Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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3.

Langsam wandelte der General den endlosen Korridor entlang. Diesen Korridor liebte er, und so oft er ihn entlang ging, empfand er ein sonderbares Behagen, obschon dieser Korridor genau so häßlich, kahl und übelriechend war wie alle Korridore des riesigen Amtsgebäudes. Aber in etwas unterschied er sich von den andern Korridoren: er vibrierte unaufhörlich von den Maschinen, die im Erdgeschoß arbeiteten. Sie erfüllten den kahlen Gang mit ihrer Energie. 102

Wie täglich, wie stündlich, blieben die Ordonnanzen und Schreiber gegen die Wand gedrückt stehen, sobald der General in ihre Nähe kam. Sie wandten den Blick nicht von seiner verschlossenen Miene, bis er vorüber war. Und selbst dann blickten sie ihm noch eine geraume Weile nach. Jetzt erst setzten sie sich, den Kopf ruckweise zurechtdrehend, wieder in Bewegung. Die Offiziere, die das Unglück hatten, zufällig über den Korridor zu gehen, blieben stehen und machten ihre respektvolle Verbeugung. Und der General hob den Finger an den Mützenrand, wie täglich, wie stündlich, ohne die Menschen, die vor ihm zurückwichen, anzusehen. Sein Blick war zu Boden gerichtet, auf die Steinfliesen, die abgeschliffen waren von den genagelten Soldatenstiefeln. Es sah aus, als ob die ganze Last der Kriegführung auf seinen Schultern ruhte.

Unter den Steinfliesen arbeiteten die Druckereien. Tag und Nacht schleuderten die Rotationsmaschinen Stöße von Kartenblättern heraus, die, zu großen, nach Leim und frischer Farbe riechenden Stapeln gehäuft, nach und nach sämtliche Korridore des weiten Gebäudes überschwemmten. Es waren Karten von allen denkbaren und undenkbaren Ländern, vom Eismeer bis zum Äquator – soweit die scharfen Augen der Generale blickten.

Aus diesen Kartenstapeln strömten Inspirationen. So sah der General in diesem Augenblick, ohne jede bewußte Ideenverbindung, deutlich den Pcipussee vor sich und die strategische Grenzlinie Deutschlands im Osten, die schon sein großer Lehrmeister Moltke gezogen hatte. – Übrigens, kurios, der Portier, dieser alte Veteran, er sah dem alternden Moltke etwas ähnlich, natürlich nur ganz entfernt, soweit ein aus dem Unteroffizierstande hervorgegangener Beamter überhaupt einem Heerführer ähnlich sehen kann. – Diese Linie, ja, und im Norden mußte ein erstarktes Finnland, fest an Deutschland geknüpft, der 103 Verbündete werden: mit der Pistole an der Schläfe mußte Rußland in den Frieden hineingehen.

Ein Glück nur, daß dieses elende Diplomatenmachwerk von Brest-Litowsk nur ein Provisorium war . . .

Plötzlich wurde die strategische Ostlinie, die scharf wie der Schnitt eines Rasiermessers vom Pcipussee südlich führte, durch irgendetwas gestört. Was war es doch? Ein weiter, grauer Soldatenmantel flatterte durch sie hindurch!

Da war er also wieder, seht an . . .

Seit Wochen schon war ihm dieser Mantel aufgefallen, und zwar nur, weil er so merkwürdig flatterte, wie kein Mantel sonst. Obschon er immer nur – ein sonderbarer Zufall – einen Zipfel dieses Mantels verschwinden sah, konnte er doch feststellen, daß es der Mantel eines gemeinen Soldaten war, der nachlässig, unsoldatisch, mit einem Wort vorschriftswidrig getragen wurde. In besonderen Stimmungen hatte er in dem Flattern dieses Mantels sogar etwas Herausforderndes erblickt – eines jener Symptome des Abbröckelns der Disziplin, gegen das er in ungezählten Tagesbefehlen ankämpfte – schon an der Front, was ihm von gewissen Seiten wieder übel vermerkt wurde.

Diesmal aber lief ihm der Mantel direkt in die Hände, er konnte ihm nicht entgehen.

Der Soldat kam näher, und nun, da er den Schritt verlangsamte, sah der General, daß er das eine Bein etwas nachschleppte. Der weite Mantel stand an der Wand still, wie alles, was sich hier bewegte, wenn der General in Sicht kam.

