Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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3.

Nacht.

Riesengroß steht Ackermanns Geist über der dunkeln, schweigenden Stadt. Sein Leib sind die Sterne, sein Haupt sind die Sterne, seine Augen sind die Sterne. Seine Hände sind die Sterne. Schon kommt ein kaltes Gefunkel aus dem Osten.

Die Riesenstadt schläft, bedeckt mit dünnen Nebelschleiern ihre Dächer und Türme.

»Auf, auf, der Tag ist gekommen!« Die Stimme schallt und die schlafende Stadt erbebt. »Auf, auf, mein Volk! Die Sterne funkeln! Erhebe dich unter den 431 Völkern der Erde und gehe voran auf dem Weg der Läuterung!«

Die Sterne erblassen. Aus dem Osten bläst kaltes Licht, die Nebel senken sich dicht auf Dächer und Türme. Lieblich säuselt der Morgenwind.

Und schon erheben sich die Schläfer! In Trupps, in Scharen. Der gleißende Lichtgürtel, der die Riesenstadt umspannt, erlischt. Schatten, geballt, beginnen zu wandern. In den dunkeln Vorstädten erhellen sich die Fenster. Schritte schlürfen, sammeln sich, Schatten, geballt, beginnen zu wandern. Vom Süden, vom Norden, von überall her beginnen die Schatten, geballt zu wandern. Hunderttausende von Schritten sind unterwegs.

Die Morgenröte funkelt. Da beginnt die Schattenstadt zu glühen.


Endlich – ja, Gott sei Dank! – trillerte die Marspfeife wieder, und die graue Limousine fegt durch die kühle, sonnige Herbstluft dahin. Die Fußgänger entfliehen, rechtzeitig bringen sich die Straßenkehrer in Sicherheit. In einer wunderbaren Kurve, unübertrefflich, wirft Schwerdtfeger die Limousine um eine auf der Straße stehengebliebene Karre voll Straßenschmutz herum.

Die Augen des Generals sind wieder nachdenklich und konzentriert auf den gekrümmten Rücken Schwerdtfegers geheftet. Immer noch etwas gelb, etwas müde, die Backen etwas zittrig und schlaff, die Tränensäcke etwas geschwollen, aber man kann zurzeit nicht allzu große Rücksicht auf sich nehmen. Es bereiten sich Dinge vor, jeder an seinem Posten!

Die Marspfeife schrillt – vor Schreck fällt ein altes Droschkenpferd in Galopp. Plötzlich aber: Fußbremse, Handbremse, die Limousine schleift – halt!

Musik. Ein Jägerbataillon zieht mit klingendem Spiel vorbei, den Linden zu – rot die jungen Gesichter in der 432 Morgensonne, Stahlhelme, die Haltung wundervoll. Der General beachtet jede Kleinigkeit. Nicht ein Tadel! Er fühlt sich beruhigt. Gerüchte schwirren in der Stadt – aber welche Narren! Ein Blick auf die Karte Berlins genügt ja: einige Brücken, Kanäle, Straßen besetzt – und mit zwei Dutzend Maschinengewehren war die Stadt gegen Hunderttausende zu halten. Nur Laien . . . Herrlich Offiziere und Mannschaften – junge Burschen, kaum den Knabenjahren entwachsen – ja, obschon er die Gerüchte nicht eben tragisch genommen hatte, fühlte er sich durch den Anblick dieses Jägerbataillons beruhigt.

An den Straßenkreuzungen standen Doppelposten, den Gürtel mit Handgranaten gespickt. Eine Batterie fuhr dahin, langsam und gemächlich, als käme sie von einer Schießübung zurück. Die Offiziere waren durch Befehl zusammengerufen. Im übrigen hatte der Oberbefehlshaber in den Marken ungesetzliche Zusammenschlüsse, die die öffentliche Sicherheit gefährdeten, auf Grund des Paragraphen 9b in feierlicher Proklamation strengstens verboten.

Auch das rote Amtsgebäude des Generals war in Verteidigungszustand gesetzt. Stahlhelme wimmelten in allen Stockwerken. Offiziere standen an den Fenstern. Ein schweres Maschinengewehr war im Foyer postiert. Nun, es war selbstverständlich Pflicht des Kommandanten, keine Vorsichtsmaßregel außer acht zu lassen.

