Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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6.

Unbegreiflich!« rief Herr Herbst aus und warf die kleinen Hände voller Erstaunen in die Luft. »Was ein Mensch doch träumen kann! Also, Berlin nichts als –Schutt, nur Schutt, sagen Sie?«

Eingehüllt in den langen rostfarbenen Havelock, den steifen Hut auf den Ohren, saß Herr Herbst im halbdunkeln 273 Gastzimmer des »Löwen von Antwerpen«. Eine große, sofort in die Augen springende Veränderung war mit ihm vorgegangen: er trug keinen Kragen mehr! Denn früher hatte er ja einen niedrigen, wenn auch nie ganz reinen Kragen und eine kleine schwarze Binde getragen. Wer sie kennt, die Trinker, weiß, was es zu bedeuten hat – keinen Kragen mehr!

Ihm gegenüber saß der scheue, stille, bucklige Wirt, Herr Glienicke, zwischen ihnen stand die Flasche.

Herr Glienicke räusperte sich krächzend, dann erwiderte er scheu flüsternd: »Ja, nichts als Schutt, ein Haufen Schutt, das ganze Berlin. Wie soll ich sagen – eine Ruine. Und Raben –«

»Raben?« Schauer jagten über den Rücken des kleinen Herrn Herbst.

»Der Himmel war schwarz von ihnen. Sie flogen auf, wohin man kam – wie Wolken. Hm, und auch Leichen lagen da und dort, streckten die Hände aus dem Schutt, blaue Hände.«

»Was für ein entsetzlicher Traum! Und keine Menschen mehr, sagen Sie?«

»Keine Menschen, nein. Nur Raben, alles war schwarz von ihnen. In ganz Berlin keine lebende Seele mehr. Nur Schutt und verkohlte Balken. Da und dort stand zwischen den Schutthaufen noch ein verlassenes Geschütz. Aber keine Menschen.«

»Ah, ah – entsetzlich!«

»Und dann begann es zu schneien –«

»Guten Tag!« sagte in diesem Augenblick eine helle, nüchterne, aber bescheidene Stimme, und die beiden fuhren auf.

Ein schmächtiger, junger Mann war ins Zimmer getreten.

Der schmächtige, junge Mann näherte sich, den Hut in der Hand, dem Tisch und verbeugte sich leicht und steif.

»Ich bitte um Verzeihung! Herr Herbst?« 274

Zitternd erhob sich der Havelock. Ja, weshalb in aller Welt zitterte er? Es war nicht nur diese helle, nüchterne Stimme, nein – jemand kannte ihn, ihn, seinen Namen . . .

»Ich habe mit Ihnen zu sprechen«, sagte die gleiche Stimme, aber um eine Schattierung weniger bescheiden.

»Sprechen? Gewiß –«

»Nicht hier, bitte – in besonderer Angelegenheit –«

Und die beiden verließen das Gastzimmer. Die Eulenaugen des Buckligen sahen ihnen nach. Herr Glienicke hatte sich nicht von der Stelle gerührt. Diese Stimme, unverkennbar: die Polizei!

»Bitte!« sagte der schmächtige junge Mann und lenkte den Schritt die Fabriciusstraße hinab.

Mit etwas eingeknickten Knien schlürfte Herr Herbst neben ihm her. Er verging vor Angst, erfüllt von den schlimmsten Ahnungen.

Wie immer spielten die Kinder auf der staubigen, zugigen Straße, aber heute wagten sie sich nicht an ihn heran, da er in Begleitung war.

