Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

7.

Die Geschichte wird entscheiden, dachte der General, wie immer, wenn er die Kämpfe um Quatre vents in seinem Geiste vorüberziehen ließ. Aber er täuschte sich. Die Geschichte wird nicht entscheiden, sie hat etwas Besseres zu 189 tun. Die Geschichte wird diese Höhe ganz einfach vergessen. Die Höhe von Quatre vents war strategisch gänzlich belanglos. Drei Kilometer rückwärts lag eine zweite, viel stärkere Höhe, durch einen Flußlauf vor der Unterminierung geschützt. Die Lage von Quatre vents war sogar ungünstig. Sie konnte jederzeit abgeschnürt werden, wie es später auch geschah, sie lag offen vor den feindlichen Geschützen, und ihre Zugänge wurden vom feindlichen Feuer bestrichen. Der General aber hielt Quatre vents für einen Angelpunkt der Westfront.

Sonderbarerweise aber, auch der französische General gegenüber, ein französischer Hecht-Babenberg, auch er hielt die Höhe für einen Angelpunkt der Westfront! Unaufhörlich schickte er seine Schwarzen vor. Tausende und Abertausende von dunkelhäutigen Kadavern verpesteten monatelang die Luft, bis die gütige Erde, die keinen Unterschied macht zwischen Schwarz und Weiß, sie in sich schluckte. Trotz ungeheurer Verluste sappte sich der Franzose eigensinnig heran, und endlich lag man sich an einzelnen Stellen kaum fünf Meter entfernt gegenüber. Ein Räuspern bedeutete den Tod. Nun erst begann der eigentliche Kampf um die Kuppe.

Man unterminierte gegenseitig die Stellungen und sprengte die Gräben einfach in die Luft. Als der General eines Tages gerade badete, meldete man ihm, daß eine ganze Kompanie in die Luft geflogen sei. Furchtbarer Morgen! Zuweilen kämpfte man sogar mit Messern und Handgranaten in den finsteren Stollen unter der Erde.

Wie die Rasenden bekämpften einander die beiden Generale, die fünfzehn bis zwanzig Kilometer hinter dem Teufelsberg, umgeben von Stabsoffizieren, Telephonapparaten, Ordonnanzen, Köchen und bombensicheren Unterständen in ihren Schlössern hausten.

Frankreich erwartet, daß ihr die Trikolore auf der Höhe aufpflanzt!

Die Höhe ist und bleibt in deutscher Hand! Nur über 190 unsere Leichen, Kameraden . . . Ja, Kameraden pflegte der General seine Soldaten in derartigen Befehlen zu nennen. Von Zeit zu Zeit verteilte er mit feierlichen Ansprachen Eiserne Kreuze.

Schließlich glaubten die Soldaten auf beiden Seiten tatsächlich, daß sie um den Angelpunkt der Westfront rangen.

Auf diese Weise entstand der zwölfstöckige Friedhof von Quatre vents. –

Herr Herbst keuchte. Seine entzündeten Augen füllten sich mit Tränen. Zuerst verschwand der kleine Erdgang, dann die Baumstrunke, dann die wilden erstarrten Schmutzwogen – aber das schreckliche Bild hatte sich für immer in seine Seele eingegraben. Um ein Haar wäre eine Träne auf die kostbare Aufnahme, die der General sich einrahmen lassen wollte – er kam bis jetzt nur noch nicht dazu – eine Träne getropft, aber der General hatte das Bild noch rechtzeitig fortgenommen.

Hier also – vielleicht war er durch diesen schmalen Erdgang geschritten –? War es möglich, daß er zwischen diesen fürchterlichen Erdwogen um sein Leben kämpfte? War es möglich, daß zwischen diesen Erdwogen, diesen schrecklichen, sein Todesschrei verhallte? Wie?

Wie? Wie?

War es möglich, daß ein Mensch geboren wurde, um hier zu enden?

Herr Herbst zitterte vor Entsetzen. Allein das Bild dieser Höhe erfüllte ihn mit schrecklichem Grauen.

Er taumelte und rang nach Luft.

»Hier also –?« stammelte er.

»Es waren sehr schwere Kämpfe!« sagte der General beruhigend.

»Und – sein Grab, hier –?« Die Augen Herbsts waren plötzlich starr und entgeistert auf den General gerichtet.

»Wie beliebt?«

»Aber – vielleicht – ist er gar nicht begraben worden?« 191 schrie er mit schriller Stimme und rang verzweifelt die Hände. Ja, nun verstand er alles . . .

Alles!

Wie sollte ein Toter Ruhe finden zwischen diesen entsetzlichen Wogenbergen? Wie sollte –!

Der General runzelte die Stirn. Aus purem Mitleid hatte er sich mit diesem alten Mann abgegeben. Nur um überhaupt ein Gesprächsthema zu schaffen, hatte er ihm die Photographie gezeigt. Die Stätte, wo sein Sohn gekämpft hatte, konnte wohl sein Interesse finden. So unerhört es war, daß ein ixbeliebiger Beamter aus der Provinz, ohne viele Umstände seine Karte bei ihm abgab, zu ungewöhnlicher Stunde, in einem geradezu skandalösen Anzug, hatte er doch den Umständen eine Konzession gemacht und Nachsicht geübt. Nun aber sah er sich veranlaßt, sich wegen seines allzu großen Entgegenkommens Vorwürfe zu machen.

Der Gesichtsausdruck des kleinen alten Mannes erschreckte ihn. Es war ja nicht unmöglich, daß dieser merkwürdige, völlig unberechenbare alte Mann –

Erschreckend ähnlich war sein Gesicht dem Traumgesicht geworden, das durch die Scheiben starrte, als es pickte . . .