Der General sah einen einfachen Soldaten von etwa fünfundzwanzig Jahren vor sich stehen, mittelgroß, breitschulterig, mit schlichten, für sein Alter auffallend ernsten Zügen. Was dem General aber besonders an dem Gesicht auffiel, das waren die Augen. Sie waren braun und außerordentlich sanft. Es waren die sanftesten 104 Männeraugen, die der General jemals gesehen hatte. Und der ganze Bursche, bleich und schlecht genährt, wie die meisten Ordonnanzen und Schreiber, die sich im Amtsgebäude herumtrieben, der ganze Bursche machte einen ebenso sanften und versöhnlichen Eindruck. Nur seine schwarzen Haare waren etwas zu lang und standen unter der Mütze vor. Die Haltung dieses Mannes war ohne jeden Tadel. Indessen, es lag etwas in dem Ausdruck seines Gesichts – ja, wie soll man sagen? In den warmen, braunen Augen schimmerte – oder täuschte er sich – ein unmerkliches Lächeln, und dieses unmerkliche Lächeln lag trotz dem Ernst auch auf dem etwas bleichen Gesicht.

Der General betrachtete das Gesicht in aller Ruhe – so wie man eine Schnitzerei betrachtet. Aber dieser Mann kam nicht in Verlegenheit, wurde nicht unsicher, der Ausdruck seiner Augen änderte sich nicht, seine Lider bewegten sich nicht rascher. Er blieb gleichmäßig ruhig und gleichgültig.

Dieser Mann hatte offenbar keine Angst, von einem hohen Vorgesetzten gemustert zu werden, ruhig erwiderte sein Blick den des Generals – keine Angst, nicht die geringste.

Hm!

Übrigens hatte der General dieses Gesicht schon irgendwo und irgendwann gesehen, obgleich er sicher war, ihm nie im Leben begegnet zu sein. Es war ein Gesicht, wie man es auf alten Bildern sah – ein Gesicht aus vergangenen Epochen sozusagen. Auf alten Gemälden und Stichen, von Mönchen, Poeten und sonstigen Schwärmern.

Nun stieg eine leichte Röte unter der blassen Haut des Gesichts empor.

Rasch wie Hammerschläge fielen Fragen und Antworten.

»Wie heißen Sie?« – »Ackermann.«

»Was sind Sie?« – »Hilfsschreiber!«

»Zivilberuf?« – »Student!«

»Wo verwundet?« – »An der Somme!« 105

Unvermittelt nahm die Stimme des Generals einen strengen Ton an.

»Wenn Sie auch Student sind, so können Sie doch Ihren Mantel vorschriftsmäßig zuknöpfen!«

Die Hände des Soldaten fuhren nach den Mantelknöpfen.

»Nachher, mein Sohn«, sagte der General wieder milder und ging.

Schon verschwand er in der grüngepolsterten Doppeltüre.

 

Etwas unsicher machte Hauptmann Weißbach, der Adjutant, seine Meldung. Ottos verletzte Hand war soeben geröntgt worden. In wenigen Wochen dürfte Otto wieder völlig hergestellt sein.

»Also, der Arzt befürchtet nicht, daß seine Karriere dadurch beeinflußt werden könnte?«

Weißbach erblickte seinen Gebieter durch eine Art Nebel in Überlebensgröße. Er hatte die Empfindung, Wolken von Alkohol auszuströmen. Wenn man ihm mit einem Streichholz zu nahe kam – um Gottes willen, seien Sie vorsichtig! – so würde er lichterloh in Flammen stehen, augenblicklich – diese etwas peinliche Empfindung hatte der Adjutant. Ganz abgesehen davon konnte jeden Augenblick der Parkettboden unter seinen Füßen einbrechen und er im Keller landen, bei den Rotationsmaschinen, die Tag und Nacht Karten aller Herren Länder ausspien.

