Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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Zweites Buch

1.

Der Leichnam des jungen Heinz war nach Berlin gebracht worden. An einem hellen Frühlingstag wurde er in die Erde gebettet. Die Kampfstaffel hatte den jungen Meerheim mit einem Kranz geschickt. Der Trauerzug war nur klein. Ohne eine Träne im Auge folgte die Majorin Sterne-Dönhoff dem Sarge ihres Sohnes, die Schwestern weinten leise und schüchtern. Etwas hinter dem kurzen Trauerzug, dicht verschleiert und schwarzgekleidet wie eine Witwe, ging Klara, deren schmale Schultern von einem ununterbrochenen Schluchzen geschüttelt wurden. Heinzens Freunde, Schüler, Knaben, sangen des Gefallenen Lieblingslied: Deutschland, Deutschland über alles. Die Majorin hatte es gewünscht. Sie selbst stimmte in das Lied ein, während sie mit verklärtem Lächeln in die Weite des Frühlingshimmels blickte.

Der junge Meerheim sprach einen kurzen Nachruf, mit unbewegter, soldatisch scharfer Stimme; acht Tage später wurde er selbst im Luftkampf getötet.

Noch nicht neunzehn Jahre alt, war Heinz gefallen.

Klara preßte das zusammengerollte Taschentuch zwischen die Zähne.

Sonderbar, und nicht die leiseste Ahnung! Am Abend vorher hatte noch ihr Stern so herrlich und verheißungsvoll gefunkelt.

Es war an dem Morgen nach Doras Fest geschehen – gerade in der Stunde, da sie einschlief. Meerheim sah die Maschine stürzen.

Einige Tage vorher – sie erinnerte sich dessen – hatte sie von Heinz geträumt. Er stand auf dem Flugplatz, die grüne Wollmütze auf dem Kopf, und auf seiner Brust glitzerte in der Sonne das Medaillon. Er spielte mit einem 315 kleinen Dachshund, und Schwärme von furchtbar anzusehenden Flugzeugen, mit barbarischen Farben bemalt, rasten über ihn hin. Aber er sah sie gar nicht, spielte mit dem Hunde – man konnte diesen Traum wohl nicht eine Ahnung nennen?

Ohne jede Sorge, ja, mehr, mit dem Gefühl der Sicherheit, war sie nach Doras Fest schlafen gegangen, glücklich und voller Hoffnungen.

Vor wenigen Tagen aber fuhr sie in die Stadt. Nach ihrer Gewohnheit kaufte sie in einem Kiosk der Untergrundbahn wahllos einen Stoß Zeitungen. Wie viele Menschen, war sie zu einer fanatischen Zeitungsleserin geworden, es war eine förmliche Krankheit bei ihr. Plötzlich war es ihr, als ob sie seinen Namen gelesen habe! Unglaublich zwar – aber hatte er ihr nicht oft gesagt: gib acht, eines Tages wirst du plötzlich meinen Namen in den Zeitungen lesen, und wie überrascht wirst du sein! Sie blätterte, und richtig – da stand sein Name: Heinz Sterne-Dönhoff. Sie las, und sie begriff zuerst nicht. Nachdem vor knapp einem Jahre sein Vater, der Major Sterne-Dönhoff, den Heldentod . . . Sie las die Unterschriften, und plötzlich begriff sie.

Sie warf ihre Zeitungen auf den Sitz, daß sie umherflatterten, und rannte durch den Wagen.

»Er ist tot,« schrie sie, »ich will hinaus!«

»Aber Sie sehen doch, daß der Zug fährt, Sie können doch nicht aussteigen«, sagten die Herren, die die Türe verbarrikadierten. »Sie zerschmettern sich den Kopf, liebes Fräulein.«

Da fuhr der Zug in einen Bahnhof ein, und Klara stürzte hinaus.

»Es ist schrecklich, jeden Tag erlebt man jetzt derartige Szenen. Gestern sprang eine Frau auf dem Bahnhof Spittelmarkt vor den Zug und ließ sich überfahren. Ich sage Ihnen, es war entsetzlich – dieser Schrei!« 316

»Hören Sie auf, ich kann von solchen Dingen schon gar nichts mehr hören –.«

Arme, kleine Klara, sie begriff es noch heute nicht. –

Ja, nun wollte sie es wagen. In Gottes Namen!

Sie drückte auf die Klingel und gab ihre Karte ab. Diese Karte war schwarz umrändert. Klara war so tief und dicht verschleiert, daß man kaum noch einen Schimmer des Gesichts sah.

