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Zur gleichen Stunde ging Ruth die Tiergartenstraße entlang, ihrem Hause zu. Im Augenblick, da sie in das kleine verstaubte und verwahrloste Vorgärtchen eintreten wollte – sie hatte schon die Gittertüre in der Hand – rief eine leise Stimme ihren Namen.
Sie hielt inne. Im Schatten der Bäume gegenüber gestikulierte ein Schatten. Da sie zögerte, trat der Schatten einen Augenblick in den Lichtschein und winkte.
Ruth erkannte ihn. Zögernd überschritt sie den Fahrdamm. Der Mond flog dahin, hoch oben, von seinen Schleierwolken umtanzt.
»Sie? Was wünschen Sie von mir?«
»Schon seit Tagen versuche ich, Sie zu treffen. Bitte zu verzeihen. Ich habe neulich etwas zu sagen vergessen. Bitte, in den Schatten zu treten. Ich darf mich nicht sehen lassen –«
»Ich verstehe Sie nicht!«
»Vieles ist unverständlich – aber man hat mich gewarnt – ein hoher Herr ist ungehalten über mich. Man hat mir gedroht, mich in ein Irrenhaus zu sperren, wenn ich mich noch einmal sehen lasse.«
»Ich kann Sie wirklich nicht verstehen!«
»Tut auch nichts zur Sache. Nicht das wollte ich Ihnen sagen. Können wir ein bißchen weiter – so, danke – fürchten Sie nichts. Ich bin ein alter Mann, habe auch nichts getrunken heute. Mit Absicht. All diese Tage nicht. Ja, neulich – ich habe mich geschämt – aber gerade weil ich in diesem Zustand war, habe ich etwas zu sagen vergessen – etwas sehr Wichtiges.«
»Bitte –!«
»Nicht ich allein also, das wollte ich sagen –«
»Nicht Sie allein –?«
»Nein, nicht ich allein bin der Schuldige.« 403
»Ich verstehe Sie nicht.«
»Warten Sie. Es kommt jemand. Gehen wir ein paar Schritte. So.«
Flüstern im Dunkeln.
»Nicht ich allein also, sondern gleichzeitig – vielleicht sogar früher, ich weiß es nicht – aber es galt gar nicht ihm, sondern Ihnen.«
Flüstern. Plötzlich ein Schrei. Es ist Ruth, die schreit.
»Unmöglich! Unmöglich! Unmöglich!«
»Ich bitte Sie, gnädiges Fräulein – gehen wir – gerade kommt – so, ein paar Schritte –«
»Ganz unmöglich!«
»Ich schwöre! Der Agent sagte es mir.«
Flüstern. Raunen. Wieder bewegen sich die Schatten im Dunkel der Bäume vorwärts.
Plötzlich bleibt Ruth stehen.
»Schwören Sie mir –!«
»Ich schwöre!«
»Schwören Sie mir – bei Ihrem Sohn, der gefallen ist –«
»Ich schwöre!«
»Beim Andenken Ihrer Frau – schwören Sie –«
»Ich schwöre!«
»Hören Sie: Sie sollen ewig verflucht sein, wenn Sie lügen –«
»Ewig verflucht soll ich sein –«
Ruth schlägt die Hände vors Gesicht und läuft in die Finsternis des Parkes hinein. –
Der Mond flog über den finstern Himmel, durch brodelnde Wolken hindurch. Aber schließlich kam er nicht mehr von der Stelle. Er blieb in einer pechschwarzen Wolke stecken, und endlich verschwand er vollkommen. Die Bäume des Tiergartens neigten die Wipfel – ein Windstoß pfiff über sie dahin.
In völliger Dunkelheit lag plötzlich die Stadt, schwarz 404 und leblos, wie der Kadaver eines stachligen Riesentieres, das auf dem Marsch durch die Rübenfelder und Kartoffeläcker verendet war und faulte. So lag sie zwei, drei, fünf Minuten, dann aber verschwand sie in einer ungeheuren Staubwolke, die aus den Straßenschluchten emporschlug. Ein Gewirr von Blitzen griff nach ihr, umklammerte sie, um sie zu vernichten. Der Donner knatterte.
Plötzlich begannen die verspäteten Passanten erschrocken dahinzueilen! Nein, nicht das Wetter war es! Etwas ganz anderes –
Durch die dunkeln Straßenschluchten flatterte – in unheimlicher Eile – ein weiter, heller Soldatenmantel. Glänzende Hände, glänzend im Schein der Blitze, pochten donnernd an die Türen der Häuser: Auf, auf, ihr Schläfer, die Stunde ist gekommen! Die glänzenden Hände berührten die Schultern der Dahineilenden, daß sie erbleichten: Zögert nicht länger! An den schwarzen Scheiben der finstern Häuser fuhr ein glänzendes Antlitz vorbei: Schon sind sie unterwegs die Boten des neuen Reichs. Seid bereit!
