Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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9.

Der General steht über die Karte gebeugt, entschlossen und eisig seine Miene. Lautlos tritt der Chef des Stabes ins Zimmer. Schon beginnen die Autos und Motorräder der Befehlsüberbringer zu dröhnen und zu rasseln. Der Boden zittert vom Feuer, dicht nebenan schlagen die Geschütze, als würden Türen aus Erz ins Schloß geschleudert.

Alles ging gut!

Der Gegner, sein Gegner da drüben, dieser Halunke mit dem Käppi und dem weißen Spitzbart, hatte ihm die Höhe durch Überraschung genommen, mitten in der Nacht. Aber er hatte sich verrechnet! Schon taumelten die Soldaten von ihren feuchten Strohlagern, schon rollten die Autobusse, die Hölle wollte er ihm bereiten. Bevor die Sonne aufging, war die Höhe wieder in seiner Hand.

Es ging vorzüglich, schon hatten die Jäger das Labyrinth – das Hauptfort der Höhe – wieder seinen Zähnen 470 entrissen. Aber irgend etwas war doch auffallend – plötzlich schienen es weniger Offiziere zu sein. Im Vorzimmer war überhaupt niemand. In der Schreibstube arbeiteten im ganzen zwei Leute.

Doch auffallend! Wo ist der Chef des Stabes? Der General klingelte. Niemand kam. Er stieß ungehalten die Türe auf: niemand! Wieder ging er in das Schreibzimmer, der Telegraph tickte – aber niemand! Die Kanonen schlugen weniger laut.

Wo waren sie hin, das Gewimmel von Offizieren, Adjutanten, Schreibern, Ordonnanzen? Das ganze Schloß mit seinen hundert Sälen war leer und finster. Im Schein des Geschützfeuers suchte er seinen Weg. Bilder, Möbel, Spiegel, die rot aufglühten.

Kein Mensch!

Er war allein.

Bestürzt eilte er vor das Portal. Kälte, Nacht. Der Boden gefroren, ein eisiger Wind, die Bäume kahl und spitz. Ringsum, der ganze Horizont ein Feuermeer.

Aber kein Lärm!

Über die Parkmauer fuhr von Zeit zu Zeit ein Feuerbalken. Die Haubitzen standen dahinter, richtig. Der General eilte. Eben schwankte in der Dunkelheit ein Rohr, Glut blies in die Nacht – aber kein Mensch und kein Laut! Der General strich entsetzt um das Geschütz – keine Seele – was war das –?

Wieder taumelte das Rohr, und im Schein des Abschusses sah der General das große dunkle Schloß zusammenstürzen, das Dach stürzte, die Säulen, das Portal – aber kein Laut.

Entsetzen schüttelte ihn. Er schrie auf.

Da erwachte er. Seine Augen wanderten über die Wände.

Erst nach geraumer Zeit fand er sich zurecht. Er saß in seinem Arbeitszimmer, in seinem Sessel, genau wie vor wenigen Minuten. Sonderbar, die Uhren gingen, die Pendel schwangen, aber er hörte sie nicht mehr ticken. 471

Seine Lider waren schwer wie Blei, die Glieder wie gelähmt. Was geschah mit ihm? Müde, müde.

»Ich bin müde«, sagte er mit schwerer Zunge.

»Ich bin sehr, sehr müde!«

Er wollte aufstehen, aber er blieb dennoch sitzen. Vor seinen Füßen lag ein Schreibheft, ein dünnes beschmutztes Notizheft. Ach, ja, es waren die letzten Aufzeichnungen Kurts, seines ältesten Sohnes – gefallen bei Comble in der Sommeschlacht, ruhmvoller Verteidiger der Riegelstellung. Nun erinnert er sich: er hatte es aus dem Geheimfach genommen und wieder gelesen – wie in vielen, vielen einsamen Nächten. Feuer, Entbehrungen, Schrecken, Tod . . .

»Und alles umsonst?« flüsterte der General und schüttelte fassungslos den Kopf.

»Alles umsonst!«

»Wie, wie, wie?«

»Ein Volk von Bettlern!?«

»Ein Volk von Sklaven!?«

»Ausgelöscht von der Erde, in den Schmutz getreten!«

»Alles, alles umsonst!«

»Ach!«

Der General stöhnte. Er schlug die weißen Hände vor das weiße Gesicht.

Er erhob sich. Aber die Beine trugen den schweren Körper nicht mehr. Er sank wieder in den Sessel zurück. Die bleischweren Lider fielen herab – Bilder zogen vor seinen Augen. Und doch war er wach, träumte er nicht. Deutlich erinnerte er sich, daß er soeben die Aufzeichnungen Kurts gelesen hatte. Das Schreibheft lag vor ihm auf dem Boden.

