäß herabstrahlt und das vorhin diffuse Licht auf den einen Punkt konzentriert.« Ferner sollen nach Eintritt der Tageshelle die Becher mit Wein gefüllt sein, neben jedem liegt ein Brot. Das war Wagner aber »Taschenspielerei«: er läßt die Brote und die Körbe hereintragen und von Titurel »recht augenfällig segnen«. Diese kleinen Züge (von Glasenapp berichtet), geben den ganzen Wagner kund. Möglichst viele Weltanschauungen verschmelzen! Mitten im Wunder rationell sein! Und man lächelt, hört man aus diesem Bericht, daß Wagner während der Arbeit am Parsifal öfters Darwin las.
Viertens: Verhandlungen. Ein beliebtes Mittel aller Theaterschreiber: auf der Bühne selbst Zuschauer zu schaffen, deren Applaus oder Murren im rechten Augenblicke sich suggestiv auf das Publikum überträgt. Dies findet sich in der Wartburg, in Brabant, in Nürnberg, in Monsalvat. Ferner öffentliche Aufforderungen zum Gottesgerichte, Anordnung des Kampfes oder des Sängerkrieges oder des Meistergesanges oder des Abendmahles: immer vor Zeugen, die auf der Bühne versammelt stehn.
Dasselbe negativ: nie darf ein einzelner auf der Bühne stehen. Monologe sind zwar dichterisch bedeutsam, dramatisch unentbehrlich, aber theatralisch gefahrvoll. Oft weiß er ihn zu umgehen: zum Beispiel ist die Riesenrede Wotans in der Mitte der Walküre durch Brünnhildes bloße Anwesenheit, durch ihre zweimaligen kurzen Zwischenfragen geschickt in eine Szene umgewandelt. Oder Siegfried wird bei seinem Selbstgespräch im Walde immer von dem Vogel unterbrochen, wie von einem unsichtbaren Partner. Tieferer Grund: Wagners Helden sind nicht gern allein, so wenig wie ihr Schöpfer.
Fünftens: Visionen und Ahnungen. Der Held wird innerlich erschaut, beschrieben – und just in diesem Augenblicke steht er da. Senta, in einer vorzüglichen Theaterszene, erzählt Erik ihren Traum, im richtigen Augenblicke springt die Tür auf: der Holländer erscheint. Elsa kniet und betet (vorn links):
»Ich will ihn sehn, wie ich ihn sah!
Wie ich ihn sah, sei er mir nah.«
Lohengrin erscheint im Nachen (hinten rechts).
Die feinsten Visionen heißen Ahnungen. Diese haben die große Aufgabe, die mangelnde dramatische Vorbereitung ebenso zu ersetzen, wie es die Zaubertränke mit den mangelnden Motiven tun. Da auf der Bühne das Plötzliche nicht wirkt, vielmehr jedes Ereignis vorbereitet sein will, Wagner aber die Fähigkeit dazu abgeht, so ersetzt er dies durch hysterische und zugleich theatralische Ahnungen. Außer den genannten Frauen ahnen auch Walter, Lohengrin, Siegfried. Diese blicken jene Frauen dann meist »mit wachsender Ergriffenheit« an. Lohengrin vergißt vollständig, daß der Heilige Gral Elsa unschuldig wußte, daß er einzig darum gekommen war und behauptet:
»Die nie sich sahn, wir hatten uns geahnt.
War ich zu deinem Streiter auserlesen,
Hat Liebe mir zu dir den Weg gebahnt!«
Auch das große »Ansehen« bei Wagner, das durch seine sämtlichen Werke geht und ihm wundervolle Zwischenspiele des Orchesters ermöglicht, ist hierauf zurückzuführen.
Sechstens: Prospekte und Maschinen. Dies darf man nicht so böse besprechen, wie Wagner von ganz unschuldigen Dekorationen sprach, wenn er aus Paris eine neue Oper vernichten helfen wollte: »Der zweite Akt führt uns in Katharinas Betzimmer, welches jedoch nicht unterläßt, durch weit offene Fenster auf den großen Kanal auszugehen.« Wie primitiv ist dergleichen gegen Wagners eigene unerhörte Schauplätze: Im Inneren des Hörselberges. Auf dem Grunde des Rheines. Auf einem Feuerberge. Im Zaubergarten. Oder, in einem Entwurf: In der Tiefe eines völlig unbeleuchteten Schachtes, oder in einem anderen: Die äußerste Spitze der Alpen im Nebel.
Sein blühender Theatersinn läßt ihn zuweilen an starken Möglichkeiten des Dramatikers vorbeisehen. Freia, die ewig Jugendspendende, geht von den Göttern. Wie nun die Götter altern und zurückverlangen nach der Jugend, ruft nach dem Dichter. Wagner begnügt sich mit folgender Regiebemerkung: »Ein fahler Nebel erfüllt mit wachsender Dichtigkeit die Bühne: in ihm erhalten die Götter ein zunehmend bleiches, ältliches Aussehen.«
Freilich ist alles in der Fülle zu sehen! Jeder Dichter würde Lohengrin der Elsa eine Gabe, etwa den Ring, für ihren Bruder übergeben lassen. Wagner braucht, um Zeit für ein Zwischenspiel zu gewinnen, drei. Folge: Man muß die Bewegung sehen, mit der die ohnehin sehr geängstigte Schauspielerin Schwert und Horn mit sanfter Bewegung »weitergibt«. Wagner war immer besorgt, alles sichtbar zu machen. Bei der Uraufführung des Rheingoldes machte er eine Einlage, die nicht im Textbuch steht: als da das Schwertmotiv zum ersten Male erklingt, um Wotans Heldentum auszudrücken, las dieser plötzlich ein Schwert vom Boden auf und schwang es hoch, als optisches Korrelat.
Was wäre nicht alles zu sehen! Mädchen, die wirklich schwimmen, ein Drache, der sich wirklich schlängelt, Pferde und Hunde, brennende Berge, ein zusammenstürzender Berg, der Schwan vor dem Nachen, Zusammenbruch eines Schiffes, der Gott und die Göttin über den Kämpfern schwebend, acht Frauen, mit toten Helden im Sattel, brausen vorüber, ein Scheiterhaufen, in den die Geliebte auf ihrem Leibroß sprengt, Götter gehen über den Regenbogen, das Schicksalsseil von wirklichem Hanf, der Gral mit einer wirklichen Glühbirne im Innern – und man denkt an Lessings Unterscheidung der Anschauung mittels der Sinne und mittels der Phantasie, oder an Talmas Worte: »Was auf der Bühne als wahr zu wirken hat, darf niemals wahr sein.«