Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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4.

Der General frühstückte jeden Tag in Stifters Diele. Ruth war zur Mittagszeit in ihrer Küche beschäftigt, und allein in dem kahlen Speisezimmer zu Hause sitzen –? Nein. Es war am Tage noch ungemütlicher als am Abend – und totenstill.

In Stifters Diele waren wenigstens Menschen und etwas Lärm, gerade so viel, wie Leute mit guter Kinderstube ihn beim Dinieren erzeugen, ein beruhigender, wohltuender Lärm. Silber klirrte.

Hier, in seiner Nische hinter den Stechpalmen, fühlte der General sich geborgen vor den Zudringlichkeiten der Welt. Zuweilen nur drang irgendein neugieriger Blick durch die Stechpalmen, um sich sofort wieder ehrfurchtsvoll zurückzuziehen.

Stifters Diele war nicht ein gewöhnliches Restaurant, sondern eine Speisekapelle: farbige Kirchenfenster, Dämmerung, gedämpfte Lichter und dicke Teppiche. Das Speisen hatte hier die Form eines religiösen Kults angenommen. Die Kellner murmelten feierlich wie Priester, die die Beichte abhören.

Zwischen dem Etablissement und den Gästen bestand eine stillschweigende Verabredung: das Etablissement versprach, seine Gäste gesund und wohlgenährt durch den Krieg zu bringen, wogegen die Gäste sich verpflichteten, zu schweigen und zu zahlen. Es verkehrten fast ausschließlich Stammgäste in Stifters Diele. Zumeist hohe Würdenträger, die neue Energien für den anstrengenden Dienst zu gewinnen suchten, und Junker, die von ihren großen Gütern nach Berlin kamen und die Küche der Diele kannten. Manchmal verirrten sich auch zweifelhafte Elemente hier herein – aber sofort kam der Oberkellner, leider alles bestellt, die Herrschaften –

Wie eine Orgel summte die tiefe Stimme des Oberkellners. Näher als irgendein anderer 109 Sterblicher es hätte wagen dürfen, rückte er dem roten Ohr des Generals.

»Bouillon mit Mark oder Klößchen, Exzellenz? – Mit Klößchen, sehr wohl.«

»Hühnerpastetchen, Exzellenz? Heute ist fleischloser Tag, aber – nur für unsere Stammgäste natürlich – Chateaubriand –. Es ist auch etwas Kaviar eingetroffen. Ich darf eine Portion servieren, ohne den Preis zu nennen?«

Der General setzte den goldenen Kneifer auf und blickte den Befrackten an. »Sie sagten –?«

»Ja, über Finnland. Der russische Friede macht sich schon geltend. Haben Exzellenz übrigens die Flagge auf der russischen Botschaft gesehen? Nein? Zum erstenmal heute aufgezogen. Etwas Pudding oder Camembert?«

»Camembert!«

»Sehr wohl, Exzellenz. – Den Wein habe ich schon bereitgestellt. Sehr wohl.«

Jeden Mittag pflegte der General eine halbe Flasche Sekt zum Frühstück zu trinken. Zuweilen aber nippte er nur am Glase, es hing ganz von seinem Befinden ab.

Die Leberklößchen, die auf der Zunge zerschmolzen, die Geflügelpastete mit eingehackten Champignons und würzigen Kräutern, das Chateaubriand auf englische Art, der Kaviar – ein Erlebnis sozusagen nach langen Jahren – neue Kraft erfüllte die Nerven, die Unglücksgeschichte Ottos, die Plackereien des Dienstes versanken. Nichts blieb, gar nichts, es war ein herrlicher Zustand des Schwebens im Nichts. Nur das Gegenüber störte die vollkommene Harmonie. Vielleicht würde er doch noch den Platz wechseln?

