Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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4.

Ohne Laut, fast ohne jede Bewegung, arbeitete der General, vergraben in den Berg von Akten, den man auf dem Schreibtisch aufgehäuft hatte.

Die eisige Stille, die von ihm ausging, drang durch die Poren der Steine und Fasern der Türen, verbreitete sich durch Zimmer und Korridore und erfüllte zuletzt das ganze Gebäude.

Mit rascher Hand warf der General Bemerkungen an den Rand der Akten, um sie hierauf in einen Korb zur rechten Hand zu legen. Der Berg der Schriftstücke zur Linken schmolz zusammen, auf der andern Seite wuchs er in die Höhe. Umfangreiche Schriftsätze maß der General mit einem rügenden Blick und warf sie – je nach ihrem Umfang mit größerem oder kleinerem Schwung – in einen besonderen Korb, der die Aufschrift trug: Wolff, Vortrag! Wolff, der Major, der Hüne, hatte Zeit für alles. Er war eines jener beklagenswerten bürgerlichen Arbeitstiere, wie sie in allen Ressorts saßen, die sich im Schweiße ihres Angesichts, ohne jede andere Empfehlung als die Qualifikation ihrer Vorgesetzten, in der Karriere vorwärtskämpften. Wolff arbeitete oft die ganze Nacht hindurch.

Es schien dem General, als ob seine Hände, deren erdiges Aussehen ihn seit geraumer Zeit ängstigte, nunmehr 174 lebhafter gefärbt seien. Offenbar, die Erregung vorhin hatte ihm gutgetan! Das Blut, das sich in seinem Kopfe gestaut hatte – wie immer nach großen seelischen Erregungen – war durch die Adern gepreßt worden und hatte die Gefäße wohltuend erweitert. Eine gleichmäßige Hitze überzog seinen Körper, und die Hände schwitzten plötzlich etwas. Ein Symptom, daß die Krisis überwunden war.

Bewegung fehlte ihm!

Wenn er wenigstens hätte ausreiten können!

Aber der Dienst – und dann, welch jämmerliche Pferde hatten sie doch gegenwärtig in Berlin! Er würde sich schämen, sich auf solch einer Schindmähre sehen zu lassen. Wie wunderbar war es dagegen an der Front gewesen! Wenn er in der Morgenfrische, täglich zwei Stunden, spazieren ritt, begleitet von seinem Adjutanten. Und die Geschütze brummten nah und fern. Herrliche Morgen, unvergeßlich!

Der Blick des Generals verlor sich in die Weite.

Aber er sah nicht die Lindenallee, durch die er zu reiten pflegte, die Rauchsäulen, die aus den Erdwohnungen der Soldaten stiegen, die Kolonnen, die über den Hügel krochen, nein, er erblickte: Ruth! Ruth und den Frühstückstisch von heute morgen.

»– also gelöst?«

»Ja, Papa.«

»Und er, Dietz – also mit seinem Einverständnis? Hm – so, so . . .« Er schlürfte den heißen Kaffee.

»Hier ist sein Brief, Papa, lies ihn.«

»Danke, wozu? Du bist ja kein Kind mehr und kannst schließlich tun und lassen, was du willst. Na – schön!«

Ruth küßte ihm die Hand. Weshalb eigentlich?

Jakob kam in diesem Augenblick ins Zimmer – wie peinlich! Er brachte geröstetes Brot, denn das Kriegsbrot war nachgerade nicht mehr zu genießen.

»Soso, hm.« Aber weshalb küßte sie ihm die Hand? 175 Es war völlig unnötig. Nichts haßte er ja mehr als irgendwelche Sentimentalitäten.

So warm und bebend, Nachsicht erflehend, hatte er ihre Lippen auf seiner kalten Hand gefühlt – er konnte ihr nicht zürnen in diesem Augenblick. Ruth hatte also das Verlöbnis mit Dietz gelöst. Eine glänzendere Zukunft hätte ihr niemand bieten können. Natürlich war es eine Überraschung für ihn, keine angenehme Überraschung, unnötig es zu sagen.

Der Blick des Generals kehrte wieder zum Schreibtisch zurück. Eine Stunde verging, zwei Stunden. Ohne jede Unterbrechung arbeitete er. Nur ein einziges Mal legte er sich in den Sessel zurück: dieser Schriftsatz war mit Randbemerkungen von Allerhöchster Hand versehen – frisch, lapidar, ganz im Geiste des Großen Friedrich. Behutsam, mit dem Ausdruck der Ehrerbietung legte er den Schriftsatz zur Seite.