Der alte Portier mit den weißen Haarsträhnen und den Blechmünzen auf dem Mantel trat absichtlich einen Schritt weiter vor, er verbeugte sich tiefer als sonst. Sein altes Frauengesicht war von Freude erhellt. Seine tiefe Verbeugung drückte – soweit die Stellung des Untergebenen es zuließ – die Genugtuung aus, Seine Exzellenz wiederhergestellt zu sehen, sie beglückwünschte zur Genesung.

»Exzellenz!« schlürfte er, und der Speichel rann über sein Kinn.

Aber der General sah den alten Portier gar nicht. Doppelt 433 ernst, doppelt gesammelt durchschritt er das Foyer. Er bemerkte auch nicht die immerhin auffallenden Verteidigungsmaßregeln. Er sah nicht die Stahlhelme, die Offiziere, die zu Statuen erstarrten, das schwere Maschinengewehr – wie früher, in den alten Tagen, stieg er die Treppe empor. Nur etwas langsamer.

Stahlhelme in den Korridoren, Offiziere, Gewehrpyramiden – aber der General sah sie nicht. Nachdenklich verschwand er hinter der gepolsterten Doppeltüre mit den Aufschriften: »Vortrag. Kein Zutritt. Anmeldung Zimmer 6.«

Aber schon dicht hinter der gepolsterten Türe war er gezwungen, stehenzubleiben, seine Knie zitterten – solche Anstrengung hatten ihm die paar Treppen und Korridore bereitet.

Das alte Herz erwärmt, vollkommen beruhigt, kehrte der Portier in seine Loge zurück.

»Ganz wie Anno Siebzig!« dachte er. »Als wir alle Angst hatten, gefangengenommen zu werden – und unser General sagte nur: Junge Hunde! Ja, nichts sonst. So ist es auch heute. Man braucht nur in sein Gesicht zu sehen. Keine Besorgnis, nicht die geringste – ehek, ehek!«

 

Horch! Schritte.

Horch! Rufe.

Fäuste pochen an die Tore der düstern Kasernen.

Öffnet Kameraden!

Öffnet – wir sind es . . .

Jubel!

Und die Tore der Kasernen öffnen sich: der böse Geist der düstern Gebäude entweicht. Ein Toter liegt still auf dem Bürgersteig, mit einem Mantel zugedeckt.

Die Morgensonne blendet durch die Straßen. Funkelnd steigt die Sonne des 9. November über Berlin empor. 434

Horch! Die Stadt erbebt unter dem Tritt von Hunderttausenden. Über den tausend Köpfen schwankt ein Plakat: Nicht schießen, Kameraden!

 

Immer noch etwas zitternd von der Anstrengung des Treppensteigens saß der General an seinem riesigen Schreibtisch, in die Arbeit vertieft. Akten, Schriftstücke, er sah nicht auf. Die Fenster waren geschlossen, die blauen Vorhänge dicht zugezogen, es war nahezu dunkel. Unfaßbar, welche Unmenge von Arbeit sich angehäuft hatte! Ganz wie früher, vor seiner Erkrankung, als sei alles noch wie ehedem, arbeitete der General. Er versuchte es sogar mit einer Zigarre, ließ sie aber bald wieder ausgehen. Die Schriftstücke flatterten in seinen Händen.

Weißbach trat ein und erstattete Vortrag. In der Stadt bis jetzt alles ruhig. Nach ihm erschien der hünenhafte Major Wolff in der Türe, mit einer dicken Mappe: Entscheidungen, die der Vertreter des Generals nicht zu treffen gewagt hatte.

Auf jeden einzelnen Fall ging der General ausführlich ein, er verlor sich in Einzelheiten. Hier mußte nochmals erinnert werden, hier empfahl es sich, dringlich zu werden, hier war telegraphisch die Entscheidung der höchsten Stelle zu erbitten. Major Wolff notierte. Diese Angelegenheit aber wollte der General persönlich erledigen. Das Befinden? Ja, danke – um vieles besser, man kann wieder anfangen!

Wieder war der General allein, in seine Arbeit vertieft. Die Schriftstücke wehten in seinen Händen. Kein Laut, nicht ein einziger Laut!

Auf den Korridoren die Truppen, an allen Fenstern Stahlhelme, an den Eingängen schwere Maschinengewehre mit Munitionskästen. Das Amt eine Festung, die nur mit Geschützen genommen werden konnte.