Da trug der Wirbelwind den flatternden Soldatenmantel in die Höhe, und die glänzenden Hände, das glänzende Antlitz flogen mit rasender Schnelligkeit über die Dächer der Stadt dahin.
Was war es? Was für Dinge geschahen in dieser Stadt –?
Nun rauschte der Regen.
Die Schutzleute flüchteten, die Diebe und Einbrecher huschten in Torbogen – sonst war niemand mehr auf der Straße.
Ein herrlicher, wunderbarer Regen, kalt, klar, rücksichtslos stürzte aus dem schwarzen Himmel.
Hauptmann v. Dönhoff stand unter einer Haustüre am Ende der Lessingallee. Weiter war er nicht gekommen, das Wetter hatte ihn überrascht. 405
Hier stand er nun und lauschte glückselig auf das Rauschen des Regens und das Krachen der Donnerschläge. Ja, ganz wunderbar!
Da – eine Droschke klapperte dahin.
»He, Kutscher – hundert Mark für die Fahrt!«
»Heda, Droschke! Droschke, halt!«
Es war wieder nichts. Die Pferdehufe klappten weiter.
»Heda, Droschke! Hundert Mark!«
Ah, endlich hatte er Glück. Die Droschke hielt.
Hauptmann v. Dönhoff, mit der schwarzen Brille auf der Nase, tastete sich durch den Regen. »Wo sind Sie denn? Ich sehe etwas schlecht.«
»Hier stehe ich!«
Langsam schaukelte die Droschke durch die Sintflut. Dönhoff streckte die Nase durch das Fenster und schnupperte. Herrlich diese Luft, herrlich dieser Regen und geradezu berauschend das Knattern des Donners. Endlich etwas Lärm! Die Straßen waren wie reingefegt. Nur dann und wann das Klatschen von Pferdehufen und das Rasseln eines eisernen Ungeheuers, das Dönhoff als ein Auto feststellte.
Endlos war diese Reise in das Bayrische Viertel, aber ein Hochgenuß. Zum ersten Male verließ er sein Zimmer in der roten Backsteinvilla, wo keine Seele sich um ihn kümmerte. Frei! Frei! Er zündete sich eine Zigarette an, verbrannte sich etwas die Nasenspitze, aber das schadete nichts. Wie eine Reise erschien ihm diese Droschkenfahrt durch das dunkle, regenrauschende Berlin.
Da hielt die Droschke, und Dönhoff kroch heraus.
»Und nun, mein Freund, eine große Gefälligkeit, da ich schlecht sehe – klingeln Sie den Portier heraus. Ich möchte zu Fräulein Alexa Alexandra.«
Alexa Alexandra? Eine Tänzerin, das heißt weniger eine Tänzerin als eine Dame. Früher war er befreundet mit ihr, er hatte sie gewissermaßen entdeckt, kreiert. Petersen hatte ihm im Telephonbuch ihre jetzige Adresse aufgesucht. 406
Der Kutscher steckte sein Benzinfeuerzeug in Brand, überzeugte sich, daß die Banknote echt war, und begann den Portier herauszuklingeln.
»Er bekommt ein schweres Trinkgeld – sagen Sie –«
Und dieser Portier brachte ihn im Lift zu Alexa Alexandra hinauf.
»Bitte, klingeln Sie – ich sehe schlecht!«
Offenbar hatte Alexa Gesellschaft – Lachen, Händeklatschen, ein sehr lauter Phonograph, Stampfen – das traf sich ausgezeichnet.
Die Türe öffnete sich, und Dönhoff bat der Dame des Hauses zu sagen, daß »Rinaldo« vor der Tüte stände und sie erwarte. »Rinaldo! Sonst nichts! Sie kennen doch den berühmten Räuberhauptmann? Ich bin es!«
Ah! Dönhoffs Herz pochte – es hatte nicht so laut gepocht, als die Granaten einschlugen – ein Ausruf, ein Schrei! »Rinaldo! Wirklich?« Und zwei Arme umschlangen Dönhoffs Hals, zwei weiche, gepuderte, duftende Arme.
»Rinaldo, Lieber, Liebster! Welche Überraschung!«
Aber sofort hatte Alexa herausgefunden, daß diese Sache mit den schlechten Augen auffallend war, diese entsetzliche schwarze Brille!
Sie schob diese Brille mißtrauisch in die Höhe – und da waren also, wo sonst die Augen sind, wo sonst diese Augen waren, sie kannte diese frechen Augen – zwei rote Nähte, keine Augen mehr.
Alexa stieß entsetzte Schreie aus. »Mein Gott, was haben sie mit dir gemacht?«
Sie weinte und stampfte mit den Füßen.
»Ah, diese Schurken!« schrie sie – und der laute Phonograph spielte einen Twostep – »Sie haben ihn blind geschossen!« Und sie drückte ein paar rasche Küsse auf diese roten Nähte, wo die Augen früher saßen.
