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Der Mythos protestiert

Hebbel schrieb über seine Nibelungen an Dingelstedt: »Man muß bei einem solchen Stoffe auf neun Zehntel der Kultur Verzicht leisten und mit dem Rest auskommen, ohne trocken zu werden. Das ist die ganze Kunst, aber die Herren (Raupach, Geibel) wollten mit ihrem Ich nicht zurücktreten und nicht umsonst im neunzehnten Jahrhundert geboren sein. Daß ich mich selbst verleugnet habe, wird eine gerechte Kritik früher oder später einräumen; ich wollte dem Publikum bloß das große Nationalepos ohne eigene Zutaten dramatisch näher rücken.«

Das Umgekehrte hat Wagner getan. Weder seine Kultur noch sein Ich gab er auf, das neunzehnte Jahrhundert und seine eigene Zutat bilden vielmehr die ausschließlichen Reize seiner Dichtung. Das war ein schweres Vergehen grade von ihm, weil er immer sich auf das Volk als seinen Dichter und auf das Volk als seinen Hörer berief. Er selbst schien davon nichts zu wissen. Getreu seiner Theorie vom Mythos behauptete er ernsthaft: er hätte vom deutschen Urmythos alle Hüllen abgelöst, »die ihm die spätere Dichtung entstellend umgeworfen, um ihn endlich in seiner keuschesten Schönheit zu erblicken. Was ich hier ersah, war ,… der wahre Mensch überhaupt«. Was von diesem wahren Siegfried ins Volk gedrungen ist, weiß man: sein Horn wird auf der Straße gepfiffen.

Im Gegensatze zu Hebbel erklärte Wagner, er wolle und also: man müsse den Mythos »deuten«, die Sage »vertiefen«. Ein Dichter, wenn er einem Stoff begegnet, pflegt sogleich Gestalten zu erblicken, es entsteht Bewegung und Gegenbewegung, Inneres und Äußeres kann sich nicht anders als zugleich aufbauen und lösen. Wagner sieht zuerst einen Stoff, dann »dramatisiert« er ihn. Da er nun findet, daß das ja nur Theater sei, nur Oper, vertieft er ihn. Nicht Wagner, der Künstler, Wagner der Philosoph, der »tragische« Wagner ist da am Werke.

Weil er bemerkte, so einfach könnte es nicht bleiben, wurde er nach dem ersten Entwurf zu den Meistersingern böse und ließ ihn liegen: zwanzig Jahre später fand er die ihm nötige Vertiefung. Ganz deutlich spricht diesen Gedanken Chamberlain über die Ringdichtung aus: »Nein, es mußte an Stelle des Kampfes zwischen verschiedenen Personen um Besitz und Weltherrschaft ein innerer Konflikt erfunden werden, ein Konflikt, der im eigenen Herzen entsteht und dann ausgefochten wird.« Der Wert des Goldes sei ein »rein konventioneller; der Tondichter mußte noch tiefer greifen und ein rein menschliches Motiv jenseits aller Konvention, als den dramatischen Kernpunkt aufdecken. Das gelang Wagner durch einen einzigen Zug: wer der Liebe entsagt, vermag durch das Gold zur Weltherrschaft zu gelangen!«

Wagners Weg bis zur gründlichen Vertiefung war diesmal weit. Im Jahre 51 schrieb er vom Jungen Siegfried: »Mein Held ist wild im Walde aufgewachsen und ward von einem Zwerge aufgezogen, um ihm den Riesenwurm zu erlegen.« Folgt Schilderung der Handlung bis zur Erweckung der Walküre, wie er die Handlung übernommen. »Siegfried ist ungefähr derselbe Bursche, der im Märchen vorkommt.« Der Schluß war damals wagnerisch-optimistisch: Brünnhilde:

»Nur einer herrsche, Allvater, Herrlicher, du!
Daß ewig Deine Macht sei, führ' ich dir diesen zu:
Empfang ihn wohl, er ist es wert!«

So endete schon der Entwurf von Siegfrieds Tod. Hier steht sogleich der richtige Opernschluß verzeichnet: man sieht »über einem düsteren Wolkensaume in einem Glanz Brünnhilde im Waffenschmuck zu Rosse als Walküre, Siegfried an der Hand von dannen geleiten.« Als einige Jahre später die Dichtung fertig war und nahezu den Wortlaut der späteren Götterdämmerung hatte, schloß sie sogar:

»Ihr Nibelungen, vernehmt mein Wort!
Eure Knechtschaft künd ich auf:
Der den Ring geschmiedet, euch Rührige band –
Nicht soll er ihn wieder empfangen, –
Doch frei steht er wie ihr! ,…
Nur einer herrsche: Allvater! Herrlicher du!
Freue dich des freiesten Helden!
Siegfried führ' ich dir zu ,…
Freue dich, Grane, bald sind wir frei!«

Alles endet also gut, gut für Siegfried, für Wotan, für Alberich, für Brünnhilde und für Grane.

