Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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8.

Kälte schlug dem General entgegen, als er seine Wohnung betrat. Er bewohnte das Parterre eines einstöckigen grauen Hauses an der Tiergartenstraße, dicht am Kemperplatz, nicht weit von Doras Backsteinvilla entfernt. Kälte und Stille – die Wohnung war erfüllt von Winter, von Tod.

Die Generalin war einige Jahre vor dem Krieg in Davos gestorben, nachdem . . . Die Ehe des Generals war in den späteren Jahren nicht glücklich gewesen. Übrigens hatte die Generalin nie diese Wohnung in der Tiergartenstraße betreten, damals – wieviel Jahre sind es her! – wohnten sie in der Margaretenstraße.

Auch sein Sohn Kurt, der älteste – er war nicht mehr. Gefallen an der Somme.

Ein eigentümlicher Hauch strich durch die Wohnung – und augenblicklich versteinte das Gesicht des Generals wieder. Den Rest des Familienlebens hatte der Krieg vernichtet. Ruth und Otto gingen ihre eigenen Wege. Ruth arbeitete zurzeit in ihrer Küche, früher in einem Lazarett, und Otto, wenn er einmal auf Urlaub in 57 Berlin war, war selten zu sehen – ein Leichtfuß . . . Es gibt in dieser Hinsicht keine Kompromisse: entweder lebt eine Familie glücklich, oder sie zerfällt.

Die Burschen rasselten in der Diele in die Höhe. Auch die Ordonnanz rasselte. Sie brachte die Mappe mit den Akten, die am Abend bearbeitet werden mußten. Nur Soldaten lebten im Hause des Generals – und eine Wirtschafterin, Therese, die irgendwo hinten in den Zimmern hauste, und die man nie sah. Soldaten gingen ein und aus, solange der General lebte. Sein Vater war als Oberst gestorben. Es rasselte von Waffen, und sie brachten den Geruch aus den Kasernen mit.

Der General ließ den Pelzmantel einfach fallen, irgend jemand stand schon da und fing ihn auf.

Ja, Kälte – trotzdem die Wohnung gut geheizt war. Durch einen dunkeln Spiegel sah er sein steinernes Gesicht gleiten. Alle Lampen schienen falsch oder ungeschickt angebracht. Anstatt Licht und Freundlichkeit zu verbreiten – wie warm war es doch bei Dora! – verbreiteten sie feindselige Grelle und haßerfüllte, pechschwarze Schatten. Dunkle Täfelungen, schwere Barockmöbel, Gold – die Parkettböden schrien, wenn man sie betrat, es war ein altes Haus.

In seinem Arbeitszimmer fiel der Frost von ihm. Hier allein war er zu Hause. Er atmete auf, seine Haltung wurde um etwas lässiger.

Mit raschen Schritten näherte er sich einem Vogelbauer, in dem ein kleiner gelber Kanarienvogel hauste.

»Nun, Niki – Niki!« Er steckte den Finger durch die Stäbe – er sprach mit dem Vogel genau so, wie er früher mit seinen Kindern gesprochen hatte, mit veränderter, komischer Stimme – als sie noch ganz klein waren, klein, lieblich und voller Vertrauen.

»Aber das Apfelschnitzchen – es ist ja heruntergefallen, nun wollen wir aber das Apfelschnitzchen – 58 und das Wasserchen, wieder alles verspritzt – du Schlingelchen –.«

Der Vogel piepte und sprang erregt von Stäbchen zu Stäbchen.

»Ja, siehst du – das Herrchen –.«

Es klopfte. Eine laute Stimme rief: »Es ist serviert, Herr General!« Das war Jakob, der Ulan, Bursche und Kammerzofe des Generals. Es gab auch noch einen Wangel, der aber war mehr für den Dienst außerhalb des Hauses. Die Uhren schlugen. Es war acht.

Punkt acht – Punkt, immer Punkt! Der General war für peinlichste Pünktlichkeit. Zuweilen, erschöpft vom Dienst, legte er sich zur Ruhe – zehn Minuten, zwanzig Minuten – mit der Sekunde mußte er geweckt werden. Die Burschen konnten den ganzen Tag faulenzen oder mit Köchinnen klatschen, aber ihre Uhren mußten genau gerichtet sein. Punkt ein halb acht Uhr morgens erhob sich der General, Punkt ein viertel nach acht nahm er sein Frühstück, Punkt ein Uhr fuhr er zum Mittagessen (er aß in der Stadt), Punkt acht Uhr erschien er zum Abendessen. Auch im Felde hatte er die gleiche Einteilung des Tages eingehalten und wenn die Welt unterging. Zuweilen ging sie auch unter, aber den Tagesplan des Generals vermochte sie nicht zu verrücken.

Zeit, Zeit – jede Minute war kostbar – der Dienst –.

Nun gut . . . Punkt acht Uhr begab sich der General ins Speisezimmer.

