Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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6.

Kaum hatte der hohe Würdenträger die rote Backsteinvilla verlassen, so brauste der Lärm erneut auf. Die hochstehende Persönlichkeit da oben, mit dem General zur Seite, hatte die Ausgelassenheit etwas beeinflußt. Es war peinlich für viele, zu denken, daß ein so hoher Würdenträger sie bei ihren Albernheiten belausche. Schon der General störte, er störte, ohne es zu wissen, und man wünschte, daß er möglichst bald verschwinde.

Es kam auch die neue Kapelle. Zigeuner, die bis dahin in einer Bar gespielt hatten. Es war die beste Kapelle von Berlin, und augenblicklich fühlten es alle Tänzer.

Plötzlich aber ertönte laut und dröhnend ein Gong, und gleich darauf wurde es, bis auf wenige Kerzen, dunkel. Eine kleine, helle Bühne mit einem phosphorgrünen, dunstigen Vorhang im Hintergrund leuchtete. Der Vorhang teilte sich. Eine Hand erschien, ein nackter Arm, eine elfenbeinerne, glänzende Schulter. Eine schlanke Tänzerin trat aus dem Vorhang.

Alle Turbane, Perlenschnüre und Federbüsche sanken plötzlich zur Erde nieder.

Die Tänzerin war ein wunderbares Geschöpf mit einem herrlichen Körper und jungen, kleinen Brüsten. Sie war vollkommen nackt, nur um die Hüften trug sie eine Kette aus blauen Steinen und einen kleinen Schleier, eine Hand breit.

Mit jedem Schritt löste sie sich mehr vom Dunkel los, ganz allmählich tauchte ihr Körper in das Licht. Zuerst nur eine Ahnung von Fleisch und Herrlichkeit, wurde er langsam verwirrende Wirklichkeit.

Wie eine Somnambule schritt die Tänzerin vorwärts, die Augen visionär in die Ferne gerichtet. Sie hatte die Hände, zierliche, transparente Finger, an ihre beiden jungen Brüste gelegt. Nun stand sie still, ohne jede Regung. 235

Dann – bei einer bestimmten musikalischen Phrase – hob sie langsam den linken Fuß und begann sich in der Hüfte zu drehen.

In diesem Augenblick aber hub eine Uhr an zu schlagen. Es war ganz still, so daß das dumpfe, rasselnde Schlagen der Uhr deutlich zu hören war.

»Diese dumme Uhr!« sagte Dora halblaut und ärgerlich.

Die Musik brach ab, die Tänzerin stand, die zierlichen Finger an den Brüsten, regungslos, mit leicht geneigtem Haupte, um das Schlagen der Uhr abzuwarten.


Genau zur gleichen Stunde, an diesem Abend, meldete man Hauptmann v. Dönhoff in dem halbzertrümmerten Keller des Champagne-Dorfes, wo er zurzeit hauste, daß der befohlene Wagen zur Stelle sei. Dieser Wagen sollte den Leichnam seines Adjutanten Kammerer, gefallen auf der Beobachtung, nach rückwärts bringen. Dönhoff hatte den Wagen auf Mitternacht bestellt, weil zu dieser Zeit das feindliche Feuer weniger heftig auf seinem Dorfe lag, das heißt auf dem Schutthaufen, der von dem Dorfe übriggeblieben war. Die Nacht hatte indessen keine Ruhe gebracht. Die Geschütze tobten, und auch die Batterie Dönhoff feuerte, was die Rohre hergaben. Die schweren Schläge der Haubitzen erschütterten unaufhörlich den Keller, in dem die Batterieoffiziere um den Sarg des gefallenen Kameraden versammelt waren. Einschläge knatterten. Eine zusammengestürzte Scheune nebenan hatte einen Treffer bekommen, und der Schutt qualmte, ätzender Rauch drang in das Kellerloch.

Punkt zwölf Uhr wurde der Sarg von einigen Batterieleuten hinausgetragen und auf den Krümperwagen gelegt. Darauf verließen die Offiziere den Keller, um dem gefallenen Kameraden das letzte Geleit zu geben.

Die Luft war lau, erfüllt vom ätzenden Rauch der qualmenden Scheune. Der Himmel wetterleuchtete ohne Pause 236 von dem Gespinst von Blitzen, das von Horizont zu Horizont geisterte. Deutlich waren die umstehenden Kameraden zu erkennen – sogar die Tränen in ihren Augen. Furchtbar tobten die Geschütze, und die Abschüsse der Batterie, die feindliche Zufahrtstraßen unter Sperrfeuer hielt, knallten wie Explosionen. Die Granaten sägten und gurgelten über die Köpfe hinweg in die Nacht hinein.

