Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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8.

Berlin – wer kennt es nicht? – ist die häßlichste Großstadt der Welt, ganz offen gestanden. Paris, London, Rom, Neuyork, Kioto, Moskau – sie sind von ihren Bewohnern ganz allmählich erbaut worden, Berlin wurde von Unternehmern errichtet, in aller Eile. Von ganz wenigen Gebäuden, einzelnen Straßen und Plätzen abgesehen, ist es als Stadt architektonisch ohne jeden Reiz, ohne Zauber – ein Steinhaufen ohne Grenzen, nichts sonst. Trotzdem 354 besitzt es mehr Badewannen als zum Beispiel Paris, nicht zu unterschätzen, vor dem Kriege genoß es auch den Ruf, die reinlichste Großstadt zu sein. Also die häßlichste der großen Kokotten der Erde, aber am sorgfältigsten gewaschen, immerhin etwas. Die Theater haben ohne Zweifel die besten Spielpläne der Welt, die besten Konzerte – aber sonst, häßlich, nüchtern, ein steinernes Meer. Früher verschwand die Häßlichkeit im Gewimmel der Menschen, im Donner des Verkehrs, im Gegleiße und Geglitzer von hunderttausend Volt, aber heute? Nackt und schmutzig lag die häßlichste aller großen Kokotten vor allen Augen da.

Als die schönste Straße Berlins gelten die Linden. Sie beginnen mit dem Brandenburger Tor und enden mit dem Schloß. Eine Enttäuschung für jeden. Aber vom strategischen Standpunkt aus sind sie ganz ausgezeichnet. Das Schloß liegt auf einer Halbinsel, die Verteidigung gegen das Wasser zu ist ein Kinderspiel, die Linden selbst aber sind wie ein Lineal, breit und gerade – eine Salve Kartätschen, und schon sind alle Schwierigkeiten beseitigt.

Im Jahre 1848 wurde hier gekämpft. Barrikaden – aber, wie gesagt, einige Kartätschen genügten.

Nein, die Linden sind auch nicht die Hauptsache von Berlin, sie sind nichts als ein geschickt kaschierter Festungswall, mit Linden bepflanzt, mit Reitwegen versehen, mit Cafés und Hotels besiedelt – wenig anheimelnd. Eine einzige Kanone, die vor dem Schloß auffährt, und sämtliche Café- und Hotelgäste müssen sofort das Trottoir räumen.

Überall, wo Könige hausen oder hausten, finden sich derartig angelegte Straßen, man braucht nur darauf zu achten. Die Könige lieben einen freien Blick.

In den kalten Schluchten dieser endlosen versteinerten Häßlichkeit treiben die Menschen dahin, Geschäftige und Spaziergänger, und dazwischen lauern die Augen der Verbrecher und Diebe, dazwischen lächeln die Augen der geschminkten Damen, dazwischen funkelt zuweilen ein 355 Auge, das Auge eines Wahnsinnigen oder eines Dichters. Wie in allen Großstädten stehen die Schutzleute und blasen auf ihrer Flöte und bestimmen Ebbe und Flut des Verkehrs. Heute allerdings, die Straßengewaltigen – sie gähnten vor Langeweile und hatten nur noch das eine Bestreben, nicht vor Erschöpfung auf das Pflaster zu stürzen.

In den Steinschluchten dieses endlosen Meeres wanderte Ackermann seit dem frühen Morgen dahin. Er überquerte den windigen Alexanderplatz, den staubigen Spittelmarkt, und schlenderte langsam durch die Schlucht der endlosen Leipziger Straße, die ihre Größe dem Fleiße der Bürger verdankt. Er suchte nur noch belebte Stadtteile auf. Selbst diese Straße, in der der schwache Verkehr der sterbenden Stadt zusammenfloß, früher glattgeschliffen von den Nägeln der Pneus und Tag und Nacht blank gehalten wie ein Matschbillard, selbst sie war heute voller Schmutz. Voller Schmutz waren die verwahrlosten Häuser, die schief hängenden Firmenschilder, die elektrischen Wagen, die verbeult und abgekämpft aussahen wie Tanks, die aus der Schlacht kamen. Obwohl es erst anfing, warm zu werden, strömte die Stadt schon einen übeln Geruch aus. Was für ein Geruch war es doch? Wenn du ihn nicht kennst, besser für dich – es war der Geruch der Verwesung. Genau wie die verlassenen Schlachtfelder roch Berlin.

Hierauf überquerte Ackermann den Potsdamer Platz und bog in die Königgrätzer Straße ein, wo die Bahnhöfe liegen.