Plötzlich kam der Schopenhauerische Nebel (vgl. oben »Der Wille zu Schopenhauer«). Nun wird vertieft. Es wird in einer Weise vertieft, daß nun mit einemmal, wie Wagner schreibt, »hier alles durch und durch tragisch ist, und der Wille, der eine Welt nach seinen Wünschen bilden wollte, endlich zu nichts Befriedigenderem gelangen kann, als durch einen würdigen Untergang sich selbst zu brechen.« Mit dieser nachträglichen Begründung deutet Wagner auf seine neue, tragische Weltansicht.

Der Gedanke war: Der problematische Gott, nun Hauptperson statt des naiven Helden, braucht diesen, weil er ihn nicht unterstützt – und doch wird grade dieser die Götter stürzen! Ein großes Thema. Nur muß man nicht von Wagners Sucht getrieben sein: alles zu verschmelzen! Nur kann man nicht plötzlich dieses tragische Weltgeschehen mit der alten Formel vom Helden konsolidieren, der das Fürchten nicht lernte. Jetzt wird dem alten, ehrlichen, tiefen Märchen bang. Was soll es noch inmitten solch komplizierter, vertiefter Weisheit? Es kracht. Der Sprung läuft für immer durch das Kunstwerk.

Dieselbe Dichtung, die mit jenen Versen schließen sollte, bekam nun Schopenhauer in Abbreviatur zum Epilog Gleichfalls von Wagner veröffentlicht.:

»Aus Wünschheim zieh ich fort,
Wahnheim flieh ich auf immer.
Des ewigen Werdens offene Tore schließ ich hinter mir zu.
Nach dem wunsch- und wahnlos heiligsten Wahlland,
Der Weltwanderung Ziel,
Von Wiedergeburt erlöst,
Zieht nun die Wissende hin.
Alles Ewigen seliges Ende,
Wißt ihr, wie ich's gewann?«

Wagner schließt sein Weltgedicht, wie es Euch gefällt.

Hätte Wagner Hebbels Ehrfurcht vor dem Mythos besessen, er hätte die Ideen getrennt, statt sie zu verschmelzen. Die ganze Göttergeschichte, die nun mühsam vorangeschickt wurde, bleibt mit der Tragödie Siegfrieds unverbunden.

Wagner mißbrauchte die größte deutsche Sage zur Verschmelzung seiner eigenen psychischen Epochen. Er verknüpfte sie mit der Dämmerung der Götter, deren Quellen sich aus innersten Gründen an ganz anderer Stelle finden. Das schmeichelte seiner theatralischen Phantasie: Götter auf der Bühne nicht bloß auftreten, auch untergehen zu lassen! Durch diese Verschmelzung wird aber der Untergang ganz sinnlos. Immer hieß es, der Ring würde durch Rückkehr in die Flut entsühnt. Und jetzt holen ihn die Rheintöchter aus dem Scheiterhaufen, Hagen mit sich ziehend. Warum also dämmern die Götter?

Für eine bloße Dekoration ist der Vorgang doch etwas zu groß. Im ersten Teil schon wollte Wotan »das Ende«, und am Schlusse des zweiten rief die Walküre: »Lachend laß uns zugrunde gehn!« Statt die Geschichte des Ringes nachträglich durch die Götter zu vertiefen, hätte der Ring in den Mythos der Götter versponnen werden müssen. So aber tritt überhaupt keiner der Götter, Riesen oder Zwerge an einem der nächsten Abende wieder auf (außer Fricka und Alberich für je eine kurze Szene). Künstlich müssen die Nornen, muß Waltraute eine Scheinverbindung schlagen. Ja, der offizielle Held des ganzen Werkes, Wotan, tritt in der Schlußtragödie gar nicht mehr auf und schickt nur seine Raben, als Siegfried fällt. Er ist so passiv geworden, daß er nicht mehr kommen kann. Folge: das Hauptstück einer Trilogie, mit zwei Raben in Vertretung der Hauptperson.

Wie zerzaust geht die ehrwürdige Sage aus Wagners Händen hervor! In der Edda streiten Brünnhilde und Gutrune. Diese sagt, Siegurd sei es gewesen, der sie einst gefreit, und zeigt ihr zum Zeichen den Ring. Darauf fordert jene folgerichtig seinen Tod. Das ist aber Wagner nicht tief genug: er zieht es vor, Brünnhilde den großen Meineid schwören zu lassen, hart an der Rampe.

