Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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9.

Vorgestern nicht, gestern nicht – aber jetzt, jetzt kam sie die Fabriciusstraße herauf.

Sie hielt zuweilen inne, als zögere sie, blickte sich um, aber sie kam doch immer näher.

Herr Herbst kletterte die Treppe empor, bis zur Türe. Er wohnte nicht mehr hier, hatte das Quartier in diesem Unglückshause geräumt. Er wohnte jetzt in einer kleinen Kammer im »Löwen von Antwerpen«. In einem ganz winzigen Raum, aber doch zog er ihn diesem Zimmer vor.

Schon hörte er ihren Schritt, das leichte Keuchen ihres Atems. Sie ging ganz anders als alle Frauen, die diese Treppe 365 auf und ab stiegen. Die Sohlen ihrer Schuhe waren dünner, sie vermied jeden Lärm und hielt sich nie am Geländer fest.

Herr Herbst trat vor, beugte sich über das Geländer. Sie sah ihn an, hielt inne, leise keuchte ihr Atem.

Herr Herbst lüftete den steifen Hut: »Sie suchen gewiß Herrn Ackermann?« fragte er.

»Ja«, hauchte sie.

»Er wurde verhaftet –«

»Vorgestern verhaftet –«

Nun berührte sie plötzlich mit den Fingerspitzen das schmutzige Stiegengeländer, und das Blut wich aus ihren Wangen. Ganz langsam. Zuerst wurde sie fahl, dann weiß wie Mehl. Dann verloren ihre Augen die Farbe, auch sie wurden weiß.

Schwere Kämpfe, außerordentlich schwere Kämpfe!

Fleisch von seinem Fleisch. Blut von seinem Blut . . .

Herr Herbst beugte sich über das Geländer und sah ihr tief in die Augen. Immer noch wurde sie weißer – ihre Hand griff zu.

Und bald, bald würde man auch sie – der Magere, Schmächtige hatte es ihm zugesagt. Und diese Schande für die Familie . . .

Heute abend, es war Sonnabend, würde er den Munitionsarbeiterinnen im »Löwen von Antwerpen« etwas zum besten geben. Und auch er würde ein Fläschchen trinken. Er besaß ja immer noch Geld, Gott sei Dank, zwei Brieftaschen, eine kleine für die laufenden Ausgaben und eine große, in der sich die blauen Scheine befanden, noch immer eine ganze Anzahl. Heute abend sollte ihm nichts zuviel sein.

Dabei hielt er den Hut gelüftet, und sein Blick versank in diese Augen, die die Farbe verloren, den Blick.

»Hier?« hauchte eine zitternde Stimme.

»In der Stadt. Beim Anhalter Bahnhof.«

»Haben Sie es gesehen?«

»Ein Bekannter hat es mir erzählt.« 366

»So? – – Danke«

Sie wandte sich ab, ging, Schritt für Schritt, und immer noch ganz leise und lautlos.

Er beugte sich weit über das Geländer und sah ihren kleinen braunen Hut um die Ecke biegen.

Plötzlich lief er mit den Bewegungen eines Hampelmannes hinter ihr her.

»Hören Sie, noch etwas.«

Sie wandte ihm ihr mehlig weißes Gesicht zu.

Herr Herbst beugte sich über das Geländer. Und nun stieß er ihr das Messer ins Herz!

»Er ist tot!« flüsterte er, ganz leise, aber so deutlich.

Das mehlige, weiße Gesicht verschwand – und plötzlich eilte ein lauter, harter Schritt, blitzschnell die Treppe hinab. Immer rings um das Treppengeländer.

Aber dies war zuviel für Herrn Herbst. Dieses rasende Klappern der Schuhe vertrug er nicht. Im Nu stürzte ihm das Wasser aus den Augen.

Was ging hier vor? Er wollte ja gar nicht –

Rasch, so rasch seine zitternden Beine es zuließen – immer war es ihm beim Hinabsteigen der Treppe, als stürze er in einen Abgrund – folgte er den harten, raschen Schritten, die im Stiegenhaus herumgingen.

»Halt, halt– hören Sie –«

»Hören Sie – es war ein unglückseliger Zufall –«

»Hören Sie, pst – einen Augenblick – fliehen Sie aus Berlin – auch Sie will man –«

Aber er vermochte sie nicht mehr einzuholen.

Wie ein Hampelmann eilte er.

»Ich warne Sie – wünsche Ihnen nichts Böses –«

Vergebens.

Die Haustüre fiel ins Schloß, und als er sie wieder geöffnet hatte, da war sie schon, unglaublich, unfaßbar, mindestens sechs Häuser weit entfernt.

Keine Möglichkeit, nicht die geringste Möglichkeit. 367

 


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