Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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5.

Heinz war, so schnell ihn die Füße trugen, zur Station der Untergrundbahn geeilt. Er hatte ja Klara benachrichtigt, daß es etwas später werden könnte, trotzdem . . . 43

Es war die Stunde des Geschäftsschlusses.

Berlin war wie ein schmutziger Schwamm, der ausgedrückt wird. Ströme von Schmutz flossen aus dem finsteren Himmel, von den Dächern und den tausendfenstrigen Hauswänden. Der Schmutz wälzte sich über die Straßen und stieg in den durchlöcherten Stiefelsohlen bis an die Knöchel. Die Menschen in ihren abgeschabten, dünnen Kleidern, blau vor Kälte und Hunger, quollen aus den frostigen Häusern und stürzten hinab in die windigen Kamine, die zur Untergrundbahn führen. Sie stauten sich auf den Bahnhöfen, geballt zu einer Wolke von Bitterkeit und Wut. Die überfüllten Züge fegten, triefend von Dunst und Schmutz, mitten hinein in die Menschenknäuel, die sich rasend gegen Türen und Scheiben warfen, um nicht auf den finstern, feuchten Perrons zurückbleiben zu müssen.

Die Schaffnerinnen – ihre Männer waren im Feld, faulten längst in den Massengräbern, verbluteten in dieser Minute, die Kinder hungerten zu Hause in einer kalten Stube – die Schaffnerinnen, gepeinigt bis aufs Blut von den jagenden Zügen, klirrenden Scheiben und kämpfenden Menschenmassen, schrien mit schrillen, gellenden Stimmen, als ob sie erdolcht würden. (Und ach, sie wurden erdolcht, jede Minute stieß ihnen unbarmherzig das Messer ins Herz.)

Zu Blöcken zusammengepreßt, flogen die Menschen durch die dunkeln Tunnels voll stummer gegenseitiger Raserei. Sie schwiegen. Sie fürchteten Spione und Agenten. Sie fürchteten den Terror der Albernheit. Sie lächelten und lachten nicht mehr. Sie fühlten das Verhängnis dicht vor sich, um sich, über sich, wo am Dach des Wagens sich all die Dünste der zusammengedrängten Menschenmassen stauten. Dieses Verhängnis, dessen Widerschein in allen Augen glänzte, begleitete sie durch die finsteren Tunnels, über die klirrenden Brücken und flutete mit ihnen über die menschenwimmelnden Perrons. 44 Flogen die Züge in die Stollen hinab, so war es für viele, als ginge es in die Hölle mit ihnen, und der kalte Schweiß trat auf ihre Stirn.

Dunkelheit, Kälte und Hunger drohten aus den Straßenschluchten. Diese drei Gespenster ergriffen Besitz von Berlin, das sich drei Kriegswinter hindurch tapfer verteidigt hatte, um im vierten zu kapitulieren. Täglich breiteten sie sich mehr über die Stadt aus. Sie eroberten Häuserblock um Häuserblock, Straßenzüge um Straßenzüge, Stadtviertel um Stadtviertel, und drangen langsam zum Herzen der Stadt vor. Als ein viertes Gespenst war noch die Grippe dazugekommen. Dieses Gespenst war überall, wo sich Menschen ansammelten. Es machte alle Fahrten auf den überfüllten Untergrundzügen mit. Die Passagiere husteten sich gegenseitig den Tod ins Gesicht. Viele von ihnen machten heute ihre letzte Fahrt. Mit Vorliebe suchte dieses vierte Gespenst sich junge Exemplare aus, es liebte zartes Fleisch. Sie starben von der Berührung. Die Alten brachte es nur um eine gute Strecke der Grube näher, in die sie eines Tages, entkräftet vor Hunger und zermürbt von der Verzweiflung, ganz von selbst stürzen würden.

Heinz mußte einen überfüllten Zug vorbei lassen. Ein Paar grober Fäuste schleuderte ihn zurück. Selbst beim nächsten Zug verdankte er es nur seinem freundlichen Knabengesicht und dem Lächeln auf den roten Lippen, daß man ihn mitnahm.

Augenblicklich dachte er an die grüne Mütze. In wenigen Minuten würde er sie sehen!

Eine grüne Wollmütze, flott nach hinten gerückt, grasgrün, mit einer ebensolchen grasgrünen Seidenquaste in der Mitte, gewiß ist sie nichts, aber sie kann im Herzen eines Menschen soviel sein wie der Christus in der Kirche. Zuweilen, wenn die Züge seiner Dame in seinem Gedächtnis verblaßten, sehr selten geschah es – die grüne Wollmütze blieb zurück, keine Macht konnte sie ihm entreißen. Und 45 allmählich, wie durch einen Zauber, fügten sich dann wieder Haar, Wangen, Ohr – alles daran.

Diese grüne Wollmütze leuchtete über den Wittenbergplatz, als er den Bahnhof verließ – weithin, wie ein Scheinwerfer. Und doch war es nur ein handgroßer Fleck von Grün, nicht einmal sehr deutlich im Schein einer Laterne. Durch das Gewimmel von Menschen hindurch drang Heinzens Blick, als ob die Menschen transparent wären, er sah seine Dame von den Schuhen bis zur Wollmütze, in ihrer ganzen Figur, obschon sie mitten in einem Knäuel von Wartenden bei der Haltestelle der Elektrischen stand. Das war jedenfalls ganz wunderbar. Er erkannte die Linie ihres anliegenden Jacketts, er sah sogar, daß sie ein Päckchen am Finger trug.