Oder, es heißt in der Edda, als Siegurd die vom Feuer Umgebene erweckt: »Sie lehrte ihn ihre Weisheit. Bewundernd sprach da Siegurd: Kein weiserer Mann ist zu finden als du, und das schwöre ich, daß ich dich haben will, und du bist nach meinem Sinn. Sie antwortete: Dich will ich am liebsten haben, hätte ich auch zu wählen unter allen Männern!« Ist dies nun der Ton des »Urmenschen« – oder sind es jene brünstigen Rufe, die enden: »Leuchtende Liebe, lachender Tod!«

Wagner vermag alles. Er vermag nicht bloß, wie hier, eine optimistische Welt plötzlich zum Leiden zu »erlösen«, auch umgekehrt eine pessimistische zur Leidenschaft. Als er »Die Sieger« entwirft, verdrießt es ihn, daß Buddha, der Held, ein »vollkommen befreiter, aller Leidenschaft enthobener Mensch« und für das Drama deshalb schwer zu brauchen sei. Statt ihn nun völlig aufzugeben, fühlt er sich durch einen »höchst willkommenen Zug« aus einem religionsphilosophischen Buch gerettet. Buddha wollte keine Frauen in die Gemeinde der Heiligen einlassen, weil sie der Geschlechtsbestimmung und so dem Hang nach persönlicher Existenz zu sehr unterworfen wären. Erst Ananda, sein Jünger, bestimmte ihn nachzugeben. Als Wagner dies las, »löste sich plötzlich alles ohne allen Zwang«. Er will seinem Helden »auf dem Wege der Erschütterung und Bewegung des eigenen Herzens« die neue Erkenntnis zuführen lassen. Rasch phantasiert er: Ananda, in den sich ein Mädchen verliebt, wird zum Vermittler dieser letzten Vollendung. Dann wird eine »keusche Gemeinschaft« geschlossen zwischen dem Tschandalamädchen und dem jungen Heiligen.

Welche Perspektiven! Welches Feld zu religiöser Wollust! –

Parsifal war von Wolfram aus dem Mythos übernommen und nur transponiert worden; in lebendigem Rittertum, das er um die Jugend seines Helden gruppiert. Als dann plötzlich das große Vergehen kommt, wird Parsifal stiller, trauriger, steigt nieder in die Wanderfahrten des Gavan, und, ohne daß Wolfram selbst kommentiert, wandelt sich Parsifal zum reifen Manne. Wie hier alles im rührend rührigen Wirken endet, blieb Wagner ganz verschlossen. Statt kindlich-einfach ist Parsival kindisch-eruptiv. Nachdem Wagner aus Tempeleisen Klosterbrüder, aus heiteren Frauen brünstige Dirnen, Kundry zur Ewigen Jüdin gemacht und die Gralsritter auf gut attisch herbeigeleitet hat: nun, offenbar fürchtend den jungen Siegfried zu wiederholen, führt er mit ein paar Worten den »Toren« ein, und sofort wird dieser von Gurnemanz erschüttert. Das alles dauert keine fünf Minuten. Hier, wo einmal das »Symbol« vonnöten war, wird daraus eine äußere Erfahrung: der Gral.

Ist dies wirklich dramatische Notwendigkeit, neben der epischen Willkür? Ist es nicht vielmehr die Wagnerische Vertiefung des Mythos? Wagner führt, gleichsam über die Hintertreppe, die Gestalt Christi ein, um auch diesen Mythos, der sich ihm nicht erschlossen, zu vertiefen.

Oder was bedeutet es sonst, wenn Parsifal, der Amfortas zur Gesundheit, Kundry zum Gleichgewicht der Seele erlöst, am Ende selbst »erlöst wird«? Ist es nun Parsifal, der Erlöste, oder der maskierte Erlöser? Wie aber, wenn er eine bestimmte, durch das Jahrtausend gefestigte Gestalt der Sage namens Parzival darstellt, – wie kann dieser Musiker es wagen, das große Symbol der Fußwaschung und die anderen, wie nebenbei, gleichsam linker Hand, einfach einzufügen? Wann wurde das erhört, daß je ein Künstler straflos die Kulte parodieren, die Sagen des Volkes verschütten, verwechseln durfte, – um eines Stückes willen, das man vergessen muß, wenn man an Wagners Genius sich erinnert.

Nur eine sehr undeutsche, suggestive Gewandtheit größten Stiles konnte dies alles verdecken, und nur, weil diese »Volkskunst« dem Volke gänzlich verborgen blieb, konnte dies alles dargestellt werden, ohne das dröhnende Veto der Gesamtheit.


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