Er suchte Menschen, Menschen, Massen von Menschen, und in dieser aussterbenden Stadt würden sie wohl noch am ehesten auf den Plätzen der Bahnhöfe zu finden sein.

Langsam schlenderte er dahin. Die Sonne blendete ihm ins Gesicht. Auf dem Spittelmarkt hatte er einen Teller Suppe zu sich genommen, in aller Ruhe, denn Gewißheit erfüllte ihn, daß alles vollendet sein würde, bevor die Sonne sank. Er hatte sogar geschwankt, ob er 356 nicht in die Dorotheenstraße gehen solle, um Ruth noch einmal zu sehen. Aber er war doch nicht gegangen. Nein, nun war er unterwegs . . .

Da! Horch!

Schon?

Trommeln, beim Anhalter Bahnhof –. Augenblicklich beflügelte sich sein Schritt. Von plötzlicher Erregung erfaßt, ging er dahin. Deutlich, dumpf noch, aber ganz deutlich.

Trommeln, ohne Zweifel.

Sonderbar wirkt der dumpfe Laut der Trommel auf den Menschen. Er wirft ihn ohne jede Übertreibung um einige Jahrtausende zurück, in Zeiten, wo die Menschen noch mit den Tieren der Wildnis kämpften, zu den Negern am Kongo. Augenblicklich stürmten die Menschen wie in Hypnose über den Anhalter Platz, dem Laut der Trommeln entgegen.

Plötzlich schwiegen die Trommeln, und die Blechinstrumente setzten mit barbarischem Lärm ein.

Ein Menschenhaufe quoll aus der Straße auf den Platz. Waffen blitzten, gleichmäßig schwankende Reihen wurden im Strom der Köpfe sichtbar. Offenbar wurde ein Bataillon zur Bahn gebracht.

Ohne zu überlegen, bebend vor Erregung, nahm Ackermann augenblicklich Aufstellung. Ein alter mürrischer Mann lud an der Straße Pflastersteine ab, und auf eine Reihe solcher Steine stellte er sich.

Der Strom von Köpfen wälzte sich heran, umbrandet vom Tosen der Blechinstrumente, die in der Sonne funkelten. Scharen von Neugierigen drängten hinzu. Dicht neben Ackermann nahmen sie auf der Schicht von Pflastersteinen Platz und reckten sich auf den Zehen. Sogar der alte Mann, der die Steine ablud, hob das mürrische Gesicht.

Im Takt der Musikkapelle zog der Menschenhaufe dem Bataillon voran. Zerlumpte Weiber und verwahrloste Kinder, alte Männer, frühreife Mädchen, bleich, verhungert, 357 das Mal des letzten Elends auf der Stirn – – und doch: Freude glänzte auf allen Gesichtern!

Ackermanns Blick wurde dunkel.

Wirst du bereit sein?

Wird dich die Stunde bereit finden?

Volk, mein Volk, meine Liebe, meine Sehnsucht?

Wie wird dich die große Stunde finden? Ausgehöhlt vom Hunger, ausgeblutet von den Schlachten, ausgefront – wirst du die Kraft haben? Betäubt von Lüge, krank von dumpfer Sehnsucht – wirst du? Die Völker der Erde blicken auf dich! Du bist geächtet, bespien, die Dornenkrone ist auf dein Haupt gedrückt, dein Weg führt durch Tränen, führt durch Hunger und Wahnsinn – zitterst du?

Wirst du straucheln? Wanken? Dahinsinken zu den Unwürdigen? Wirst du auserwählt und berufen sein unter den Völkern, das Reich zu bereiten, das Reich des neuen Menschen?

Grell blitzten die Trompeten, grell schmetterten sie, die roten Backen barsten.

Vorwärts, fort, fort, beeile dich! Meine Liebe und Sehnsucht fliegen vor dir her! Der Ruf erschallt! Lüge, Hoffart, Wahn – wirf ab, wirf ab! Tauche nieder in deine reinen Quellen. Sieh, wie sie funkeln, am Firmament des Gedankens, deine großen Geister! Sie blicken auf dich.

Fort, fort, beeile dich! Die Stunde ist nahe! Laß dein Herz wieder leuchten, das immer aufglühte, wenn die Dunkelheit am tiefsten war. Mehre den Schatz der Völker!

Ich sehe dich auferstehen, ich sehe dich erblühen, sehe dich umringt von brüderlichen Nationen . . .

Schon wälzte sich der Haufe dicht heran.