Mit hohem Singsang schritten sie im Reigen um ein Mädchen, das auf dem Pflaster kauerte und einen Lumpen über den Kopf gezogen hatte. Ein schwarzer Hund mit kurzem Schwanzstumpen trippelte mit den Kindern ebenfalls im Kreise. Nur seiner erschreckenden Magerkeit verdankte er es, daß er noch lebte. Denn hier außen gab es weit und breit weder Hunde noch Katzen mehr, alles verzehrt, längst eine Beute der Professionells. Hohläugig und wächsern erschienen die Kinder wie tanzende, in Lumpen gehüllte Leichen, die aus den Gräbern eines Kinderfriedhofs gestiegen waren, um hier zu spielen. Ihre Mütter arbeiteten irgendwo in den Munitionsfabriken, die Väter faulten längst in den Massengräbern.

Und da war auch schon wieder jener Wagen mit dem schmutzigen Schimmel, den ein bleiches abgezehrtes zwölfjähriges Mädchen kutschierte. Jeden Tag kam er hierher 275 in diese Straße, und kam er nicht gerade in die Fabriciusstraße, so sah man ihn sicher dort an der Ecke warten. Heute lagen nur zwei Kindersärge darauf, aber soeben brachte ein Mann einen neuen Kindersarg aus dem Hause und warf ihn wie eine Kiste mit Flaschen auf den Wagen. Jeden Tag, und doch gab es noch immer Kinder hier!

Die tanzenden kleinen Toten aber beachteten den vorüberfahrenden Wagen mit den Särgen nicht. Sie schoben den Reigen nur etwas zur Seite und sangen weiter.

Endlich brach der schmächtige junge Mann das Schweigen. Mit einem nicht unfreundlichen Lächeln wandte er sich an Herrn Herbst.

»Sie wissen wohl, daß die große Offensive heute begonnen hat?« sagte er im Tone eines Menschen, der ein Gespräch beginnen will. »Tausende von Gefangenen –«

»Tausende – so, so –« stammelte Herr Herbst verwirrt.

»Ja, am ersten Tage!« Aber das Gespräch kam nicht in Gang. So also ging es nicht. Der schmächtige junge Mann polierte den Kneifer, lächelte Herrn Herbst mit kurzsichtigen Augen an, und begann von neuem in etwas kühlerem, geschäftlichem Tone: »Sie kennen mich nicht, Herr Herbst?«

»Wirklich nicht? Und Sie haben mich auch nie gesehen? Trotzdem gingen Sie sofort mit mir, seht an. Ein neuer Beweis, daß es unleugbare Kräfte gibt, die Macht über die Menschen verleihen, magnetische und hypnotische Kräfte. Seit acht Tagen, seit vollen acht Tagen folge ich Ihnen wie ein Schatten, mein verehrter Herr Herbst. Sie staunen? Sie sehen, man muß es nur geschickt anstellen. Vor einigen Tagen aß ich sogar mit Ihnen am gleichen Tisch in der Dorotheenstraße. Und am Schluß der Reichstagssitzung stand ich dicht neben Ihnen, als Sie den hohen Offizier grüßten –«

Herr Herbst zuckte zusammen. Ah, ah – er hatte es ja augenblicklich gefühlt! Seine Ahnungen! Die Polizei war ihm auf den Fersen, die Geheimpolizei. Der General 276 hatte sie auf seine Spur gesetzt, und nun war er – verloren! Ja, dieser General, natürlich, er wollte seine Macht zeigen, er hatte ihm jenes furchtbare Wort entgegengeschleudert, belästigte ihn . . .

»Ich hatte, mit einem Wort, den Auftrag, mich mit Ihrer Persönlichkeit zu beschäftigen.«

»Ich weiß es.«

»Sie wissen es?«

»Ich dachte es mir! Einen Augenblick.« Herr Herbst wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Ja, also den Auftrag«, fuhr der junge Mann geschwätzig fort. »Ich kenne nunmehr all Ihre Gewohnheiten, Ihre etwas sonderbaren und keineswegs alltäglichen Gewohnheiten. Es bedurfte eines psychologisch geschulten Blickes, um nicht verwirrt zu werden, ich gestehe es offen zu. Nunmehr sind meine – Sie verzeihen – Beobachtungen abgeschlossen, bis auf einen großen dunkeln Punkt. Aber auch das wird sich finden. Ich hielt die Zeit für gekommen, in persönliche Verbindung zu Ihnen zu treten. Sie gestatten, mein Name ist Kunze.«

Der junge schmächtige Mann nahm den grasgrünen Plüschhut ab und machte eine gemessene, steife Verbeugung.