Nun also stieg er mit dem kleinen alten Mann, dem zudringlichen, der sich nicht abweisen ließ, die Höhe hinan. Er hatte seine Hand ergriffen, und sie gingen beide bergan – und doch wußte er, daß er in seinem Arbeitszimmer saß!

»Sie wollen also durchaus hinauf, haben keine Furcht?«

»Nein, keine Furcht.« 472

Aber die Höhe war nicht dunkel, obschon es mitten in der Nacht war, sie war matt erhellt. Nicht leblos und starr war sie – sie wimmelte von Menschen. Scharen standen hier, Mann an Mann, in ihren grauen Mänteln, die ganze Kuppe war besetzt von ihnen. Ein Wall von grauen Mänteln links und rechts. Tausende und aber Tausende, alle bleich, fahl, leichenfarben.

»Herbst, nicht wahr?«

»Ja, Herbst.«

»Und wie war doch der Vorname?«

Und laut schrie er: »Der Jäger Robert Herbst vortreten!«

»Hier!«

»Hier! – Hier! – Hier –!«

Ringsum, überall schrien die rauhen Soldatenstimmen: Hier, hier! Alle –!

Ja, sonderbar – so deutlich hörte er die Feldgrauen rufen, und doch wußte er genau, daß er in seinem Sessel saß.

Das weiße Gesicht des Generals ist auf die eisige Hand herabgesunken. Seine Augen sind ohne Blick. Ja, eigentümliche Bilder ziehen vor seinen blicklosen Augen, fließen, unaufhörlich, ohne Ende – eigentümliche Bilder . . .

Plötzlich greifen die weißen Hände des Generals wild in die Luft, und schon steht er aufrecht mitten im Zimmer.

Ein Gesicht ist erschienen: das Gesicht einer weinenden Frau . . .

Seine hellen, großen Augen blenden. Deutlich unterscheidet er wieder die Gegenstände im Zimmer. Deutlich sieht er wieder die dunkeln Gemälde an der Wand – jedes einzelne. Offiziere alle, Militärs, in Uniformen, mit Ordenssternen geschmückt, den Degen an der Seite, alle die gleichen breiten Gesichter, soliden Brustkörbe: alle Hecht-Babenbergs. Und jener Einarmige, über der Türe, das ist Jochen Friedrich Wilhelm Ernst Hecht-Babenberg, der nach dem Dreißigjährigen Kriege das Stammgut erwarb und den Wahlspruch des Geschlechts prägte: Lorbeer und Land! 473

Verschwunden ist plötzlich alle Müdigkeit!

Der General wankt in seinem weiten Feldmantel durch die Räume, wankt, schwankt, taumelt, aber er fühlt es nicht. Sein Mantel weht. Oft muß er sich mit den Händen an der Wand stützen. Aber er fühlt es nicht. Für ihn gibt es keine Wände mehr.

Die Wände sind verschwunden, er blickt, weit, weit, unendlich weit!

Er sieht – oh, ungeheures Schauspiel: die Welt in Flammen!

Ja, die Welt in Flammen! Europa, Asien, die Reiche der Mongolen, Afrika, die Reiche der schwarzen Völker, Amerika, alles in Flammen! Und durch Rauch und Flammen kriechen sie: sieh! Ja, sie sind es! Nun sind sie Wirklichkeit geworden! Riesenhaft, Städte aus Stahl, Riesenkreuzer kriechen durch den Rauch der brennenden Welt. Sie starren von Geschützen, sie werfen Flammen, bis hinter den Horizont schleudern die Pumpen das brennende Öl. Ihre Schuppenräder zermalmen Städte und zertreten Ströme. Ringsum funkelt der Horizont wie schwarze Kohle. Ein brennender Kontinent schmilzt ins Meer.

So! So! So! Ja, das waren sie!

Aber nun kam sie selbst, die Armee, unendlich wie die Wellen des Meeres. Regiment an Regiment, die Waffen klirren, so ziehen sie an ihm vorüber.

Fester hüllt er sich in den Mantel. Eisig pfeift der Wind! Die Luft ist gefroren, Eis, schon klafften Spalten in der Luft, wie in Gletschern, aber die Armee marschiert. Ihr Schritt donnert.

Da, da – dort!

Die Stadt! Dunkel, finster, qualmend. Und deutlich sind die roten Flaggen zu sehen, die über der finsteren, qualmenden Stadt wehen. Ganz deutlich! Frech flattern die Fahnen der Rebellen.

Der General hebt die Hand – Angriff! – und die 474 Armee, unendlich, unübersehbar, wälzt sich der qualmenden Stadt entgegen.

Eisig aber, entsetzlich eisig, scharf wie Gift bläst der Wind, und dichter, immer dichter, hüllt der General sich in den Mantel. Schon zerfrißt die Kälte den Stoff, Stücke lösen sich. Schon zerfrißt die Kälte die Haut, die sich aufrollt, schon zerfrißt die Kälte die Lungen . . .

 


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