 

Ruth sagte »Guten Abend« und grüßte den Vater mit ihren hellbraunen Augen, die in der Tiefe warm und golden schimmerten. Sie war keine Hecht-Babenberg, sie war, heißt das, physisch nicht den Traditionen des Hecht-Babenbergschen Blutes gefolgt, das große, solide Knochen, breite Schädel mit etwas slawischen Backenknochen baute, sie war eine Sommerstorf, nach der 59 Mutter geraten, die einer süddeutschen, fränkischen Familie entstammte. Sie war nicht groß, schmalschultrig, eher zierlich, ihr Haar dunkelblond, fast braun, und so weich, daß es sich schlecht frisierte und die Frisur häufig etwas nachlässig aussah. Zuweilen rügte der General diese Nachlässigkeit, mit einem raschen Blick. Ruth glättete dann verlegen mit den Händen die Haarwellen.

Der General goß sich Fachinger ein. Neben seinem Gedeck lagen die Abendzeitungen, die er durchflog, während er die Suppe schlürfte. Wann sollte er Zeit haben, die Zeitungen zu lesen? Er wußte kaum, was in der Welt vorging. Aber das war auch Nebensache, die Hauptsache war, daß diese Burschen geschlagen wurden, und es war nicht nötig, daraufhin die Zeitungen zu studieren. Auf Tag und Stunde würde er es wissen, wenn es so weit war. Noch war es allerdings nicht ganz so weit, auch das wußte er ganz genau.

»Na, da haben sie wieder mal –« murmelte der General.

»Wie Papa?«

Schweigen. Der General schlürft hastig und ungeniert die Suppe, die vom Löffel in den Teller tropft, und schielt in die Zeitung.

»Jakob? – Es zieht.«

Jakob tritt aus dem Schatten neben dem Danziger Barockbüfett, wo er sich gewöhnlich verbirgt, und geht zu sämtlichen Fenstern und Türen, auf den Fußspitzen. obwohl er weiß, daß alle ordentlich geschlossen sind. Jakob bedient auch bei Tisch. Der General liebt es, von einem Mann in Uniform auch zu Hause bedient zu werden – es ist wie im Felde. Er haßt weibliche Dienstboten.

Die silbernen Bestecke blinken kalt, die Tischdecke ist wie Schnee – und obgleich der Tisch nicht um vieles größer ist als ein gewöhnlicher Eßtisch, scheint dem General diese Tischdecke zuweilen ein endloses Schneefeld zu sein. Ganz 60 am Rande dieses Schneefeldes weiß er seine Tochter, fern, klein – zuweilen scheint es dem General, als ob die Menschen mehr und mehr in die Ferne glitten, mehr und mehr, täglich mehr. Oft klingen ihre Stimmen fern und dünn, wie aus großer Entfernung. Oft hört er sie gar nicht mehr, so dünn klingen sie. Es kommt daher, daß er überarbeitet ist.

»Na, da haben sie wieder mal einige Tausend Tonnen heruntergeschossen.«

Jakob wechselte die Teller, geräuschlos.

Der General sah plötzlich auf. Jetzt erst bemerkte er, daß Otto bei Tisch fehlte.

»Otto ist eingeladen, Papa.«

»Am letzten Abend –?« Röte stieg in das Gesicht des Generals. Seine Wimpern hoben sich vorsichtig, und sein Blick tastete über Ruths Gesicht. Dieses Gesicht war zart, blaß und von einer ungewöhnlichen Reinheit des Teints. Es war voller Anmut, ohne irgendwie schön zu sein. Eine träumerische Zerstreutheit war über die weichen Züge gebreitet, und ein Lächeln lag auf den etwas zu vollen, tiefroten Lippen. Ruth fühlte den Blick, ihre Lider zitterten – aber schon war der Blick des Generals wieder zu seinem Teller zurückgekehrt. Der General liebte es nicht, dem Blick seiner Tochter zu begegnen – es hatte seinen Grund, seine Gründe, über die er niemand Aufklärung schuldig war.

»Viel Arbeit in der Küche?«

»Genug, Papa. Wir geben täglich achthundert Mahlzeiten aus.«

»Sapperlot!« Der General wischte sich den grauen, dünnen Schnurrbart ab und rückte den Stuhl zurück. Er bot Ruth die Wange zum Kusse. Sie berührte sie mit den weichen Lippen (wobei die stachlichen Bartstoppeln sie stets kitzelten) und legte einen Augenblick die Hand sanft an den grauen Kopf des Vaters. Diese Art des Gutenachtkusses hatte sich aus ihrer Mädchenzeit erhalten. Der 61 General fühlte den sanften Druck ihrer Hand im Herzen. Jeden Abend. Jeden Abend erwachte bei dieser Berührung die Liebe zu seiner Tochter, die während des Tages verblaßte, schlief, ohne jede Spur erlosch. Am Tage dachte er fast nie an Ruth, und wenn sie ihm in den Sinn kam, zufällig und selten, so geschah es ohne jedes Gefühl, fast mit Kälte. Aber abends fing die Liebe unter dieser Berührung zu glimmen an. Oft dauerte diese Empfindung an, und einmal kam es sogar vor, daß der General spät abends an Ruths Türe lauschte, um zu hören. wie sie atmete. Da stand er im dunkeln Korridor, wie ein Dieb, das Ohr gegen ihre Türe gedrückt. Sein Herz brannte vor Liebe.