Plötzlich traf eine Stimme Klaras Ohr! Aber Heinz hatte gar nicht gerufen. Sie blickte im gleichen Augenblick auf ihn, ihre Blicke begegneten sich durch das Gewimmel. Sie lächelte, ihr Lächeln kam näher, es wurde leuchtender und strahlender, überblendete Menschenschatten, Finsternis und schmutzige Straße, und endlich glänzte es dicht vor ihm. Es hatte sich nun wiederum auf seine Quelle zurückgezogen. Es leuchtete aus ihren Augen, aus ihren Lippen, weißen Zähnen, aus ihren Wangen und selbst aus ihren blonden Haaren, auf denen einige Regentropfen wie Tau glitzerten.

Beide erröteten und fingen gleichzeitig an zu reden. Es war völlig einerlei, was sie sagten. Sie freuten sich an dem Klang ihrer Stimmen, die durcheinander klangen.

»Sie haben – du hast –«

»– tausendmal Verzeihung jedenfalls – meine Cousine wollte mich Hauptmann Wunderlich vorstellen, der eine Kampfstaffel führt –«

Die grüne Wollmütze glitt die Straße hinab, die seidene grüne Quaste baumelte hin und her.

Wie wunderbar frisch ihre Halskrause ist, dachte Heinz 46 und wie fest ihr Jackett um die Hüfte schließt. Sie aber bewunderte den Schnitt seines Mantels, der nahezu bis zur Erde reichte und viel zu weit war, und seine seidene Mütze, die eine kecke Beule aufwies.

»Du trägst ja nun das Abzeichen!« rief die junge Dame plötzlich überrascht aus. Mit einem raschen Blick hatte sie, als er nur einen Augenblick den Mantel aufknöpfte, sofort das Fliegerabzeichen entdeckt.

»Ich habe es gestern bekommen.«

»Ich gratuliere.« Das war wohl eine Gelegenheit, ihr die Hand zu geben. Heinz berührte die Spitzen ihrer zarten, ach so zarten und unbegreiflich dünnen Finger.

»Gestern flog ich über Berlin«, erzählte er lebhaft. »Ich flog über den Wittenbergplatz und den Kurfürstendamm entlang. Bei der Gedächtniskirche drosselte ich den Motor und ging auf fünfhundert Meter herunter. Ich sah das Treiben der Menschen und dachte, vielleicht geht auch Klara Westphal da unten.«

Nein, Klara Westphal war zu Hause.

Klara streifte ihren jungen Helden mit einem bewundernden Blick. Sie konnte wohl beobachten, daß die Damen den schlanken Offizier anblickten, und manche drehten sich sogar um, so schön und frisch war er. Er ging sorglos und strahlend, die Mütze etwas keck aufs Ohr geschoben, und er hatte eine besonders flotte Art zu grüßen, als gebe es Vorgesetzte für ihn nicht. Sein Gruß hatte zuweilen sogar etwas Herablassendes und Gönnerhaftes. Jetzt, da er neben Klara ging, war er völlig frei von seiner kindischen Ehrfurcht vor allem, was Achselstücke mit Sternen trug.

»Und dein Kommando?«

»Leider ist es noch nichts damit. Nun aber hat Hauptmann Wunderlich mir versprochen, mich für seine Kampfstaffel anzufordern, sobald es möglich ist.«

Nichts fürchtete Klara mehr als diesen schrecklichen Augenblick, wo das Kommando kam. Schon jetzt klopfte ihr das Herz. 47

»Wohin wollen wir gehen?«

»Es ist ganz gleichgültig.«

Es war in der Tat völlig gleichgültig. Wenn sie nur nebeneinander hergehen durften, verstrickt durch das Unergründliche, unbegreiflich Süße, Geheimnisvolle – Blicke, Gesten, Lachen, Worte, das war ja das allerwenigste.

Die Menschen, die aus Elektrischen sprangen und in Restaurants eilten, die Unverschämten, die sie anblickten und Bemerkungen austauschten – sie sahen sie gar nicht.

Sie bogen in eine dunkele Straße ein, und sofort strahlten Klaras Augen wie Feuer, ihr blondes Haar flammte unter der grünen Mütze und ihre etwas vollen Wangen begannen geheimnisvoll zu schimmern. Ihr kleiner Mund aber glänzte naß und tiefrot.

Wunderbar! Hier in der Dunkelheit sah Heinz, daß sie atmete, was er früher nie beobachtet hatte. Ihre Brust bewegte sich, ergreifend, unter dem enganliegenden Jackett gleichmäßig auf und ab. Zum ersten Male hörte er auch ihren Atem, den er nie gehört hatte.

Klaras Lippen wurden durch ein Lächeln geöffnet, und im gleichen Augenblick rief sie jauchzend aus: »Es schneit, Heinz! Es schneit!« Und schon flog die grüne Mütze mit der baumelnden Quaste davon.

»Komm, komm!« Sie streckte ihm die Hand hin.

Nun liefen sie beide in den wirbelnden Schnee hinein.

Unterdessen wartete Hedi Westphal in der Halle des »Kaiserhofs«. Und Otto las unter einer Laterne gemächlich die Abendzeitung.

 


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