Das Mädchen kam nach auffallend langer Zeit zurück und forderte sie auf, einzutreten. Die Majorin Sterne-Dönhoff und die beiden Schwestern waren im Zimmer. Ach, ihre Gesichter, überall Heinz, in allen Linien. –

»Was verschafft uns die Ehre?« fragte die Majorin Dönhoff mit einem prüfenden Blick aus ihrem gelblichen, langen Gesicht.

»Ich bin –« stammelte Klara, »ich wollte gern –«

»Ich verstehe Sie nicht!« sagte Frau v. Sterne-Dönhoff leise. »Wollen Sie bitte Platz nehmen!«

Die Schwestern starrten verlegen.

»Ich wollte nur«, begann Klara wieder, »Sie besuchen«, und plötzlich fing sie an zu schluchzen.

»Was haben Sie nur, mein liebes Fräulein?«

Stille.

»Ich bin seine Verlobte!« stammelte Klara.

Wiederum Stille.

Da niemand etwas sagte, fuhr Klara fort: »Ich war seine Geliebte.«

Die Majorin fiel ihr ins Wort. Kühl und förmlich sagte sie: »Mein Sohn hatte keinerlei Geheimnisse vor mir. – Geht hinaus!« herrschte sie die beiden Schwestern an, und sie verließen sofort gehorsam das Zimmer.

»Wie sagten Sie? Seine Geliebte?« Die Majorin dämpfte die Stimme.

»Ja. Ich bin seine Geliebte.«

»Aber wissen Sie auch, was Sie sagen?« 317

»Vollkommen.«

»Sie wollen also sagen« – die Majorin stockte – »Sie wollen doch nicht sagen, daß Sie mit Heinz in Gemeinschaft gelebt haben?«

Klara zuckte zusammen und hob den hilflosen, wunden Blick zu den graublauen Augen empor. Sie errötete. »Nein, nicht das –« stotterte sie. »Das wollte ich nicht sagen.«

Auch über das gelbe, lange Gesicht der Majorin huschte ein dünnes Rot. Erleichtert und etwas freundlicher sagte sie: »Nun, dann danke ich Ihnen herzlich für Ihren Besuch, mein liebes Fräulein!« Sie versuchte, ihrer Stimme sogar einen warmen und aufrichtigen Klang zu geben. Aber als Klara sie mit fassungslosen Augen ansah, fügte sie flüsternd hinzu: »Sollten Sie vielleicht irgendwelche Ansprüche zu stellen haben?«

Fassungslos waren die wunden Mädchenaugen auf sie gerichtet.

Da lächelte die Majorin und streckte Klara die Hand hin. »Herzlichen Dank, mein Kind. Wie heißen Sie?«

Aber Klara antwortete nicht, ihr Blick glühte. Sie berührte diese lange, gelbe, entsetzliche Hand nicht. Sie wich zurück, verbeugte sich tief, sehr tief, und ging hinaus. Die beiden Schwestern lugten durch die Türspalte. »Von ihr ist die Locke, die er in dem Medaillon trug«, flüsterte die eine, und die Stimme der Majorin rief: »Emma, Bertha.« Klara befand sich wieder auf der Treppe.

Ach, und die kleine, törichte Klara hatte sich zu Hause ausgedacht, daß sie vor der Majorin und den Schwestern in die Knie fallen werde, um ihnen zu sagen, daß sie gekommen sei, den Schmerz mit ihnen zu teilen. Sie wollte ihnen die Hände küssen und mit ihnen weinen.

Sie war ein Kind und wußte nichts um die Eifersucht einer Mutter.

Betäubt und völlig fassungslos stieg sie die Treppe 318 hinab. Es war die Treppe, über die sein Schritt eilte. Sie berührte sie liebkosend mit den Fingerspitzen. Sie wollte diese Treppe auch küssen – aber in diesem Moment wurde ein Kinderwagen aus einer Türe geschoben, und sie entfloh.

Aber sie kam wieder, als die Damen Sterne-Dönhoff ausgegangen waren, und sie küßte die Treppenstufen und kniete auf ihnen. Dreimal kam sie im Laufe der nächsten Wochen und schlich wie ein Dieb durch das Treppenhaus. Einmal war es schon ganz finster. Dann kam sie nicht mehr.

 

Das Paradies war versunken, nichts blieb als Finsternis, unendlich –und inmitten dieser finsteren Unendlichkeit stand sie, Klara, die Hände auf ihr zuckendes Herz gepreßt.

