Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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13.

In der kahlen, verwahrlosten Fabriciusstraße erscheint – ist es möglich, an einem Wochentage, in diesen Zeiten – ein Zylinder! Der Zylinder kommt näher, immer näher, er verschwindet im »Löwen von Antwerpen«.

Der bucklige Wirt blinzelt mit den düsteren Eulenaugen und bringt die Flasche Roten und das Schachbrett.

»Meine Hochachtung«, flüstert er, wie es seine Art ist, leise – er sprach jahrelang kein Wort, in einer gewissen Periode seines Lebens. »Sie treiben es nobel in diesen Tagen! Immer noch diese amtliche Sache?«

»Gestern war es leider nichts. Ich hatte versäumt – hatte ja keine Visitenkarten. Alles hat seine Formen. Plötzlich denke ich gestern: nun und die Visitenkarten?«

Herr Herbst hatte sich verändert. Das Rasiermesser hatte Kinn und Wangen geglättet, und der Haarkranz war etwas geschnitten. Im ganzen hatte das Volumen des Kopfes nur minimal abgenommen, aber es schien, als sei der Kopf um die Hälfte eingeschrumpft. Und hinten im Nacken, wo der Hinterkopf ansetzte, waren faustgroße Höhlen sichtbar geworden. Wie in den letzten Tagen, trug er auch heute einen etwas verknüllten, zu langen schwarzen Gehrock, 153 und wieder empfand der bucklige Wirt Hochachtung vor ihm, als er den Gehrock erblickte. Dieser kleine alte Mann, der mit dem Gläschen in der Hand vor den Munitionsarbeiterinnen tanzte und sich zum Gespött der frechen Geschöpfe machte – wer war er? Ein Heruntergekommener, ein Sonderling – er behauptete, Lehrer an einem Gymnasium gewesen zu sein, aber was behaupteten die Leute heutzutage nicht alles?

»Heute aber sollen die Karten fertig werden. Er hat mir sein Ehrenwort gegeben«, fügte Herr Herbst hinzu, und seine kleinen, etwas schmutzigen Hände rasselten gierig mit den Schachfiguren. Dieses Rasseln der Schachfiguren, immer erinnerte es ihn an einen kleinen Marmortisch mit blankgeputzter Messingeinfassung – sein Stammcafé in der Provinz, einst, lange war es her.

»Sie haben den Anzug, Herr Herbst!« flüsterte der Bucklige und schob das spitze Kinn über das Schachbrett.

Herr Herbst griff nach dem Glas. Seine Hand zitterte. Ja, schlimme Tage hatte er hinter sich. Er zerdrückte den Wein auf der Zunge zwischen den gelben Zahnstumpen. Plötzlich sah er deutlich – sollte man es für möglich halten? – das Gesicht des Generals im Glase! Er schloß rasch die Augen und ließ das ganze Glas durch die Kehle hinunterlaufen. Noch ein Glas – und nun war er bereit.

Kraft und Mut strömten aus dem Wein.

Furcht? Nein, nein, er hatte keine Furcht.

Er nahm das Aluminiumetui aus der Tasche, zündete sich eine Zigarre an und setzte sich zurecht.

»Und nun wollen wir einmal etwas ganz Neues versuchen.« Er zog den Turmbauern.

Noch weiter schob der Bucklige das spitze Kinn über das Brett.

Eine Falle? Wie, was? Was wollte er mit dem Turmbauern?

»Sie haben ja ein Feld zu weit gezogen.« 154

»Zu weit? Nun, dann nehmen wir ihn eben um ein Feld zurück.« So hochgemut fühlte sich Herr Herbst in diesem Augenblick, daß er den Bauern gleich über drei Felder vorstoßen ließ.

Die Partie begann. Beide waren leidenschaftliche Spieler.

Herr Herbst lehnte sich im Stuhl zurück und blies den Rauch in die Luft.

Furcht? Wieso? Vor wem? Vor ihm?

Die Karten würden um vier Uhr fertig werden, nun und dann . . .

Wieder trank er ein Gläschen.

Alles war ja in seinem Kopfe zurechtgelegt. Jedes Wort, die Rede floß in Gedanken. Und, hm, auch die Verbeugungen und Anreden hatte er schon eingeübt, ganz genau. Weshalb sollte er Furcht haben? Schließlich war er doch nicht der Kaiser, wie?

Kein Zweifel, er würde ihn zwingen, ihm Rede und Antwort zu stehen, jede Auskunft, die er wünschte, zu geben.

Er hatte ja die Briefe in der Tasche, zum Beispiel, am 4. August griff ein Jägerbataillon an, kein Mann kehrte zurück. Weshalb also mußte am 5. August – er würde natürlich in aller Höflichkeit, in aller Bescheidenheit . . .

»Schach der Königin!« rief er laut und warnend.

»Wahrhaftig! Nun, Sie erlauben, ich nehme den letzten Zug nochmals zurück – es heißt überlegen. Sie gehen ja scharf vor, heute.« Die düsteren Eulenaugen des Buckligen begannen zu glühen.