Vor knapp einer halben Stunde war er von Ströbel gekommen. Ströbels Herrenabende – die Saharet zählte gar nicht – pflegten sich stets bis zum Morgen auszudehnen. Punkt acht Uhr wurde die letzte Bank abgezogen. Dann badete man, rasierte sich und frühstückte. Herrlichen Mokka gab es bei Ströbel, Brötchen mit Butter – einfach alles. Zuletzt noch einen Kognak – und dann los! Ottos Unfall war telephonisch gemeldet worden. Augenblicklich hatte Weißbach. so wie es sich für einen Adjutanten gehörte, 106 seine »Maßnahmen ergriffen«. Alles telephonisch. Er wollte ins Lazarett fahren, sobald eine Minute Zeit war. Er wußte, was man von ihm forderte –

Der General befahl mit Ottos Regimentskommandeur im Felde verbunden zu werden – und dann: wenn Anmeldungen vorliegen?

»Der Herr von der Presse.«

»Ich bitte!« Die Verblüffung warf Weißbach nahezu zu Boden.

Seit einer Woche bereits antichambrierte dieser Herr von der Presse, und Weißbach wagte kaum noch, ihn zu melden. Der General verachtete alles, was mit diesem Gewerbe zu tun hatte – all diese entgleisten Studenten, Gelehrten und Schriftsteller, die die Anmaßung besaßen, die öffentliche Meinung machen zu wollen.

Die hohen Bogenfenster spiegelten sich im gewichsten Parkett, der breite Goldrahmen des großen Kaiserbildes an der Wand glänzte. Sonst war der Arbeitssaal Leere und Kahlheit, bewohnt einzig und allein von Seiner Majestät, mit dem Marschallstab und der von Orden, Kreuzen, Sternen, Tressen und Schnüren funkelnden Brust.

Von tiefem, feierlichem Blau waren die langen, schmalen Vorhänge an den hohen Bogenfenstern, silbergrau die Wände – zuweilen wichen sie zurück, wenn der General arbeitete – in weite Fernen, und es schien ihm dann, als säße er in einem endlosen Nebel.

Der General heftete den Blick auf das Kaiserbild – täglich tauschte er Blicke mit seinem obersten Herrn. Aber die Augen des Soldaten im weiten Mantel erschienen vor seinen Blicken: sonderbare Augen, in der Tat – genau wie auf den alten Ölgemälden –

Schon trat der Herr von der Presse ein – mit einem feierlichen Bückling, bis zum Parkett. Ein warmer Unterton in der Stimme des Generals ermutigte ihn näher zu treten. 107

Weißbach unterbrach die Unterhaltung.

»Das Regiment«, meldete er. »Befehlen Herr General das Gespräch hier hereinzulegen?«

»Ich bitte – es wird wohl nicht stören?« Der Herr von der Presse wußte das außergewöhnliche Vertrauen zu schätzen.

Und der General begann in das Telephon zu schreien: »– schon unterrichtet – jawohl – eine Abschiedsfeier, Herr Oberst, die bis morgens um sechs Uhr dauerte –« Und nun lauschte der General und verbeugte sich am Telephon. Der Regimentskommandeur drückte die Hoffnung aus, seinen tapfersten Offizier bald wiederzusehen. Er sagte ausdrücklich: tapfersten – hier verbeugte sich der General – und wieder heulte der General in das Telephon. »Stimmung ausgezeichnet, sagen Sie – prächtige Laune – Zuversicht – es wird ja wohl bald wieder vorwärtsgehen –« und wieder lachte der General in das Telephon.

»Sie verzeihen die Unterbrechung. Meinem Sohn ist ein kleines Malheur zugestoßen. Beim Einpacken, er sollte heute zum Regiment zurück, klemmt sich der Revolver, und plötzlich geht er los –«

Auf den Zügen des Pressevertreters malten sich äußerster Schrecken und tiefste Anteilnahme.

Untadelig glänzte das Wappenschild der Hecht-Babenberg durch die Jahrhunderte. Gerade dieses Wappenschildes wegen deckte der General seinen Sohn mit dem eigenen Leibe. Wenn man auch voraussetzen sollte, daß vor dem Namen Hecht-Babenberg die Zungen unverantwortlicher Schwätzer verstummten, so wimmelte dieses Berlin doch von Neidern und Verleumdern – er selbst konnte ja ein Lied davon singen – denen selbst das fleckenlose Wappenschild der Hecht-Babenberg nicht heilig sein würde . . .

Der Dienst verschlang die Zeit, und im Augenblick war es Mittag geworden. Punkt ein Uhr raste die graue Limousine davon, um erst vor Stifters Diele, Unter den Linden, anzuhalten. 108

 


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