Gegen Süden zu, hinter der feindlichen Linie, stand ein feuerspeiender Berg. Ein blutroter Glutkegel stieg in den schwarzen Himmel, unheimlich und düster: irgendein Lager war da drüben bei ihnen in Brand geraten. Nur wenn die Haubitzen in der Nähe ihre Feuergarben in die Nacht schleuderten, so glomm der Vulkan für Augenblicke fahler. Ohne Pause zuckten aus der Frontlinie gespenstige Lichtsignale in allen Farben empor. Sie krochen bald niedrig über dem Boden, bald erhoben sie sich wie Raketen und sprühten in der Höhe. Wie die höllischen Leuchtfeuer der Unterwelt sahen sie aus, der die Totenschiffe zusteuern.

Eine Laterne wanderte um den Krümperwagen, die Hinterteile der schweren Batteriepferde glänzten, der Sarg dehnte sich fahl im Wetterleuchten der Abschüsse. Auf dem Bock kauerte ein Schatten, dessen Maul Funken entstoben.

Die wütenden, raschen Schläge seiner Batterie erfüllten Hauptmann Dönhoff mit Genugtuung. Gebt es ihnen tüchtig! Rache für Kammerer! Auch der rotglühende Vulkan im Süden befriedigte ihn.

Erregt suchte der Gegner die Dönhoffsche Batterie zu packen. Ringsum flammten die Einschläge.

»Sie haben Kammerer eine ordentliche Totenfackel angezündet«, sagte er, und seine Stimme war von einem grausamen Triumph erfüllt.

Die Schatten der Offiziere drehten sich gegen Süden. »Ein Depot brennt«, sagte eine Stimme. Unruhig wieherte ein Pferd.

»Kameraden«, schrie plötzlich Dönhoff mit übermäßig 237 lauter und scharfer Stimme. Er wollte möglichst rasch über die Szene hinwegkommen, er wollte seinen Schmerz über den Verlust Kammerers verbergen, mit dem er drei Jahre zusammengelebt hatte.

»Kameraden, Kammerer verläßt uns. Er war ein tüchtiger und prachtvoller Junge. Fahre los! Lebe wohl, Kammerer!«

Dönhoff legte die Hand an die Mütze, und die Offiziere taten das gleiche. Die kleine Laterne kroch über die Räder empor neben den Kutschersitz und beleuchtete den langen, gelben Sarg.

In dieser Sekunde aber –

In diesem Augenblick begann es in der Luft zu sausen, ein hohles, saugendes Rauschen war plötzlich nahe, und im nächsten Augenblick schlug eine blendende Lohe bis zum schwarzen Himmel empor. Dönhoff stürzte, den Arm vor die Augen geschlagen, rückwärts in den Keller hinab. Er hörte den Knall der Explosion nicht mehr.

Verschwunden war der Wagen, der Kutscher, die Pferde und der Sarg. Verschwunden waren die Offiziere, nichts blieb als der kräuselnde, stinkende Qualm über dem Schutthaufen, den die schwere Granate hinterließ. Aber die Haubitzen feuerten noch.


Die Uhr hatte ausgeschlagen.

Die Tänzerin erwachte aus der hypnotischen Starre, in die das Rasseln der Uhr sie versenkt zu haben schien, die Lider hoben sich, und gelbe Funken fuhren aus den Augen. Sie atmete wieder. Ihre zierlichen Finger lösten sich von den jungen Brüsten, sie drehte sich in der Hüfte, hob das linke Bein, knickte plötzlich zusammen, so daß sie mit dem Kinn das Knie des linken Beines berührte – lächelte verzückt – und ihr Elfenbeinkörper blitzte.

Dichtgedrängt glänzten die Augen der Vermummten im Halbdunkel. Eine Schattenkugel mit zwei großen Ohren 238 hob sich für einen Augenblick auf dem hellen Hintergrund gespenstisch ab. Aber rasch duckte Professor Salomon sich wieder auf den Boden.

Der General auf seiner Empore hatte den goldenen Kneifer aufgesetzt.

»Du bist noch schöner!« flüsterte Ströbel in Hedis Ohr, und seine Lippen berührten ihren Nacken. Sie saßen dicht nebeneinander auf dem Boden. »Es ist nicht Liebe – ich belüge dich nicht, wie die andern Männer, aber es ist – Sympathie.«

 


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