Gegenüber saßen zwei Rittmeister. Mit ihren glattgeschorenen, runden Schädeln, voller Höcker und Knollen, ihren gedunsenen Gesichtern, ihren rosigen Fettnacken, waren sie die typischen »Etappenschweine«, die nie eine Kugel pfeifen hörten. Nichts aber haßte der General mehr als alles, was Etappe hieß. Dabei trugen sie ellenlange 110 Ordensschnallen auf der Brust. Sie schämten sich nicht einmal, den Halbmond zu tragen, obwohl sie nie die Türkei gesehen hatten, einen Orden, den selbst der General nicht besaß. Immer tuschelten sie, immer kicherten sie, immer gossen sie die Gläser voll – und goldene Armreife wurden an ihren haarigen Handgelenken sichtbar. Sie pflegten dem General ihre Achtung auszudrücken, ohne irgendwelche Übertriebenheit. es waren Leute der gleichen Gesellschaftsklasse. Der General verachtete sie aus tiefster Seele.

Schon aber stand der Oberkellner mit einer strahlenden Kerze vor ihm: »Eine Zigarre, Exzellenz?«

Gott sei Dank, die beiden Burschen gingen.

Der General legte sich behaglich in den Sessel zurück.

»Aber das Pferdematerial?« fragte eine skeptische Stimme in seinem Ohr. Tag und Nacht war er mit den Problemen des Krieges beschäftigt. »Ob die Pferde noch den Anstrengungen einer Offensive gewachsen sein werden –?«

»Die Pferde sind ausgeruht – gut gefüttert und gepflegt«, antwortete eine zweite, zuversichtliche Stimme.

Wieder war Ruhe, wieder herrliches Schweben im Nichts. Der General verschwand im Rauch der Havanna.

Heute abend würde er bei Dora speisen. Es war Freitag. Dienstags und Freitags pflegte der General, wie schon erwähnt, bei Frau v. Dönhoff zu Abend zu essen.

Plötzlich aber erhellte ein Gedanke die Augen des Generals. Sie erweiterten sich, blinkten hell aus der Dämmerung der Speisekapelle. Kalt, wach, nachdenklich. Der Gedanke hatte sie ganz erfüllt.

»Wo war Ruth?« fragte er, und die Augen wuchsen.

Dann schlossen sie sich zur Hälfte, nur noch ein Spalt war sichtbar, ein Spalt funkelnden Eises.

Und diese unverständliche Bemerkung in dem Brief des kleinen Mannes mit dem blaugefrorenen Gesicht –?

Bekam sie nicht plötzlich eine merkwürdige Bedeutung? 111


»Wie? Wie? Was!« rief der General aus, als er den Fuß vor Stifters Diele setzte. Er wankte.

»Wie? Wie!«

»Ist es möglich?«

»Sind die Leute denn wirklich verrückt geworden?«

In der Tat, deutlich spürte er das Schwanken des Bodens unter den Füßen.

»War so etwas möglich? In Berlin?«

»Unter den Linden?«

Die Röte flog in sein Gesicht.

Gegenüber, auf dem Dache gegenüber, wehte im frischen Wind, lustig, wie die selbstverständlichste Sache der Welt, hoch oben – eine blutrote, blutrot leuchtende Flagge!

Alle Blicke zog sie auf sich. Man stelle sich vor: eine rote Flagge in einer Stadt, wo selbst eine rote Krawatte eine lebensgefährliche Herausforderung ist, wo die rote Farbe, wenn sie allein auftritt, einfach verpönt ist, wo die Säbel der Polizisten jeden automatisch zerfleischten, der es wagen würde, ein rotes Taschentuch zu schwingen, um sich damit die Nase zu putzen. Und hier – ohne weiteres – wie die natürlichste Sache der Welt – eine rote Flagge, eine rotleuchtende Standarte, gehißt an einem richtigen Flaggenmast, auf einem Dache! Die Spaziergänger bogen die Hälse, versteinerten, trauten ihren Augen nicht, zwinkerten –.

Weithin leuchtete die rote Flagge und verkündete den Sieg des russischen Volkes über den Herrn der Galgen, siebenschwänzigen Katzen und Bleibergwerke – über das endlose Häusermeer von Berlin strahlte sie, funkelte sie.

»Sind sie denn da drüben gänzlich verrückt geworden?« Er meinte die Wilhelmstraße.

Und der General versank in düsteres Nachdenken, während der Wagen die Linden hinabschoß.

Diese Flagge – getränkt mit dem Blute gekrönter Häupter und hoher Würdenträger . . . 112

Schamlos.

Zuweilen war es ihm, als höre er über sich ein Knistern, ein Splittern –

 


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