Fröhlichkeit und Gelächter bei den Drillichkitteln in 435 den Schreibstuben. Laßt sie klingeln, mögen sie ruhig klingeln!

Das Telephon.

»Ruhe, Kameraden!«

»Die Maikäfer haben soeben Rot gehißt!«

»Hurra!«

Laßt sie klingeln, ruhig klingeln. Gelächter, Lärm.

Aber in dem großen Arbeitssaal des Generals, hinter den Doppeltüren, den Doppelfenstern, den zugezogenen Vorhängen – kein Laut. Die Feder, das leichte Keuchen und Rasseln beim Atemholen, nichts sonst.

Wieder tritt Weißbach ein. Seine Sporen klingen, der General sieht auf. Er erschrickt: ein Gesicht aus Kreide, mit blauen Lippen. Der Fernspruch flattert in Weißbachs Hand.

Und der General erhebt sich.

Sein gelbes Gesicht wird fleckig, seine schlaffen Backen zittern. Das breite Gesicht wird langsam grau, grau wie der Staub der Landstraße.

Er neigt den Kopf. »Danke.«

Die Sporen singen, lautlos schließt sich die Türe.

Immer noch steht der General, den Blick auf das Parkett geheftet. Auch seine Hände sind grau geworden.

»Entflohen –.«

Ja, er sieht – plötzlich, merkwürdig genug! – Tribünen, schwarz von Menschen, elegante Wagen fahren heran, Damen, Orden glitzern, Federbüsche wehen. Fremdländische Uniformen, Glanz, Pracht – und die Truppen ziehen vorbei – endlos. Die Musikkapellen schwenken ein und, gleichmäßig wie die Wellen der Brandung, rauschen die Regimenter in tadelloser Haltung vorbei. Und hinten, weit hinten stehen sie auf dem Feld, unübersehbar, anzusehen wie farbige Beete eines unendlichen Blumengartens – und alle Augen sind auf den Mann zu Pferd gerichtet – alle. Eine Frühjahrsparade. 436

»Entflohen –.«

»Desertiert –!«

Da beginnt das Parkett zu kreisen, die Wände schwingen. Die Vorhänge flattern und verschwinden. Nebel kreist, in endlosem, kreisendem Nebel steht das graue Steingesicht und zittert. Die grauen Finger klammern sich an den Schreibtisch.

Stille. Er steht allein, inmitten der Unendlichkeit, ein Punkt im Nichts, ein Pünktchen, das immer kleiner wird, schrumpft.

Aber da – hörst du: Lärm, Brausen, Schritte wie von Hunderttausenden, Rufe, Gesang –.

Allmählich, ganz allmählich kehrt das Bewußtsein des Generals aus dem schauerlichen Sturz in das unendliche Nichts zurück. Er lauscht. Ein Schritt mahlt, drunten, tausendfältig. Brausen umtost das stille, rote Gebäude, hunderttausendfältig. Er vermeidet es, ans Fenster zu treten, es wäre seiner unwürdig. Aber sein Herz pocht in höchster Erregung. Jeden Augenblick können die Maschinengewehre hämmern – jede Sekunde – da! Rufe, Tosen, ein unerklärliches Splittern, als ob dünne Balken, Bretter zerbrächen. Was ist das? Nichts. Die Rufe entfernen sich, der Tritt der Hunderttausend, unter dem das rote Backsteingebäude erzitterte, entfernt sich. Wieder Stille. Gott sei Dank, ohne Blutvergießen. Die Masse war vernünftig.

Aber diese Luft erstickt. Sie ist Blei, Eisen, sie lastet auf den Händen wie Gewichte.

Da erschien wiederum Weißbach in der Türe. Noch weißer sein Gesicht.

Der General richtete sich auf. Breitbeinig stand er mitten im Zimmer, die Füße auf das Parkett gepreßt, um nicht zu fallen.

Mit einem Blick ühersah er alles!

Die Türen standen offen – alles leer. Leer die Flucht 437 der Arbeitszimmer der Offiziere – keine Seele mehr. Uniformröcke auf Stühlen und Schreibtischen. Weißbachs kreidiges Gesicht – und Weißbach trug Zivil . . .

Die Wände biegen sich, wölben sich, schon stürzen sie über ihn –.

»Es ist Zeit, Herr General!«

 


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