Herr Herbst griff in Wahrheit stürmisch an. Er fühlte sich seinem Gegner heute weit überlegen, und er hätte jede Summe gewettet, daß er gewann, obgleich der Bucklige für gewöhnlich stärker spielte – unter den jetzigen Umständen, früher, da hätte er ihn ja nie schlagen können.

Natürlich, der Kaiser war er ja am Ende nicht. Und schließlich – er würde ihm ja ebenfalls gefällig sein! Nein, 155 nein, es war ganz und gar kein kleiner Dienst – bei rechtem Lichte betrachtet. Vielleicht würde er sagen: aber mein lieber Herr Herbst, weshalb sind Sie nicht früher gekommen? Wer weiß? Wer weiß?

Ja, so würde er beginnen. Von diesen jungen Leuten nebenan würde er berichten – von ihren Ideen, ihren Absichten, gefährlichen Absichten – nun ja, rascher als irgendein anderer würde der General verstehen.

Und dann würde er auf das Mädchen zu sprechen kommen –.

»Vorsicht, Herr Herbst!«

»Ich sehe schon – eine richtige Falle. Ei, ei!«

»Aber was tun Sie?«

»Ich bin gezwungen, den letzten Zug zurückzunehmen.«

»Aber, aber –.«

»Auch Sie haben ja einen Zug zurückgenommen.«

Dieses Mädchen also, so würde er sagen, hatte er zuerst gar nicht beachtet. Wie sollte er auch? Alle diese Soldaten hatten ja ihre Mädchen, nicht wahr, es war einmal nicht anders. Nicht beachtet. An den Sonntagen kochte sie den Tee, bot Zigaretten an. Sie selbst sprach eigentlich wenig, nur hier und da warf sie ein Wort ein. Man hörte ihre Stimme kaum, so fein klang sie.

An den Wochentagen kam sie zuweilen abends, und dann war sie mit ihm allein. Nun sie waren junge Leute, was sollte da besonderes dabei sein? Er hörte nicht zu, hatte seine eigenen Gedanken. Eines Abends aber, plötzlich sprechen sie über gewisse Dinge – wie interessant! Was ist das? Offenbar kennt das Mädchen genau die Familienverhältnisse einer gewissen hochgestellten Persönlichkeit. Nun, es war jedenfalls sonderbar, daß sie so genau Bescheid wußte –

Tief in seine Gedanken versunken, legte sich Herr Herbst im Sessel zurück und blies den Rauch in die Luft. 156

Sie plaudern also über gewisse Dinge, ganz harmlos. Sie denken wohl nicht, daß ich nebenan alles höre, denken wohl, ich sei ausgegangen.

Oben an der Türe sehe ich Licht.

Ich weiß wohl, was sich schickt und was unpassend ist – aber, aber, ich kann nicht widerstehen. Das Licht reizt mich. Ich trage den Stuhl zur Türe, vorsichtig natürlich – steige hinauf – so, so – strecke mich und blicke durch den Spalt. Ich drehe das Auge hin und her. Ah, da sitzt er also, der Soldat, und daneben – auf dem Sofa . . .

Plötzlich sehe ich ihr mitten ins Gesicht!

Der Schreck – glauben Sie mir – die Überraschung – ich wäre um ein Haar vom Stuhl gefallen! Denn wenn ich auch das und jenes dachte – ich glaubte es ja nicht – es schien mir unmöglich – die Stimme, hm, das Gespräch, aber es war ja unmöglich – und doch – doch!

Dieses Mädchen, Herr General, diese Dame –

»Schach und matt!« rief der Bucklige triumphierend, und Herr Herbst prallte zurück.

Also geschlagen, abermals geschlagen!

Herr Herbst zog die Uhr – er besaß eine goldene Uhr, sonderbar! – und wurde plötzlich von Unruhe ergriffen.

»Ja, nun wird es aber Zeit für mich – höchste Zeit!« sagte er und stülpte hastig den Zylinder über den Schädel. Ganz wie der steife schwarze Hut war auch der Zylinder um eine Nummer zu groß und sank auf die abstehenden grünlichen Ohren herab.

In höchster Eile verließ er die Kneipe.

 

Schon dunkelte es. Lautlos und unaufhörlich sank der schwarze Aschenregen auf die sterbende Stadt.

Eine Stunde später, und Berlin war völlig finster. Undurchdringliche Finsternis lag über den deutschen Landen, undurchdringliche schwarze Nacht lag über Europa, zuckend vor Schmerzen, gebadet in Blut und Tränen. 157

Wann endlich?

Horch! Hunderttausend Geschütze wiehern wollüstig durch Europas undurchdringliche schwarze Nacht.

Ja, wann endlich? Eile, binde deine Schuhe, Erlöser, und eile, wenn du kommen willst!

Schon sind Europas Augen blind vom Weinen, schon stockt der Schlag seines Herzens. 158

 


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