Die Musikanten setzten mit einem Ruck die Instrumente ah. Im Zickzack fuhr der Stock des Musikmeisters durch die Luft, und die Trommeln wirbelten wieder.

Reihen von Gewehren, Reihen von Helmen schwankten 358 heran, vorwärts getrieben von einer unverständlichen Kraft, von einem unverständlichen Willen zusammengeballt. Das Bataillon Hähnleins, des Unglücklichen –

Junge Männer, rosige, arglose Kindergesichter, die noch nicht ahnten, daß morgen schon der Tod ringsum war. Wie oft hatte er, Ackermann, den Marsch zum Bahnhof erlebt! Alte Feldsoldaten, mit Auszeichnungen auf der Brust – nein, sie gaben sich keinerlei Illusionen mehr hin – stumpf marschierten sie, genau wie er früher marschierte: stumpf, schweißtriefend, bepackt, zitternd unter dem Blick der Vorgesetzten. Hundertmal mochten sie ihr Leben in die Schanze geschlagen haben, sie blieben trotzdem Tiere, hier wie bei allen kriegführenden Völkern war der gemeine Mann ein Tier, nicht mehr. Einige Frauen marschierten in den Reihen der Soldaten, Bräute, Mütter, Gattinnen, bleich, schwankend, weinend. So zogen sie dahin.

Plötzlich aber –

Plötzlich erscholl eine Stimme!

Woher kam sie?

Niemand wußte es.

Eine Stimme – hell, metallen, durchdringend – sie dröhnte über das marschierende Bataillon, übertönte die Trommeln, den Schritt der Arglosen und Erfahrenen – scholl über den weiten Platz und wurde als Echo von den hohen Häusern zurückgeworfen – die Stimme eines Riesen, eines – ja, bei Gott, was für eine Stimme war es doch?

Und diese Stimme rief, gellend, dröhnend, sie scholl über das summende, brausende Berlin – in alle Ohren gellte diese Stimme.

Diese Stimme rief:

»Es lebe die Kameradschaft zwischen den Völkern!« – Pause, der Platz gellte, Widerhall, Trommeln – »Nieder mit dem Krieg!« – Stille, Gellen, Trommeln – »Alle Menschen sind Brüder . . .«

Auf einem Haufen von Pflastersteinen stand ein Mensch, 359 ein Soldat in einem weiten grauen Mantel, der flatterte, die Arme wild emporgeworfen, totenbleich, mit rasenden, fanatisch glühenden Augen – seine Hände zuckten – seine Stimme gellte, gellte. Plötzlich aber brach diese rasende gellende Stimme ab.

Der Soldat war verschwunden.

 

Er lag auf dem Pflaster, ein Knäuel Menschen um ihn herum. Ein grüner Plüschhut rollte über den Bürgersteig.

Eine Sekunde später wurde dieser Mensch im weiten grauen Mantel über das Pflaster geschleift.

Das Bataillon zog weiter. Wieder setzte die Kapelle ein. Die meisten hatten gar nichts gesehen – aber gehört – ja, eine Stimme aus der Luft!

Diese Stimme krallte sich in ihr Herz, zerriß es, daß es zu bluten begann vor Qual und Sehnsucht.

Eine Stimme . . . Was für eine Stimme –?

Die Stimme des Menschen hatten sie vernommen . . . Die letzten des Bataillons sahen noch einen Menschenhaufen, der sich den Bürgersteig hinabwälzte.

Der grüne Plüschhut hörte auf zu rollen. Ein schmächtiger junger Mann ergriff ihn, überzeugte sich mit einem raschen Blick, daß der Mensch im grauen Mantel in sicheren Händen war, bürstete den Hut eilig ab – ja, und nun – der Kneifer – er war verlorengegangen. Und der schmächtige junge Mann suchte eilig den Kneifer.

Da hob der alte Mann, man erinnert sich, er lud Pflastersteine ab, dieser Mürrische, den Kopf und sagte:

»Wartet nur noch eine Weile – ihr Halunken!« Und er spie aus.

Der junge Mann geriet sofort in äußerste Erregung, sein Blick glitt suchend über das Pflaster, sein Blick bohrte sich messerscharf in die Augen des Mürrischen.

Aber der alte Mann hob einen Pflasterstein in die Höhe, 360 er lächelte – aber wie! – und der junge Mann wich zurück, und nun lief er rasch, rasch, ohne den Kneifer, zu dem Militärauto, um das der Menschenknäuel sich ballte.