»Meine Herrschaften!« – der Phonograph schwieg – »Ich stelle Ihnen hier meinen Freund vor, meinen lieben 407 alten Freund, Baron Dönhoff – ein lieber Junge! Er ist blind – diese Schurken von Franzosen haben ihn blind geschossen! Er ist der berühmte Herrenreiter Dönhoff. Sie erinnern sich, meine Herren – er gewann so viele Rennen – Kitty, gehe weg – nun ist er also wieder in Berlin – ja, hier bist du zu Hause, du lieber Junge!«
Dönhoff lächelte verlegen. Er schämte sich.
Die Alexa küßte ihn, und er fühlte, wie ihre Tränen seine Wangen näßten. »Noch etwas –ladies and gentlemen – er wünscht nicht, daß man auf ihn die geringste Rücksicht nimmt. Also weiter!«
Der Phonograph ertönte wieder – die Füße, die Schuhe schlürften.
Die Alexa führte ihn in eine Ecke zu einer Ottomane. Parfüm, allerlei Essenzen, der Geruch eines scharfen Punsches, Musik und dicht an ihm vorbei flatterten die Röcke.
»Ganz ungestört sollst du hier sein, du lieber Junge. Du bist zu Hause und kannst es dir ruhig bequem machen. Siehst du denn gar nichts mehr? Nein! Oh, diese elenden Schurken! Hören Sie, Doktor, geben Sie ein Glas Sekt für Baron Dönhoff – vielleicht haben Sie Geld gewonnen, als Sie seinerzeit auf ihn setzten? Er gewann fast immer, ach, das waren Zeiten! Im ganzen sind fünfzehn Menschen hier, Rinaldo, sechs, sieben Damen. Ich werde sie dir vorführen. Lola!«
»Hier also, das ist die kleine Lola. Sie ist eine Ungarin eigentlich. Sie ist ganz schwarz, und ihre Brauen wachsen zusammen. Aber sie ist eine ganz kühle Person, ganz und gar nicht sinnlich – oder, Lola? Ja, so komm doch dicht an ihn heran. Verstehst du mich, er sieht ja nichts, er ist blind. Sei lieb zu ihm, sei nett – er ist nett zu mir gewesen, vor zehn Jahren, als ich noch Verkäuferin war und am Sonnabend in Halensee tanzte – ja, fühle nur, die Brauen wachsen tatsächlich zusammen – fühle nur – küsse ihn, Lola, du mußt nett zu ihm sein.« 408
Und Lola küßte Dönhoff und streichelte ihn.
»Das hier ist Fiffi – wie nett, sie kniet vor dir. Küsse sie, so! Sie ist die Freundin dieses kleinen Schwarzen dort, der mit dem Monokel, die beste Tangotänzerin in Berlin. Sie ist blond, aber ihre Haare sind gefärbt – Fiffi – er sieht doch nicht, er ist blind, ich muß ihm also alles beschreiben. Sie tanzt wunderbar und hat zwei erste Preise gewonnen.«
»Und hier, das ist Thea – sie ist etwas üppig – aber Thea, er sieht doch nicht! – sie hat ganz große blaue Augen und filmt. Du würdest dich in sie verliebt haben, weil sie so drollig ist. Küsse ihn, Thea, er ist ein so lieber Junge!«
»Und das hier – Rolli – come along! – Rolli – ein kleiner Teufel! Siehst du, sie bringt dir gleich Punsch mit! Sie ist erst achtzehn Jahre alt, aber schon völlig verdorben. Pfui, Rolli – beherrsche dich doch! Aber sie ist sehr süß. Sie hat, nun dir darf ich es ja sagen, eine kleine Schwäche für Frauen und kennt die Damen der höchsten Gesellschaft. Ihr Freund ist ein Dichter. Siehst du, sie trinkt an derselben Stelle des Glases, wo du getrunken hast. Sie will dir zeigen, wie lieb sie dich hat. Ja, das also ist der berühmte Rinaldo – nun entstellt ihn ja diese häßliche Brille etwas, aber man gewöhnt sich ja rasch!«
»Und das hier – Reh – sie heißt Rebekka – Reh, komm hierher. Siehst du, sie ist ein Kind. Sie hat Tränen in den Augen. Aber sie ist auch ein bißchen angetrunken. Reh! Was tust du? Ach, siehst du, sie weint. Küsse ihn, so, so, küsse ihn. Er sieht ja nicht, man muß nett zu ihm sein.«
»Du siehst, wie sie dich hier verwöhnen. Das ist Blanche, und sie bringt dir ein Pralinee. Stecke es ihm doch in den Mund! Blanche heiratet übermorgen, und dann werden wir Tag und Nacht bei ihr tanzen. Sie heiratet einen Sattler, der im Kriege sieben Millionen verdient hat. Ja, reizend wird es bei ihr werden. Fühle nur ihre Ringe. Fühle doch. Alles echte Steine, aber er ist so verschossen in 409 sie. Fühle doch ihre Wangen. Hast du je so etwas Sanftes gefühlt? Ihr Teint ist herrlich. Fühle ihre Hüften – was sagst du? – Ah, siehst du, Rinaldo –«