Solange Papa zu Hause war, mußte sie die Trauerkleider ablegen. Sie wollte Papas Fragen vermeiden. Zuweilen schon streifte sie bei Tische sein Blick – ihre Augen waren gerötet, ohne Glanz, ihre Wangen ohne Farbe. Papa, ihr armer Papa, der ohnehin in den letzten Tagen so auffallend erregt, ja verstört war. Mehr, als er es sich merken ließ, schien ihm Hedis Rücksichtslosigkeit nahe zu gehen.

Ja, diese Hedi hatte es tatsächlich übers Herz gebracht, das Haus zu verlassen. Anfangs war sie nur selten und sehr unregelmäßig gekommen, sandte immer Boten mit Briefen – Arbeit, unerwartete Vorkommnisse. Schließlich kam sie gar nicht mehr. Ganz unmöglich, dieser Weg – und Arbeit, Tag und Nacht mußte man zur Stelle sein.

Der Geheime Rat – nie hätte es Klara für denkbar gehalten, fügte sich, ohne den Versuch eines Widerstandes.

Er ging wohl etwas erregt hin und her und knackte mit den Fingern, zupfte an seinen dünnen Barthaaren. Er hatte Bedenken ohne Zweifel, schwere Bedenken! Ein Herr Ströbel oder Herr v. Ströbel – ein während des Krieges reich gewordener Mann – hm! Aber schließlich: er besaß kein Vermögen, und da er kein Vermögen besaß, so war 319 auch seine Karriere so gut wie abgeschlossen – derselbe Schreibtisch, derselbe Aktenständer, derselbe Spucknapf – bis zur Pensionierung.

Ja, was war da zu tun? Wieder knackte er mit den Fingern.

Bei dem heutigen Geldwert konnte er seinen Töchtern nichts mehr bieten, gar nichts mehr. Sie mußten selbst sehen –.

Es war gar nichts zu tun, mit einem Wort.

Und übrigens hatte er gerade jetzt, gerade in diesen Tagen, ganz andere Sorgen! Schlaflos verbrachte er die Nächte. Ein ungeheures Mißgeschick, wenn man so sagen darf, war ihm widerfahren: es gehörte zu seiner Tätigkeit im Auswärtigen Amt, die deutschen Interessen in drei fernen exotischen Ländern zu vertreten. Zu diesem Behufe veröffentlichte er mit Unterstützung eines Universitätslehrers jeden Monat ein Korrespondenzblatt, dessen sich die Presse allerdings nur wenig, ja, man kann getrost sagen, gar nicht bediente, leider. Nun aber hatte eines der exotischen Länder an Deutschland den Krieg erklärt – und ihm, ihm war es völlig entgangen! Das letzte Korrespondenzblatt hatte sogar noch einen lobenden, beruhigenden Aufsatz aus der Feder seines geschätzten Mitarbeiters enthalten, und doch lebte man mit jenem Lande schon seit drei Wochen im Krieg! Welches Mißgeschick! Wenn der Minister es bemerken sollte –? Allerdings waren ja schon drei Wochen vergangen, und niemand hatte bis jetzt etwas bemerkt, vielleicht ging der Kelch noch einmal an ihm vorüber!

Das waren die Sorgen des Geheimen Rats, und es war ihm natürlich zurzeit gänzlich unmöglich, sich viel um seine Töchter zu bekümmern. Es war ja schließlich keine Schande, wenn Hedi Schreibmaschine schrieb und Briefe abfaßte – und sie bekam mehr Gehalt sogar als er. – Es schien ihr gut zu gehen, hatte sie doch kürzlich 320 sogar eine Gänsekeule in Gelee geschickt. Im übrigen war ihm der Charakter Hedis Bürgschaft genug . . .

Der wilde Schmerz trieb Klara in diesen Tagen sogar zu Hedi, obschon sie sich vorgenommen hatte, die Schwester in Zukunft zu ignorieren.

Aber Hedi hatte wenig Verständnis für ihr Leid. Sie war gerade mit dem Einrichten ihrer Wohnung beschäftigt. Im Salon sollte eine Decke eingezogen werden – mit goldenen Kassetten zwischen ultramarinblauen Balken – nein, Hedi hatte gar kein Verständnis. Sie wollte ihr einen Frühlingshut schenken. Sie heuchelte ja Teilnahme, aber Klara fühlte nur zu deutlich –.

Sie kam auf den Gedanken, Ruth zu besuchen. Ruth? Weshalb Ruth? Sie hatte sie nur einigemal gesprochen – kannte sie kaum, aber instinktiv suchte sie bei ihr Zuflucht.