In dieses Militärauto hatte man den Menschen im grauen Mantel gezerrt. Er blutete im Gesicht, aber er wehrte sich nicht. Jede seiner Bewegungen, das Lächeln auf seinen fahlen Lippen, sagte deutlich, daß er nicht gesonnen sei, irgendwelchen Widerstand zu leisten.

Aber unerklärlich – plötzlich, ohne jeden Grund, schlug einer der beiden schnauzbärtigen Männer, die ihn ins Auto schleiften, sinnlos, völlig sinnlos, vielleicht um sich für die Anstrengung zu rächen, mit dem Knotenstock auf den Menschen im grauen Mantel ein.

»Halt, halt!« schrie der schmächtige junge Mann mit dem grünen Plüschhut, der herangeeilt kam.

Aber es war zu spät.

Der Mensch im grauen Mantel – jede Bewegung, ihr seht, ich leiste keinen Widerstand – schlug mit einem furchtbaren Hieb nach dem roten Gesicht des Schnauzbärtigen, stieß noch einigemal in die Luft und sprang aus dem Auto.

Der Schnauzbärtige blutete aus der Nase und war für einige Sekunden benommen, aber der andere Schnauzbärtige zog rasch entschlossen einen Revolver und schoß – sofort schrie eine Mädchenstimme auf, er hatte ein kleines Mädchen getroffen.

Der Mensch mit dem grauen Mantel aber war im Torbogen eines Hotels verschwunden.

Zuerst stürzte der grüne Plüschhut nach, dann der Schnauzbärtige, der geschossen hatte, dann der andere Schnauzbärtige, dessen Nase blutete.

Ein kleiner feister Herr telephonierte in bester Laune im Foyer des Hotels, behaglich das dicke Schenkelchen über das Knie geschlagen. »Höre, mein Kind – ja also nicht später als acht Uhr. Und vergiß nicht, süßes Puppchen –«

In diesem Augenblick erhielt er einen Stoß vor die 361 Brust, und ein junger Mann entriß ihm ohne viele Umstände den Hörer. Militärpolizei.

Vor dem Hotel sammelten sich Scharen von Menschen an. Eine Verhaftung! Und man hatte ein junges Mädchen in das Bein geschossen, das ganz harmlos spazierenging. Heitere Zustände, das mußte man schon sagen. Nun, die Verwundung war ja nicht schlimm, ein Streifschuß, aber bedenken Sie doch – man geht über den Anhalter Platz und riskiert totgeschossen zu werden. Ganz als ob man an der Front sei.

Aber da gab es schon wieder eine neue Sensation. Die Menschen traten plötzlich vom Bürgersteig auf den Platz zurück. Sie starrten in die Höhe.

Unglaublich – dort, dort – aber, bitte, wo?

Ja, dort, dort! Sehen Sie denn nicht?

Ein Mensch!

Ein Mensch auf den Dächern!

Unglaublich!

Ja, in der Tat, zwischen den Schornsteinen und Ventilationsröhren erschien da oben ein Mensch. Ein Mensch in einem weiten Soldatenmantel, ein Soldat.

Die Häuser in der Gegend des Anhalter Bahnhofs sind unansehnlich und häßlich wie in andern Vierteln der Stadt, die Dächer mit Schiefer gedeckt, abgeflacht, dazwischen ein steileres Ziegeldach. Über die abgeflachten Ziegeldächer glitt der Mann da oben rasch dahin, über die steilen Satteldächer dagegen balancierte er vorsichtig von Kamin zu Kamin. Stellenweise schritt er, die Arme wagrecht haltend, wie ein Seiltänzer über den Dachfirst. Blitzschnell kletterte er von einem niedrigen Dach auf ein höheres am Giebel der Brandmauer empor.

Wieder balancierte er wie ein Seiltänzer – hoch oben, im stechenden Sonnenlicht, kreidig Gesicht und Hände, der flatternde Mantel bestaubt. Diesmal schwankte er, die Leute auf dem Platz schrien auf, aber schon hatte er 362 Halt an einer Tonröhre gefunden. Er holte Atem, gegen die Tonröhre gelehnt, blickte mit seinem kreidigen Gesicht, das blutete, auf den Platz herunter, schrie etwas mit gellender Stimme, aber unverständlich hier unten, dann eilte er zum nächsten Kamin. Deutlich sah man, daß er hinkte.

Unten auf der Straße hatte er sich ruhig festnehmen lassen, aber nun, seitdem man mit einem Knotenstock völlig sinnlos auf ihn eingeschlagen hatte, schien er entschlossen zu sein, zu flüchten.

Nun glitt er zur Hälfte über ein Ziegeldach und kroch in eine Dachluke.

