Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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11.

Pünktlich auf die Minute erhob sich der General am nächsten Morgen. Er hatte fast nicht geschlafen in dieser Nacht. Funken sprühten vor seinen Augen, er sah schlecht. Wieder zuckte sein rechtes Augenlid. Seine Haut war trocken und heiß, er hatte Fieber.

Nicht einmal Niki, der in seinem Bauer zwitscherte, gönnte er heute einen Blick. Teilnahmslos, schwerfällig, automatisch bewegte er sich, wie im Halbschlaf.

Punkt einhalb acht klingelte das Telephon, das Amt, wie befohlen.

Der General taumelte am Apparat. Der Hörer zitterte in seiner Hand. Er war genötigt, einen Stuhl heranzuziehen und lallte, als er sprechen wollte.

Schlechte Nachrichten, offenbar. Ja, schlechte, sehr schlechte! 421

Und niemand, dachte der General, niemand – das Reich wankt – und niemand, nichts als Unfähigkeit, Dünkel und Verblendung!

Schlimmer noch – schlimmer! Ein Verbrechen . . .

Das Haus war leer, tot, das Speisezimmer düster und verlassen.

Ein Brief?

Seht an!

Man schrieb Briefe!

Schon von weitem, obschon schwere und düstere Gedanken ihn niederdrückten, sprang der weiße Umschlag in seine Augen. Auf dem Frühstückstisch lag dieser Brief. »An Papa!«

An Papa! Man schreibt Briefe!

Er hatte nicht den Mut, diesen Brief zu öffnen. Was sollte Ruth zu schreiben haben? Er ließ den Brief in die Tasche gleiten. Seine Wangen zuckten. Nun, es mochte recht gut sein, daß sie etwas mißverstanden hatte, seine Fürsorge falsch deutete – sie war jung und konnte nicht begreifen, daß ein Vater sich sorgte, daß er nur aus Liebe für sein Kind, nur aus Liebe, wohlgemerkt –

Plötzlich erhob sich der General.

Er war erbleicht.

»Therese?«

Etwas Unglaubliches war geschehen! Der General war in die hinteren Räumlichkeiten gekommen, die er nie zuvor betreten hatte.

»Meine Tochter ist verreist?«

»Ja. Ruth ist abgereist.«

»Wohin? Sie wissen es nicht?«

»Nein – aber ein Brief –«

»Ich weiß –«

Der General schwankte durch den Korridor. Mühsam kletterte er in den Wagen.

»Ah! Ah!« stöhnte er, als die Limousine dahinschoß, und bedeckte die Augen. 422

Ungeöffnet stak der Brief noch in seiner Tasche.


Ein deutsches Feldgeschütz fuhr plötzlich mitten im Sandsturm auf. Was wollten sie? Waren sie wahnsinnig? Verschwunden ist das Feldgeschütz –

Furchtbar rollt die Brandung aus Eisen und Blut. Die Kanonen knackten, als würden Knochen in der Luft zerbrochen.

Die Front wankte, kein Zweifel, keine Beschönigung mehr. Schon klafften breite Risse.

Die Mauer aus Menschenleibern, hundertfach aufgefüllt, hundertfach in Stücke geschossen, in jede Bresche stürzten sich neue Menschenleiber, ja, nun wankte sie. Diese Mauer aus Blut, aus menschlichen Gehirnen, aus menschlichen Herzen, die vor Liebe glühten und sich verzehrten – sie stürzte.

Die Karte war ausgespielt, die letzte Karte, ausgespielt gegen alle Gesetze der Wahrscheinlichkeit. Sie hatte verloren.

Hunderte, Tausende von Granaten in der Sekunde, Einschlag neben Einschlag. Die Hochöfen der Welt sind gegen dich im Kampf. Die erschöpften, verbluteten Truppen sahen sich nach Unterstützung um. Die Kameraden, wo sind sie? In Finnland, Livland, Polen, Rumänien, Mazedonien, Syrien, in der Ukraine, im Kaukasus – weit, weit, sie können nicht helfen.

Und jeden Tag entsteigen zehntausend frische, mutige, wohlgenährte Männer dem Ozean.

Der Hagelsturm von Eisen rast. Explosionen, Explosionen . . .

Pulvermagazine fliegen in die Luft, Gaskessel explodieren, Städte verschlingt die krachende Erde – das Trommelfell birst, Blut sickert aus den Ohren . . .

Über die ganze Erde ist das furchtbare Krachen der zusammenbrechenden Mauer zu hören. 423

 


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