»Angenehm!« schlürfte Herr Herbst und erwiderte mit einem Kratzfuß. Ängstlich und mißtrauisch hefteten sich seine entzündeten Augen auf den blinkenden Kneifer. Nichts Gutes, jedenfalls nichts Gutes!

Der schmächtige junge Mann, der sich Kunze nannte, war ärmlich, aber peinlich sauber gekleidet. Sein dünner Überzieher, bis oben zugeknöpft, war abgewetzt, aber man sah noch die Striche der Bürste. Seine geflickten Stiefel waren glänzend gewichst. Er trug dünne Zwirnhandschuhe, nur seine Manschetten, sie waren etwas grau geworden. Er war semmelblond, das semmelblonde Schnurrbärtchen haarscharf zugespitzt. Die Augen hinter den Gläsern erschienen matt, ausdruckslos und sogar dumm. 277 Unter dem Arm trug er eine dünne lederne Aktenmappe. Wie alle Menschen sah er schlecht genährt aus, und sein Teint hatte eine unreine, grünlich fahle Färbung.

»Hoffen wir es, daß meine Bekanntschaft für Sie angenehm sein wird«, nahm Kunze nach dem beendeten Zeremoniell der Vorstellung wieder das Wort, und er lachte leise dabei. »Für manch einen, für viele war meine Bekanntschaft – meine Bekanntschaft wenig angenehm, ähä, ähä! Ja, wenig angenehm! Nun, nun, Sie haben nicht die geringste Ursache, sich zu beunruhigen, ich betonte schon, daß ich mich durch Ihre sonderbaren Gewohnheiten nicht verwirren ließ. – Einen Augenblick, lassen wir diese Elektrische vorbei – so. Sie haben sich also vor geraumer Zeit an unsere Organisation gewandt –«

»Wie, bitte?«

»Ich nenne unsere Dienststelle so. Ihr Eingang wurde, wie alle derartigen Eingänge, unserer Organisation automatisch zugeleitet. Sie haben, unter anderem, schwere Verdächtigungen erhoben gegen hochgestellte Persönlichkeiten, oder besser gesagt, gegen Angehörige hochgestellter Persönlichkeiten, so daß eine ganz besonders sorgfältige Bearbeitung der Angelegenheit notwendig wurde. Aus diesem Grunde hat mein Chef mich beauftragt.«

Herr Herbst atmete auf. Also nicht der General – es war diese andere Sache –! Aber schon überzog wieder kalter Schweiß seine Stirn. Welch gefährlicher Lage hatte er sich doch ausgesetzt! Und weshalb? Unerklärlich alles. Im Rausch, in völliger Bezechtheit, hatte er diese zwei Briefbogen vollgeschrieben. Zu spät. Seine Beine zitterten. Er hatte Mühe mitzukommen.

»Wohin –?« stammelte er.

Kunze hielt den Schritt an und lächelte. Er hatte kleine, schlecht gepflegte Zähne. »Sie können es sich nicht denken?« fragte er mit schräg geneigtem Kopf.

»Wie sollte ich –?« 278

»In Ihre zweite Wohnung!«

»Wie –??«

»In Ihre zweite Wohnung!«

»Wie –?!«

Herr Herbst griff mit beiden Händen nach dem steifen Hut – taumelte zurück und entfloh . . .