Indessen Ruth war nicht da! Der General trat zufällig in die Diele. »Meine Tochter ist nie zu Hause!« sagte er – wie es Klara schien – mit Bitterkeit in der Stimme. Feierlich und prunkend – diese Diele. Dunkle Gemälde in breiten Rahmen, ein riesiger Spiegel und davor zwei Neger aus Bronze oder Eisenguß, die hohe Kerzen trugen. Voller Mißtrauen schien der General sie zu betrachten, sein Blick war prüfend und unbehaglich, ganz wie der Blick von Frau v. Sterne-Dönhoff. Die sie haßte und verachtete.

Ja, wohin?

Schließlich kam sie auf den Gedanken, Dora aufzusuchen. Sie beichtete Dora alles! Aber Dora hatte ebenfalls kein Verständnis für ihren Schmerz. Sie küßte sie, nahm sie in die Arme und drückte sie an ihr Herz. Sie versuchte sie zu trösten – sagte, es sei ein Verbrechen, Kinder, wie Heinz, in diese Metzelei zu schicken – aber sie hatte gerade die Schneiderin im Hause, und ihr Kopf war erfüllt von Frühjahrs- und Sommertoiletten, man mußte ja jetzt schon an den Sommer denken. Schließlich 321 kam Otto dazu, und Otto betrachtete sie mit neugierigen Blicken, die Klara unangenehm waren.

Sie ging.

Allein, ganz allein mußte die kleine Witwe ihren Schmerz tragen. Sie wußte noch nicht, daß der Mensch in seinem Schmerz immer allein steht.

Wie eine Verzweifelte irrte sie Tag für Tag, bis in die späte Nacht hinein, durch die Straßen. Für ihn die Flaggen – mein Geliebter, mein Held! – für ihn das feierliche Geläute der Glocken! Niemals würde sie auch nur die Hand eines andern Mannes berühren! Sie war seine Witwe.

Sie war freundlich zu den Menschen gewesen und selbst freundlich zu den Hunden auf der Straße. Nun ging sie dahin, ohne den Blick zu erheben.

Zeitungen, Extrablätter, die Menschen rannten, stürmten, rissen gierig die Blätter in Stücke – was kümmerte es sie? Selbst die Wagen der Untergrundbahn waren überschwemmt mit Zeitungen. Man hatte den Faustkampf um den Platz in diesen Tagen etwas gemildert – es war ja nicht unmöglich, daß bald alles wieder anders würde. Siege, Siege! Jeden Tag! In der Ecke des Wagens starb eine kleine Stenotypistin – still, ohne einen Laut von sich zu geben. Von der Station Kaiserhof an wurde sie bleicher und bleicher, als der Zug am Spittelmarkt einlief, war sie schon tot. Man trug sie hinaus.

Tot? Ja, vielleicht war es das beste?

Klara wurde nicht müde in diesen schrecklichen Tagen, obschon sie nachts kein Auge zutat. Denn nachts flossen die Tränen ganz von selbst und brachten Linderung. Kreuz und quer irrte sie durch die dunkeln Straßen. Schatten taumelten gegen sie, Schatten krochen vor ihr, Schatten stürzten hinter ihr her. Plötzlich erschrak Klara: ein alter, haariger Schimmel stand mitten auf dem Trottoir.

Sie stand an einem stillen Kanal, in einer ihr völlig 322 fremden Gegend. Aus dem schwarzen Wasser blinzelte winkend ein Licht, tief unten. Die dunkeln Häuser hinter ihr begannen allmählich zu rücken und zu wandern. Leichen von Firmenschildern, Leichen von Riesenbuchstaben wanderten langsam, unendlich langsam vorüber. Kein Mensch weit und breit. Verlassene Wagen, verlassene Bretterhaufen, verlassene Kähne, die Pest hatte die Menschen mitten aus der Arbeit weggeholt.

Da erscholl über dem schweigenden, schwarzen Wasser ein fürchterliches Gelächter – ein unheimliches Lachen, das Lachen des Wahnwitzes – Klara erschauerte. Sie befand sich hinter dem alten Schloß, und es schien ihr, als käme das Gelächter aus der finstern Burg. Ein Eishauch ging von dem stillen, toten Schloß aus. Es schien verlassen, bewohnt einzig von einem Gespenst, das diese fürchterliche Kälte aushauchte. Starrte es nicht durch die schwarzen Fenster auf sie? Und da – seine eisige Hand griff durch die Mauern und berührte ihr Herz.

Klara entfloh. Das wahnwitzige Gelächter scholl hinter ihr her.

Endlich Licht. Ein Kino. Eine dicke Zeitungsfrau rannte an den grellen Plakaten vorüber und krächzte heiser und ununterbrochen: »Zwanzigtausend Gefangene – die Schlacht geht weiter –.«

 


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