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»Das Rein-Menschliche«

Erste Linie: Wagner erklärt den Menschen für entartet, Geschichte gradezu für »konstante Rückentwicklung«. Nicht gegen sein Jahrhundert, gegen das Decrescendo des ganzen Menschengeschlechtes eifert er, während man sich heute bemüht, zu erweisen, daß sich Stämme und Arten aufwärts entwickelt haben. Der geschichtliche Mensch erscheint ihm nicht darstellenswert. Also Rückkehr zum Mythos.

Zweite Linie: Da Wagner sich nur in der Verschmelzung seiner Gaben genial fühlt, wird das »Wort-Ton-Drama« proklamiert. Dieses aber kann nur das »Rein-Menschliche« darstellen, nicht den »politischen (historischen) Menschen.« Also Rückkehr zum Mythos.

Beide Linien treffen sich in der Kopfstation Bayreuth.

Aber der tiefere Grund, den er nicht nennt und vielleicht nicht erkannte, liegt in seiner Sexualität. Weil er und seine wesentlichsten Wirkungen geschlechtlich waren, brauchte Wagner den Urmenschen; um an ihm die Urinstinkte des Geschlechtes – und beinahe nur sie am deutlichsten darzustellen.

Wenn Wagner den Mythos aufsucht, sucht er darin nicht etwa das Mysterium des Menschen in äußerster Simplizität. Zu diesem dringt der Blick des Künstlers durch alle Masken und Zeiten. Sondern er schließt: nimmt man dem Menschen alle Züge, die ihm die Geschichte aufprägt, so bleibt das »Rein-Menschliche«. Mit diesem primitiven Einfall nimmt er den Menschen an der Hand, wandert mit ihm die geschichtlichen Zeiten zurück, hinter den Anfang, und glaubt nun im Ernste, vor dem »von aller Konvention, von allem historisch-formalen losgelösten Rein-Menschlichen« zu stehen. Die Geschichte, meint er, verkleide dieses Rein-Menschliche, und überhaupt wäre in der Geschichte der Mensch nur immer von den Verhältnissen bestimmt zu finden und darzustellen, nicht aber der Mensch, wie er sich selbst zu bestimmen vermöchte. Hätte er also »Friedrich Rotbart« ausgeführt, so wäre es ihm »nicht im entferntesten eingefallen, einen historisch-politischen Zustand anders als im gesprochenen Schauspiel auszuführen«. In solchen Dramen mache ihm »die bloß verständliche Schilderung von Verhältnissen die Darstellung der rein menschlichen Individualität unmöglich«.

Diese ganz naive Verzichtleistung des Dramatikers auf seine höchste Kunst: in der Wirrnis der Welt implicite den Menschen zu schildern, deutet in Wagners künstlerischen Organismus zurück, wie wir ihn oben analysierten. Sein ganzes Wesen bedingte diesen primitiven Trugschluß: konnte diesem ekstatischen, krampfhaft sprühenden Temperament ein anderes gelingen und darum erwünscht sein als die »wirkliche und sinnliche Vorführung?« Wagner war, statt eines Dramatikers, ein Dithyrambiker im Treibhaus. Überdies mag ihn seine Unfähigkeit, in einer Welt Fuß zu fassen, die er doch um ihres Echos willen so sehr brauchte, an der Gestaltung dieser Welt verhindert haben. Denn er verwechselte Geschichte und Mode, Tradition und Konvention, vergaß, daß man im schwarzen Rock reinmenschlich sein kann, im Bärenfell durchaus nicht sein muß.

Er zögerte nicht, diese seine persönliche Not zu einer öffentlichen Tugend zu steigern und behauptete (pro domo) ernsthaft: »Die erste Empfindungssprache der Menschen« waren Laute, die ganz von selbst als Melodie sich darstellen mußten.

Das Rein-Menschliche bei Wagner ist keine metaphysische, keine künstlerische, es ist eine Frage des Stoffes. Grade in seinen Entwürfen, sagt Chamberlain, »erkannte er, daß das Problem des Wort-Ton-Dramas den Stoff beträfe, nicht die Form ,… daß er einzig fragen dürfte: was ist der Gegenstand, der eines so erhabenen Ausdrucks bedarf?« Die meisten Stoffe waren ihm zu vielseitig oder zu historisch, und so forderte er für die Zukunft: »Ein Inhalt, der einzig dem Verstande passend ist, bleibt einzig auch nur in der Wortsprache mitteilbar; je mehr er sich aber zu einem Gefühlsmomente ausdehnt, desto bestimmter bedarf er eines Ausdrucks, den ihm ,… nur die Worttonsprache ermöglichen kann.«

Wagner übersieht, daß alle großen Dichter aller Zeiten immer und ausschließlich das Rein-Menschliche dargestellt haben. Er aber, genialisch nur in der Ekstase, will einen Extrakt geben und vergißt, daß das Drama niemals Extrakt sein kann, wie etwa ein dithyrambisches Gedicht, höchstens ein Paradigma für seine eigene Idee. Als Verehrer des griechischen Dramas scheint er Othello oder Heinrich IV. für »historischere« Dramen zu halten als den Rasenden Ajax, die mythische Antigone für reinmenschlicher als Goethes »historischen« Tasso.