Am Tage aber – Gleichgültigkeit, Kälte. Sonderbar.

»Gute Nacht, Papa!« Weich und fein klang Ruths Stimme.

»Gute Nacht.«

Der General erhob sich geräuschvoll. Jakob klappte mit den Stiefeln. Plötzlich sagte der General im Befehlston: »Wenn mein Sohn nach Hause kommt, ich möchte ihn sprechen! Aber nach ein halb zwölf will ich nicht mehr gestört werden. Dann soll er früh in mein Zimmer kommen!«

»Jawohl, Herr General!« Und Jakob stürzte zur Türe. Er wußte, daß der Herr Oberleutnant erst gegen Morgen zurückkehren würde wie jede Nacht. Er hatte ihm schon befohlen, rücksichtslos kaltes Wasser anzuwenden, wenn er nicht wach werden sollte.

Ruth wünschte dem Burschen mit heiterer Stimme »Guten Abend« und schlüpfte in ihr Zimmer.


Ruths kleiner Salon war, ganz wie das anstoßende Schlafzimmer, immer etwas in Unordnung und – sowohl am Tage wie am Abend – in Dämmerung gehüllt. Kleidungsstücke, Bücher und Schreibpapier lagen verstreut umher. Der kleine Salon, der auf den Tiergarten hinausging, war in blauen und weißen Farben gehalten. Die niedrigen, 62 mit einem Seidenbrokat von senkrechten blauen und weißen Streifen überzogenen Fauteuils, zeigten schon allenthalben feine Risse und waren gelblich geworden. In die Rücklehnen dieser Fauteuils war ein Medaillon mit dem Wappen der Sommerstorf eingestickt: eine Hand, die eine rote Rose hielt. (Diese rote Rose spielte bei den Sommerstorf überhaupt eine große Rolle.)

Über dem kleinen Sofa, auf dem gewöhnlich Ruths Mantel und Hut lagen, hing in einem ovalen weißen Rahmen das Porträt einer jungen Dame: Margarete v. Sommerstorf, spätere Hecht-Babenberg. Das Aquarell, in der Manier Kaulbachs gehalten, stellte Ruths Mutter im Alter von etwa zwanzig Jahren dar, zur Zeit, da sie sich verheiratete: ein junges Mädchen, die schmalen Schultern in ein weißes Spitzentuch eingehüllt, einen Fächer in der Hand und eine brennendrote Rose im Haar. Das Haar hatte in den Reflexen den gleichen Schimmer wie Ruths Haar, das manchmal braun und manchmal blond erschien, je nachdem das Licht darauf fiel. Das Bild hatte eine besondere Eigentümlichkeit. Die großen hellbraunen Augen, die der Künstler besonders hervorgehoben hatte, verfolgten den Beschauer überallhin, wo immer im Zimmer er stehen mochte. Sie ließen ihn nicht aus den Augen und lächelten.

Ruth hatte nur eine blasse Erinnerung an die Mutter bewahrt. Etwas Scheues, unendlich Warmes, Flüchtiges und Huschendes. Weiche Lippen, unendlich zart und unendlich warm – die sie geküßt hatten, als sie ein kleines Mädchen war, und Therese hatte gerufen: »Grüße die Dame, es ist Mama.« Ruth erinnerte sich genau an diese Worte Thereses, aber zu ihrem Schmerz erinnerte sie sich nicht mehr an das, was diese blasse, scheue, unbekannte Dame sprach.

Sie besaß übrigens das weiße Spitzentuch, in dem die Mutter porträtiert worden war. Zuweilen, sehr selten, 63 legte sie es um die Schultern, sie steckte sich eine rote Rose von demselben prangenden Rot in das Haar: dann lächelten diese beiden Frauen, die ganz gleich aussahen, einander zu.

Eilig schlüpfte Ruth in den Mantel und sang leise vor sich hin, während sie die Handschuhe suchte, die sie, wie gewöhnlich, verlegt hatte:

Die Rose, die Lilie, die Taube, die Sonne,
die liebt ich einst alle in Liebeswonne.
Ich lieb' sie nicht mehr, ich liebe alleine
die Kleine, die Feine, die Reine, die Eine. –

Ruth vergötterte Schumann.

Aber da hatte sie auch schon die Handschuhe gefunden. Sie waren in eine leere Blumenvase geraten.

 


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