Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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4.

Unübersehbar die Menschenmenge vor dem Reichstagsgebäude, Kopf an Kopf. Kopf an Kopf zwischen den hohen Säulen. Da tritt eine Gestalt vor, schwingt den Hut – Brausen! Brausen, die Riesenstadt jubelt.

Das rote Gebäude aber liegt tot! Verödet die Korridore. Die Türen stehen alle offen, leer die Zimmer. Verschwunden die Stahlhelme, Gewehrpyramiden und Maschinengewehre. Alles leer, ausgestorben. Nur die großen Ballen sind geblieben, die alle Gänge des weiten Gebäudes überschwemmten. Die Ballen mit den Karten ferner Länder, ferner Provinzen – der Peipussee, der Kongo . . .

Langsam steigt der General die Treppe ins Foyer hinab. Er berührt mit der Hand das Steingeländer, zum erstenmal.

Soeben fährt Schwerdtfeger die graue Limousine aus dem Hof auf die Straße.

»Schnell!« ruft er, mit einer ungeduldigen, respektlosen Kopfbewegung. Die Augen des Generals erweitern sich. Wie? Er hat noch immer nicht begriffen.

Da! Da!

Aber was ist das?

Der General taumelt zurück.

Ein Auto, ein grauer, offener Wagen, rast, fliegt – kein Wort – er schnellt in langen Sätzen über den Asphalt, wie eine startende Flugmaschine hebt er sich in die Höhe, 438 die Funken stieben aus den Pneus. Matrosen! Und es flattert, weht – eine rote Flagge! Verschwunden.

Noch immer taumelt der massige Körper des Generals.

Ja, jetzt hat er begriffen. Die zerbrochenen Gewehre auf dem Pflaster – die Truppen haben sie aus den Fenstern auf die Straße geworfen – das war das unerklärliche Splittern, das er gehört hatte, als zerbrächen dünne Balken. Und der tobende Lärm in der Stadt – jetzt begriff er.

Der greise Portier schloß den Wagenschlag.

Seine weißen Haarsträhnen flatterten im Wind, als die Limousine abfuhr. Er hatte die Mütze abgenommen. Nein, nicht wie der alternde Moltke sah er heute aus, mit seinem Frauengesicht. In seinem abgeschabten Mantel, mit seinem dünnen Hals, seinen weißen, flatternden Haarsträhnen, seinem hohlen Blick erschien er in diesem Augenblick wie ein alter Lämmergeier, wie man sie in den zoologischen Gärten sieht.

Aber weiter, weiter! Schwerdtfeger biegt ab. Eine Mauer von Menschen. Der Motor dröhnt. Die Limousine jagt durch den Tiergarten, weiter, immer weiter. Schwerdtfeger versucht die Tiergartenstraße zu erreichen – unmöglich. Wiederum Züge von Menschen. Rote Flaggen.

 

Schon knattert es in den Straßen!

Hauptmann Wunderlich lehnt sich mit dem Rücken gegen die Hauswand, auf seine beiden Krückstöcke gestützt. Der Rest von Farbe weicht aus seinem zuckenden Gesicht, er stammelt. Verwegen aussehende Matrosen umstehen ihn.

Schüsse knallen in nächster Nähe. Mit schwerem Klatschen stürzt ein Körper zu Boden.

»Schon gut, wir sehen ja! Aber Sie könnten doch Unannehmlichkeiten haben, Herr Hauptmann!«

Und ein Matrose schneidet Hauptmann Wunderlich mit einem langen Messer die Achselstücke ab.

Dies geschah Ecke Linden und Wilhelmstraße. 439

Die Wilhelmstraße lag, wie immer, ruhig. Ruhig und unbeteiligt vor dem Kriege, ruhig und unbeteiligt während des Krieges und auch jetzt – ganz still!

Nur zuweilen öffnete sich eine Türe, vorsichtig, vorsichtig, ein Kopf spähte – und dann eilte jemand mit einer Mappe unter dem Arm rasch die Wilhelmstraße hinab. Gamaschen, Lackschuhe, die Monokel waren in den Westentaschen verschwunden. Manche gingen so rasch, daß sie über die eigenen Füße stolperten. Auch einige Seidenhüte glitten rasch aus den Toren, pomadisierte Scheitel, bis in den Nacken durchgezogen. Ein hagerer Elegant stelzte eilig über die Straße, Perücke, mikroskopisches Schnurrbärtchen unter der Hakennase, ganz kurzes Überzieherchen, er schlenkerte höchst eigentümlich mit dem rechten Knie: vor dem Kriege Botschafter . . .