Wagners Kunst, künstliche Theorien einer unkünstlerischen Absicht unterzuschieben, erblüht hier aufs neue. Wie sehr erschrak er, als er sich so als Erfinder des Rein-Menschlichen von Wagner, dem Ästhetiker, proklamiert fühlte. So gab er dem Roß die Sporen und sprang mit einem guten Satz zu folgendem Schlusse (im Kunstwerk der Zukunft): Nachdem sich alle Künstler zu einer »praktischen Genossenschaft« zwecks Bildung des Dramas zusammengetan haben, ruft Wagner, ihr Führer: »Wer wird aber der Künstler der Zukunft sein? Der Dichter? Der Darsteller? Der Musiker? Der Plastiker? Sagen wir es kurz: das Volk!«

Sagen wir es kurz: das Volk als Zuflucht des Nihilisten, oder: über alle Weisheit weg reicht der vollendete Greis dem Kinde die Hand. Sagen wir es kurz: der Regenbogen der Menschheit als Aktschluß. Denn hier liegt, mit journalistischer Geste eingeleitet, der Grund – sagen wir es kurz – zu allen Gewalttaten, die Wagner im Verlaufe seines Werkes dem Mythos angetan hat. Ein Unpersönliches, das Volk, wurde zum Kronzeugen aufgerufen, Wagner wußte wohl, warum. »Der eigentliche Erfinder war von je das Volk.« Der einzelne könne nicht erfinden, könne sich nur der Erfindung bemächtigen. Die wirkliche Kraft des Künstlers sei immer nur die kommunistische, und es sei »ungemein oberflächlich, die entscheidende Wirksamkeit einer besonderen künstlerischen Kraft aus seiner Befähigung abzuleiten«.

Merkwürdig ist zuerst, wie fern dem Volke jene Mythen liegen, die Wagner sich gewählt hat. Das Nibelungenlied, dem Volke bekannt (nicht in den Originalen), gibt nur mit seinem Anfang den Stoff zum Ende von Wagners großem Werke her. Edda aber ist unpopulär: darum konnte Wagner mit voller Willkür diese Sagen zugunsten theatralischer oder schwüler Wirkungen verändern, ohne daß das Volk, daß auch nur die Gebildeten es bemerkten. Hiervon später. Die ganze Geburt Siegfrieds, ja selbst die Namen, die doch überall das Volkstümlichste sind, konnte er ändern (Siegfried statt Sigurd, Notung statt Balmung). Wie hätten die dreißigtausend Athener gelärmt, deren Theatron Wagner immer vorgeschwebt, hätte ihr Tragiker an einem Mythos gerüttelt, den jeder in sich trug!

Und nun bringen überdies, als ironisches Nachspiel, in neuster Zeit grade die Philologen heraus (Prof. Bugge, Prof. Golther), daß diese ganze Welttragödie keine germanische Anschauung, daß sie vom Christentum beeinflußt sei. Die Sagen sollen »mit nordischen Dichtungen von Wotan, Walhall und den Walküren zur Wikingerzeit als das Werk einzelner Männer aus den vornehmsten Geschlechtern, die auf den britischen Inseln mit Christen und sogar mit Mönchen in Berührung gekommen waren, entstanden sein«. Was wird nun aus dem großen Regenbogen, der als dekorativer Aktschluß die Theorie gekrönt hat? Er bleicht zurück.

Daß Wagner die Unkenntnis des Volkes von jenen Mythen, die er auf das Volk zurückgeführt, selbst kannte, und daß er diese Unkenntnis benutzte, läßt sich durch einen Analogieschluß erweisen.

Als einen der Gründe, warum er den »Jesus von Nazareth« nicht ausgeführt hat, nennt er diesen: »Dem Stoffe ,… mußte ein zu empfindlicher Zwang angetan werden, wenn ich mein modernes Bewußtsein von seiner Natur in ihm kundgeben wollte; an seinen populären Momenten mußte gedeutet und mit mehr philosophischer als künstlerischer Absicht geändert werden, um sie der gewohnten Anschauungsweise unmerklich zu entziehen.« Wagner umging also die Jesustragödie, sie war ihm zu populär. Hier hätte jeder laut Einspruch erhoben, wegen Verschiebungen, Deutungen und »Vertiefungen«. Als Wagner erkannte, daß – einige Märchen ausgenommen – kein deutscher Mythos so sehr Volksgut geworden als die Passion, trat er von ihrer direkten Darstellung klug zurück und zog es vor, sie seinem letzten Werke als wirksames Theaterbild indirekt einzufügen. Seiner Erkenntnis von der Volkstümlichkeit des »Jesusstoffes« verdanken wir es, daß das Theatergenie mit seinen glänzenden Wirkungen nicht auch noch diesem Gewalt antat.


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