»Aber so warten Sie doch! Wie sieht das aus, wenn wir hier einander nachlaufen. Warten Sie doch! Aber ich muß doch bitten . . .«

Mit ein paar langen Sätzen lief Kunze hinter dem davoneilenden Havelock her. Im Nu hatte er ihn wieder eingeholt. Er klemmte den Kneifer auf die Nase, keuchte – seine Lunge war nicht ganz in Ordnung – und lachte belustigt und nachsichtig.

»Nun, sehen Sie, es hat keinen Sinn. Aber weshalb erschraken Sie nur so?«

»Ich – ich . . .«

»Sie sind ja jetzt noch kreidebleich! Nun, nun, Ihre Nerven sind in einem heillosen Zustand, Herr Herbst, einem bösen, bösen Zustand, ei, ei! Und doch wollen wir nur in Ihre Wohnung in der Blücherstraße gehen. Ich sagte Ihnen ja – nur noch ein einziger großer dunkler Punkt – he, Kutscher!«

Kunze winkte geschäftig eine Droschke heran. »Blücherstraße!«

Herr Herbst hob abwehrend die Hände.

»Nein, nein – unmöglich, ganz unmöglich!« stotterte er hilflos.

Aber der schmächtige junge Mann stampfte plötzlich ärgerlich auf den Boden und sagte mit scharfer Stimme: »Sie werden gehen! – Bitte, bitte recht sehr, Herr Herbst«, fügte er wieder ruhig und höflich hinzu, und schob den vor Erregung zappelnden Havelock in die wackelnde Droschke.

»Wir können den weiten Weg unmöglich zu Fuß gehen. Wir haben keine Zeit mehr zu verlieren. Mein Chef ist 279 schon ungeduldig, er erhielt eine Rüge von einer höheren Stelle. Machen Sie es sich ruhig bequem. Es wird ja alles bezahlt. Das sind die Spesen. Sehen Sie hier, in diesem Notizbuch, hier unter H., das sind die Spesen. Ich hätte ebensogut ein Auto nehmen können.«

Voller Verzweiflung starrte Herr Herbst vor sich hin.

Kunze zog vorsichtig die Beinkleider über das Knie herauf. »Mein Chef, er ist Major, ermahnte mich ausdrücklich, keine Kosten zu scheuen«, fuhr er zu schwatzen fort. »Mein Chef strahlt! Sie haben uns ja, mein lieber Herr Herbst, auf eine eminent wichtige Spur gebracht – ein selten glücklicher Zufall! Ach, wie langsam doch dieser elende Wagen fährt! Das Material wächst, der Ring schließt sich – wir arbeiten Tag und Nacht – mein Chef wird einen hohen Orden bekommen – und auch ich vielleicht, vielleicht sogar das Eiserne Kreuz, er machte Andeutungen, mein Chef . . .«

Plötzlich brach Kunze ab und zog rasch den Kopf zurück.

»Pst, pst« – machte er, und deutete mit dem langen, dünnen Finger auf die Straße. »Aber sehen Sie doch, wer da eben aus der Elektrischen steigt! Sehen Sie doch! Wie? Wie? Unglaublich – Fräulein v. Hecht!«

Es war in der Tat Ruth. Sie sprang rasch aus dem Wagen und suchte ihren Weg durch die Menge. Schon war sie verschwunden.

»Haben Sie sie gesehen? Berlin ist eine so große Stadt, aber man sieht immer wieder die gleichen Leute. Machen Sie einmal den Versuch, fassen Sie eine bestimmte Person ins Auge – wo Sie auch hinkommen, da ist sie, ich wette mit Ihnen, was Sie wollen. Was hat nun, frage ich Sie, eine solch feine Dame hier in diesem Stadtviertel zu tun? Wie, wie? Wenn man es nicht wüßte! Bald wird sie wohl nicht mehr hierherkommen, oder? Mein Chef ist in bezug auf diese Dame etwas unruhig – nun, verstehen Sie, die Tochter eines hohen Vorgesetzten – aber auch 280 das wird sich ja alles finden, He, Kutscher, fahren Sie doch etwas rascher!«

 


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