Lautlos ging die gepolsterte Doppeltüre, und lautlos, bis auf ein leises Singen der Sporen, trat Weißbach ein. Es war Zeit für die Unterschriften, genau ein Viertel vor ein Uhr.

Noch immer diese leise, nicht mißzuverstehende Ziegelröte –

Weißbach näherte sich dem großen, ehrfurchtgebietenden Schreibtisch im Bogen und zögernden Schritts, um nicht zu plötzlich die Netzhaut des hohen Chefs zu treffen. Er verbeugte sich leicht bei jeder Unterschrift des Generals, während er die Tinte mit dem Löscher trocknete.

Dann erhob sich der General und ging zu seinem Mantel.

Jeden Tag, seit Monaten, spielte sich bei dieser Gelegenheit, zweimal am Tage, vormittags und nachmittags, die gleiche Szene ab.

Der Adjutant näherte sich dem General.

»Herr General gestatten?«

»Danke, es geht noch allein, Gott sei Dank.« 176

Lächeln des Hauptmanns, Verbeugung, stärkeres Klirren der Sporen.

Der General ist in den rechten Ärmel geschlüpft und gerade dabei, den linken Ärmel zu suchen. Rascher Sprung des Adjutanten.

»Herr General gestatten doch?«

Und nun gestattet der General. Der Adjutant streicht den Mantel zurecht. Und der General dankt mit einem Blick, gerade so lange, als seine hohe Stellung es zuläßt.

Wenn der General in die Handschuhe schlüpft, so erteilt er gewöhnlich noch kleine Aufträge, wie sie ihm gerade in den Kopf kommen.

»Es treibt sich hier eine Ordonnanz herum, ein kleiner Bursche mit einer Narbe zwischen den Augen. Ich lege keinen Wert auf ihn.« Schon schwoll die Stimme des Generals wieder drohend an.

Weißbach erbleichte. Eine unzuverlässige Ordonnanz, das ging ihn an! Augenblicklich wollte er nachforschen –

Behutsam schloß der Hauptmann die gepolsterte Flügeltüre hinter dem hohen Chef – bis auf einen schmalen Spalt. Dann stand er noch eine Weile, leicht gebeugt, bereit zum Sprung, und lauschte, denn es war möglich, daß dem General draußen auf dem Korridor plötzlich noch ein Auftrag in den Sinn kam. Der Schritt seines Herrn hallte über den Gang, ferner und ferner. Nun erst schloß der Hauptmann mit einer leichten Verbeugung die Türe vollständig.

»Donnerwetter!« flüsterte er aufatmend. Und was diese Ordonnanz mit der Narbe zwischen den Augen betraf, so wollte er sofort die Angelegenheit in Ordnung bringen. Hinaus mit diesem Burschen!

Vierundzwanzig Stunden später war der Schneider Hanuschke schon wieder beim Regiment und achtundvierzig Stunden später schon wieder auf der Fahrt zur Front. Er hatte Pech, es ging gerade ein Transport hinaus. Von 177 einem Kommando zurück zum Regiment geschickt zu werden ^ etwas Schlimmeres konnte wahrhaftig nicht passieren.

 

Selbst in der leise murmelnden Dämmerung von Stifters Diele fand der General sein seelisches Gleichgewicht nicht völlig zurück.

Mockturtlesuppe, westfälischer Schinken in Weintunke, gebackene Flundern und Aprikosenpudding, eine der Spezialitäten des Hauses, das Menü schien ihm heute mäßig. Jede Erregung legte sich bei ihm auf den Magen, sonderbar. Eine rätselhafte Einrichtung ist der menschliche Organismus.

Und diese Ignoranten von Ärzten sagten immer das gleiche . . .

Ja, Bewegung, wenn der Dienst jede Minute bei Tag und bei Nacht in Anspruch nahm – diese Ärzte sind Narren! Sie trinken sich, zum Beispiel, zu Tod, buchstäblich, und predigen: keinen Alkohol, Gift, hundertprozentiges Gift für den Organismus, für Sie besonders – und trinken sich unter die Erde, ohne zu erröten.

Und diese beiden Rittmeister gegenüber, heute in voller Gala, sie konnten ihm, ganz gelinde gesagt, es gab ja treffendere Ausdrücke, vollends den Appetit verderben.

Zahlen, Lawinen von Zahlen, wälzten sich auf den General herab, dessen Erscheinung vor kurzem den Schneider Hanuschke so erschreckt hatte. Nur selten, ein- bis zweimal im Jahre, beschäftigte er sich eingehender mit Zahlen.