Die Zuschauer atmeten auf. »Er ist verschwunden!«

Aber schon nach einigen Sekunden erschien er wieder in der Dachluke. Er glitt bis zur Dachrinne herab und lief, wie eine Katze, buchstäblich, auf der Dachrinne dahin. Die Ausrufe erstarben auf den Lippen, die kleinen Verkäuferinnen preßten die Hand aufs Herz.

Gleich darauf tauchte in der Dachluke die Mütze eines Schutzmannes auf, begrüßt vom Gelächter der Zuschauer. Der Mann im grauen Mantel kletterte abermals den Giebel der Brandmauer empor und lief über das Dach des Eckhauses.

Tausende von Neugierigen hatten sich angesammelt. Es waren Züge angekommen, und die Reisenden standen gaffend und blinzelnd auf dem Platze. Das war Berlin, siehst du! Kaum kam man an, so gab es schon etwas zu sehen. Man hatte ja gelesen, daß zurzeit in Berlin häufig Deserteure auf dem Transport entflohen, sogar Passanten waren bei diesen Vorfällen schon erschossen worden. Brich das Genick, du Spitzbube! Ja, das war Berlin, man konnte wenigstens etwas erzählen. Ein Haar, und er wäre abgestürzt.

Rote Gesichter reckten sich aus den Wagen der Straßenbahn, aus allen Fenstern der umliegenden Häuser. Die Kutscher verdrehten den Hals, Kellner, Friseure, 363 Verkäuferinnen stürzten aus Läden und Türen. Messinggelb blendeten die Häuser in der Sonne.

Schutzleute, Soldaten.

Schon stockte der Verkehr. Nur langsam konnten sich die elektrischen Wagen durch die Menschenmenge schieben.

Scharen von Kindern rannten dahin, deuteten zu den Dächern empor und schrien wie besessen: »Dort läuft er! Dort!« Das ganze Stadtviertel war auf den Beinen.

Von der Bahnhofshalle her drang der schmetternde Marsch der Regimentskapelle. Nun gellte auch noch die Glocke der Feuerwehr – ein Löschzug!

Hedis Auto war mitten in die Menschenmenge geraten und konnte sich nur schrittweise, ohne Pause tutend, mit seinen Pneus den Weg bahnen.

Der Chauffeur wagte die Vertraulichkeit, sie durch eine Kopfbewegung auf die Ursache der Menschenansammlung aufmerksam zu machen. Da sah sie zu ihrem Schrecken hoch oben – in einer Dunstwolke von rostbraunem Staub – einen Menschen, staubig und kalkweiß, über den Dachfirst laufen.

Hedi kam vom Einkauf: Gardinen, Stoffe, Antiquitäten, es war schwer, etwas Ordentliches zu finden. In allen Geschäften und Magazinen jagte sie umher. Ihr Wagen lag voller Pakete, und neben dem Chauffeur blitzte aus dem Papier ein silberner Spiegel – spanischer Barock, etwas beschädigt, aber, nach ihrer Ansicht, zauberhaft, ein Traum!

Hedis Herz pochte. Bei Gott, es war die gleiche Querstraße, wo sie einst, im Sommer, Otto das Abschiedssouper gegeben hatte.

»Fahren Sie!«

Eine schweißtriefende Zeitungsfrau drängte sich in diesem Moment, einen Pack noch nasser Zeitungen unter dem Arm, am Auto vorüber und schrie mit gellender Stimme dicht an Hedis Ohr: 364

»Die Marne abermals überschritten!«

»Die Marne abermals überschritten!«

Hundert gierige Hände streckten sich ihr gleichzeitig entgegen. Sie drehte sich im Kreise, wischte sich den Schweiß mit dem Ärmel von der Stirn.

»Hier, bitte, geben Sie!«

»Die Marne – sofort, junge Frau – abermals überschritten.« Ihre gellende Stimme übertönte den Marsch der Kapelle auf dem Bahnhof.

Das Auto rückte an. Hedi konnte gerade noch das Blatt ergreifen.

Sie warf noch einen flüchtigen Blick in die Höhe – da sah sie gerade, wie der Mann auf dem Dachfirst plötzlich schwankte – hatte man geschossen? – schwankte – mit den Händen in die Luft griff und über das steile Dach herabstürzte. Eine Sekunde wurde der Körper von der Dachrinne aufgehalten, dann fiel er . . . Hedi bedeckte die Augen mit der Hand.

Die schweißtriefende Zeitungsfrau raste dem Bahnhof zu und schrie gellend:

»Die Marne abermals überschritten! Die Marne abermals – –«

 


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