Auch der Geheime Rat Westphal eilte mit seiner Mappe aus einer Türspalte. Er wagte es nicht einmal, einen Blick in die Richtung der Linden zu werfen. Sein dünner Chinesenbart wehte. Schon war er um die Ecke verschwunden.

Hinter ihm her eilte Professor Salomon – mit dem Kürbiskopf und den abstehenden Ohren. Er hatte den steifen Hut tief über die Glatze gezogen und den Mantelkragen hinaufgestülpt. Er pfiff vor sich hin, tat unbekümmert. Aber fortgesetzt drehte er sich um, dann wagte er sogar ein paar Sprünge . . .

»Kommen Sie, Herr Geheimrat –«

»Ah, Sie sind es! Sie haben mich tödlich erschreckt!«

»Ja, keine Kleinigkeit – wie?«

»Gewiß, keine Kleinigkeit, großer Gott im Himmel!«

»Und ganz überraschend!«

»Ein Blitz aus heiterem Himmel, fürwahr!«

»Trotz mancher Symptome – – da, da! – haben Sie gehört?«

»Ja, ganz in der Nähe! Rasch, rasch! Nichtsahnend 440 komme ich heute morgen ins Amt – wir besprachen gerade in aller Ruhe die politische Lage – England soll geneigt sein, eine wohlwollende Haltung gegen uns – – da – schon wieder!«

»Wir werden versuchen, die Leipziger Straße zu überqueren – kommen Sie. Ob wohl noch Züge fahren?«

»Sie reisen?«

»Ja, aufs Land, auf mein Landgut . . .«

»Ah, wie schnell Sie gehen!«

»Man muß eilen. Jede Minute ist unter Umständen entscheidend für Tod und Leben. Lesen Sie die Geschichte der Revolutionen . . .«

Kreuz und quer jagt Schwerdtfeger. Endlich hält er und reißt die Türe auf: »Rasch, rasch!« Willenlos gehorcht der General – und schon fährt Schwerdtfeger davon.

Ein Zebrakittel! »Bitte, Exzellenz!«

Petersen! Schwerdtfeger hatte ihn vor der roten Backsteinvilla in der Lessingallee abgesetzt, weil er nicht weiter konnte.

Der General zögerte. Aber auch in der Lessingallee Trupps von Menschen, die im Sturmschritt dahineilten.

Er trat ein – beschämt. Taumelnd tastete er sich vorwärts. Petersen mußte an den Hauptmann denken, der immerfort sagte: Ach, wie dunkel es ist – ich sehe etwas schlecht . . .

»Ich werde nicht lange stören, Petersen«, stammelte der General. »Nur einen Augenblick – wir kamen nicht weiter.«

»Gnädige Frau werden sehr bedauern –.«

Immerhin, ein Glücksfall an diesem Tage! Dora war nicht hier. Der General atmete auf.

»Gnädige Frau reiste gestern ab – nach Pommern, aufs Land, zu einer Familie Olsen. Bitte Exzellenz Platz zu nehmen, ich werde sofort ein Glas Wasser bringen.«

»Olsen, sagten Sie?«

»Ja, Olsen. Darf ich nun bitten – eine Sekunde – Exzellenz sind ganz blaß geworden . . .« 441

»Und Hauptmann v. Dönhoff?«

Petersen tat erstaunt.

»Er wohnt schon seit einiger Zeit nicht mehr hier. Er verließ uns, mitten in der Nacht. Aber gnädige Frau werden sehr bedauern –.«

Am Nachmittag verließ ein Gutsbesitzer die rote Backsteinvilla in der Lessingallee. Oder auch ein Jäger, wie man will, dem Äußern nach jedenfalls eine Persönlichkeit aus der Provinz, die in Berlin von der Revolution überrascht worden war. Dieser Gutsbesitzer trug einen nach Kampfer riechenden, kurzen, altmodischen Jagdrock aus braunem Tuch, mit großen Taschen, schweren Lederknöpfen, und einem schmalen, schon etwas abgeschabten Pelzkragen. Ferner einen weichen, olivgrünen Hut, mit einer krummen Hahnenfeder hinten, wie Jäger ihn tragen.

Kaum hatte der Gutsbesitzer die Villa verlassen, so verschloß Petersen die Haustüre und ließ sämtliche Rolläden herab.

Immer noch blendete und funkelte die Sonne am wolkenlosen Himmel. Der Himmel selbst strahlte Verheißung.

 


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