Es war nur gut, daß er gestern an die pommersche Hypotheken- und Wechselbank um hundert Mille geschrieben hatte. Sie würden den Kredit gewiß anstandslos gewähren, und für einige Zeit würde es wohl wieder genügen.

Alles kostete heutzutage Unsummen!

Er hatte nur ein ganz verschwommenes Bild seiner Vermögenslage im Kopfe. Das Konto war ein Kaleidoskop, unaufhörlich wechselnd, verwirrend, unübersichtlich. Aber er fühlte, daß es bergab ging. Ja, bergab – 178

Eines Tages, als sein hochverehrter Herr Vater, der als Oberst abgegangen war, auf Babenberg die Augen schloß, hatte er sich im Besitze von einigen Millionen und zwölftausend Morgen Land befunden. Aber einige Millionen, was war das, wenn das Kapital sich nicht automatisch vermehrt? Jeder Augenblick des Lebens verschlang Summen, Unsummen! Seine verstorbene Frau, er nahm es ihr nicht übel, im Gegenteil, diesen Zug liebte er an ihr, auch sie war kein, wie sagt man doch, wirtschaftliches Genie. Das Organ dafür fehlte ihr.

Bergab – nur gefühlsmäßig erfaßte er es. Babenberg war Fideikommiß, unantastbar – Rothwasser, fünftausend Morgen, immerhin außerordentlich stark belastet.

Und jeder Atemzug verschlang auf dieser Welt Summen, Unsummen! Es war letzten Endes ganz unerklärlich, wie die Menschen lebten. Der Haushalt hier – Unsummen, Diners, Gesellschaften – Unsummen, seine Privatangelegenheiten, die niemand etwas angingen – Unsummen. Ein Paar bescheidene Ohrringe, zum Beispiel, ein paar Perlen in Platinfassung, die früher keine dreitausend Mark gekostet hatten, kosteten heute, sage und schreibe, fünfundzwanzigtausend Mark. Seine Bezüge während des Krieges, obgleich nicht unbeträchtlich, was waren sie schließlich? Ein Tropfen auf einem heißen Stein.

Sein Kredit aber würde keineswegs gekräftigt werden, nun, weshalb sollte man nicht den Tatsachen ins Auge sehen, wenn man erst in Pommern erfuhr, daß diese Verlobung zurückgegangen war.

Zahlen, Lawinen von Zahlen.

Die Ziegelröte des breiten Gesichts steigerte sich allmählich zur tiefen Glut.

»Eine kleine Schwarze oder eine lange Braune, Exzellenz?« raunte der Oberkellner und präsentierte die Zigarrenkisten.

»Die Zigarren werden immer schlechter, mein Freund.«

»Leider, Exzellenz. Es wird immer schwerer . . .«

Er hatte die Heirat mit Dietz freudig begrüßt, natürlich, 179 er hatte die Annäherung begünstigt, offen zugestanden – schließlich war er ja der Vater – und es kam ja auch einmal der Moment, da er die Augen schloß und seine Kinder sehen mußten, wie sie allein vorwärtskamen. Wehmut erfüllte den General, als er sich in diesen Gedanken vertiefte. Einmal würde ja der Augenblick kommen, da er, den Helm in der Hand, vor seinem Herrgott treten mußte.

Furchtbarer Augenblick, furchtbar der Gedanke, diese Welt der Tatsachen verlassen zu müssen –ins Ungewisse hinein . . .

Aber der Oberkellner rief ihn zur heitern Erde zurück. Er brachte die Liköre.

Wieder umwölkte sich das tiefrote Gesicht Seiner Exzellenz. Es war eine Tatsache: während der Adel auf den Schlachtfeldern verblutete, Blut und Gut opferte, füllten sich zweifelhafte Elemente die Taschen. Und diese zweifelhaften Elemente kauften Land! Eine ganze Reihe bekannter Familien war schon gezwungen gewesen, uralten Familienbesitz abzustoßen. Was aber würde aus dem Adel werden, der seit Jahrhunderten Kraft aus der Scholle sog, wenn er erst einmal entwurzelt war?

Trotz alledem – es würde ja jedenfalls Babenberg bleiben, wenn es so weit kommen sollte, daß er Rothwasser verkaufen mußte.

Aber, ganz abgesehen von materiellen Gesichtspunkten: Dietz war ja ein prachtvoller Mensch, eine stattliche Erscheinung, gebildet, von seltener Noblesse und Großzügigkeit – unverständlich . . .

Immer mehr wurde ihm Ruth zum Rätsel.

 


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