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Der Krampf seines Wesens zwang Wagner, unorganisch und plötzlich das zu erwünschen, was die Jahrhunderte verborgen und in organischem Werden zu bereiten lieben. Obwohl er den unhaltbaren Satz formulierte: »Der Philosophie und nicht der Kunst gehören die zwei Jahrtausende seit Sophokles an«, wollte er plötzlich aus dem bayrischen Staube ein hellenisches Stadion stampfen. Als anarchischer Geist verachtet er jede Tradition, als egozentrischer verwechselt er sie mit lebendiger Entwicklung: als Schwelgender will er auch hier alles verschmelzen.
Wagners Mißverständnis mit Hellas (es erstreckt sich bis in sein Wohnhaus Wahnfried) ist auf verschiedene Weise abschattiert. Einmal heißt es, die Griechen lehren uns »aus ihren Trümmern für alle Zeiten, wie der übrige Verlauf des Weltenlebens etwa noch erträglich zu gestalten wäre«. Wotan-Motiv. Nein, heißt es ein andermal, »wir wollen nicht wieder griechisch werden!« Und dann, gesperrt gedruckt: »(Das) Ziel ist der starke und schöne Mensch (Siegfried-Motiv): die Revolution gab ihm die Stärke, die Kunst die Schönheit.« Folgt große Verschmelzung der Motive: »Nur starke Menschen kennen die Liebe, nur die Liebe erfaßt die Schönheit, nur die Schönheit bildet die Kunst.« Posaunen.
Statt, wie große Künstler sonst, eine Entwicklung implicite in seinem Werk vorwegzunehmen, will er der Gegenwart die Zukunft oktroyieren. Die griechische Schraube wird zurückgedreht. Ein »Tragödientag« im hellenischen Sinne soll wieder geschaffen werden. Man weiß, was daraus geworden ist, und es ist unlogisch, die internationale Sensation »Bayreuth« von einem Urbilde zu unterscheiden, das etwa dem Schöpfer vorgeschwebt hat. Dieser Weltmann kannte die Gegenwart! Hätte er jene schöne Gebärde des wie aus jahrelangem Schlaf erwachenden Idealisten, man könnte ein wundervolles Irren verehren. Er aber, grade Wagner mußte wissen, daß sich Olympiaden nicht gründen lassen, so wenig wie irgendeine Form, sondern daß sie wachsen, und eines Tages faßt man sie zusammen.
Man fragt sich: waren es nicht die »Dreißigtausend«, von denen er immer spricht, die von überall zusammenströmten, die das hellenische Amphitheater füllten – jene Dreißigtausend, die ihn gereizt? War es Frömmigkeit, wenn Bernini immer größere Maße für heilige Gegenstände verlangte? Zu allen Zeiten hat das Lebensgroße den Künstler, das Überlebensgroße den Künstlichen gereizt. »Das, was noch nie sich fand, danach trachtet mein Sinn.«
Wagner hat nicht Äschylos erweckt, vielmehr versuchte er Euripides zu erwecken, und zwar dort, wo dieser dem Archaismus verfiel, nämlich an seinem Ende, in den »Bacchen«. Und ihn, grade ihn nennt Wagner selbst einen Décadent!
Wie sucht Wagner den Ort, wo das erneute Athen nach seinem Willen sich verwirklichen möge? Jede traditionelle Anknüpfung wird bewußt vermieden. Willkürlich wählt er, das heißt mit Klugheit. Bayreuth wird ausgerechnet: geographisch, klimatisch, nach Einwohnerzahl und Bahnverbindung. Er selbst kennt es seit vierzig Jahren nicht mehr, er schlägt – erzählt sein Biograph – im Konversationslexikon den Artikel »Bayreuth« auf, um sich zu orientieren. So erst erfährt er, daß dort ein altes Theater steht.
Wagner sagt sich etwa: Götter und Helden hatte die griechische Tragödie. Da nun mich der Dämon zwingt, Götter und Helden zu schildern, erweitere ich die Maße des modernen Theaters ins griechische. – Götter und Helden? Die griechische Bühne kennt nur Helden, denen ganz vereinzelt ein Gott ex machina erscheint. Nur der »Décadent« Euripides stellt sie häufiger dar. Im Nibelungenringe aber treten sieben Helden auf und Heldinnen, die fast alle von Göttern stammen, und zwanzig Götter, Riesen und Nichtmenschen. Nur der Undramatiker kann ein Stück »für Götter« schreiben. Die epische Dichtung mag sie schildern, an Hand kolossalischer Bilder, denen die Phantasie nachschweifen kann. Wie drollig würden Wagners Götter wirken, vertauschte man die in Deutschland unpopulären deutschen mit den hier höchst populären griechischen Göttern!
Wagner weckte die griechische Tragödie und die deutschen Götter aus dem Schlaf. Schlummertrunken fuhren sie auf und wankten. Als aber Wagner fühlte, daß noch ein drittes Urelement zum Reigen fehlte, da rief der große Verschmelzer aus: »So laßt uns denn den Altar der Zukunft, im Leben wie in der lebendigen Kunst, den zwei erhabensten Lehrern der Menschheit errichten: Jesus, der für die Menschheit litt, und Apollon, der sie zu freudevoller Würde erhob!« Man könnte auch sagen: der Raub der Europa durch Alberich oder: Wotan besucht die Jo in einer Wolke.