»Es waren außerordentlich schwere Kämpfe – es ist natürlich gänzlich unmöglich für einen Laien, sich ein Bild zu machen. Zumal, da Sie ja die Verhältnisse an der Front nicht kennen.« Einen letzten Versuch machte der General, den kleinen alten Mann zu beruhigen.

Verstört, entgeistert schwankte Herr Herbst auf seinen dünnen Beinen.

»Sie haben also den Befehl gegeben? Und dann mußte er – da hinauf –?« fragte er mit pfeifender Stimme.

Betreten richtete sich der General auf. Drohung ging plötzlich von diesem verzerrten, kalkweißen Gesicht aus.

»Was soll diese Frage?« rief er, und schon funkelten seine 192 Augen. Seine Geduld war zu Ende. Genug mit diesem Burschen!

Aber plötzlich funkelten auch die Augen des kleinen Herrn Herbst, schneeweiß glitzerten sie. Haß glitzerte aus ihnen, Haß, unergründlich.

Er warf die Hände in die Luft, mit einer wilden, erschreckenden Bewegung, und schleuderte dem General ein fürchterliches Wort entgegen.

»Mörder!«

Der General wich zurück und erbleichte.

Aber der kleine alte Mann schwang wieder die Hände, und abermals schrie er: »Mörder! Mörder!«

Schon aber trat ihm der General mit breiter Brust entgegen. »Hinaus!« rief er. »Hinaus – augenblicklich – oder –!«

Plötzlich, ganz unvermutet, war der kleine alte Mann in die Knie gesunken und hatte die Hand des Generals ergriffen, alles in einer Sekunde.

»Verzeihung, Exzellenz!« stammelte er. »Verzeihung – ich – ich bin –«

»Ich bin – betrunken . . .«

Ja, in dieser Sekunde fühlte er, daß er betrunken war. Sonst empfand er nichts mehr. Es war ihm klar, der Rausch war zum Durchbruch gekommen, plötzlich, der Alkohol, sein Teufel, hatte ihm ein Bein gestellt. Er wollte all das gar nicht sagen, wollte – ja, was wollte er eigentlich – aber er hatte nie und nimmer beabsichtigt, so etwas zu sagen. Wie konnte er, er machte Besuch –

Der General aber begriff in diesem Augenblick etwas ganz anderes. Dieser alte Mann war vielleicht betrunken, möglich, aber er war etwas ganz anderes – er war geistesgestört. Einen Geistesgestörten hatte er vor sich! Alles erklärte sich nun, der Brief, der ungewöhnliche Besuch, sein Gebaren. Ein bedauerlicher Geistesgestörter, das war dieser alte Mann. Es würde sich nunmehr darum handeln, 193 ihn möglichst rasch und, ohne Aufsehen zu erregen, loszuwerden.

»Sie sind erregt – begreiflicherweise – stehen Sie auf –« sagte er, um seinen unheimlichen Gast zu besänftigen.

»Erst wenn Sie verzeihen«, rief Herr Herbst, während die Tränen aus seinen Augen sprangen.

»Ich verzeihe Ihnen, natürlich –.«

Sofort erhob sich der alte Mann.

»Es ist ja begreiflich, daß Sie erregt sind«, fuhr der General fort. »Wir haben alle in diesen Jahren Schreckliches erlebt. Aber ich muß jetzt bitten, ich habe dringend zu arbeiten . . .«

»Bitte zu entschuldigen . . .«

Anscheinend völlig beruhigt nahm Herr Herbst den Zylinder in die Hand. »Ich bitte zu entschuldigen, Euer Exzellenz – die Störung.«

Aber er blieb an der Türe stehen, hob das noch von Tränen glänzende Gesicht, und wieder nahmen seine entzündeten Augen einen eigentümlichen Ausdruck an. Wieder begannen sie zu glitzern.

Jedenfalls – – er blieb stehen – obschon ihn der General mit einer kleinen stummen Verbeugung entlassen hatte. Der Ausdruck seiner Augen war unerklärlich. Spott lag darin – oder – war es nicht Spott?

Er wartete auf irgend etwas.

 

Der General, der schon die Absicht ausdrückte, sich am Schreibtisch niederzulassen, wandte den Kopf. Offenbar, dieser Mann hatte noch etwas auf dem Herzen, und er würde nicht gehen, bevor er von dieser Last befreit war.

Plötzlich erriet der General. Diese geheimnisvollen Andeutungen in seinem Brief! Diese anfangs völlig unverständliche Anspielung, die plötzlich einen gewissen Sinn zu bekommen schien. Es war ja sogar möglich, daß dieser Geisteskranke tatsächlich im Besitz eines Geheimnisses war. 194

»Sie wollten mir –« begann der General erneut, etwas betreten, indem er sich voll gegen Herrn Herbst wandte – »Sie schrieben seinerzeit etwas von meiner Tochter – irgend etwas, ich erinnere mich nicht mehr –?« Der General stockte.

»Das gnädige Fräulein –?« Es war der gleiche Ausdruck, den er in seinem Brief anwandte.

Der General hatte richtig geraten. Herr Herbst hatte tatsächlich auf diese Frage gewartet – aber nicht um sie zu beantworten!

Der Ausdruck in seinen Augen, dieser Schimmer von Spott steigerte sich zum Hohn. Er legte den Kopf auf die Schulter, lächelte . . . höhnisch, triumphierend, wieder wurden die gelben Zahnstumpen sichtbar. Er fing sogar an, leise zu lachen.

»Ich wüßte nicht, Exzellenz . . .«

»Guten Abend!« sagte der General kurz. Und mit einer spöttischen Verbeugung verabschiedete sich Herr Herbst.

Kaum hatte er das Haus verlassen, so fegte ein Donnerwetter durch die Diele.

 


 << zurück weiter >>