Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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2.

Dora schlief zu dieser Stunde noch immer, Freude auf den heißen Wangen.

Ein ganz wunderbarer Traum entzückte sie; sie befand sich mitten in einer Blumenschlacht in Monte Carlo oder Nizza, jedenfalls war es bezaubernd. Blumengeschmückte Wagen zogen aneinander vorüber, Blumen der herrlichsten Farben wirbelten gegen den tiefblauen Himmel und regneten in ihr Coupé herab. Sie saß neben einem alten, würdevollen Herrn, mit einem langen, weißen Spitzbart, den sie nie in ihrem Leben gesehen hatte. 256 Merkwürdigerweise trug er eine orangefarbene Schärpe quer über der Brust, und alle Welt schien ihn mit Neugierde und Respekt zu betrachten. In einem kleinen, von zwei schneeweißen Ponys gezogenen Wagen saß ein Bekannter, der sie heftig mit Blumen bombardierte. Plötzlich erkannte sie ihn, es war Otto, sie sprang auf, rief: heute abend – aber schon waren die Wagen einander vorüber. Otto verschwand in einem Regen von Blüten. »Aber Helene«, sagte der Herr mit dem weißen Spitzbart. So erfuhr sie, daß sie Helene hieß, es war höchst merkwürdig, und sie begann laut zu lachen.

Das eigene Lachen weckte sie, und als sie die Augen aufschlug, regneten gerade noch die letzten Blumen und Blüten über sie herab. Sie war in köstlicher Laune, vergessen die Melancholie des grauenden Morgens.

Sie klingelte. »Ich werde im Bad frühstücken.«

Dora schlüpfte in die kleinen, seidenen Pantöffelchen, ließ sich den himmelblauen Bademantel um die Schultern legen, und begab sich pfeifend und trällernd, Butzi auf dem Arm, in das Badezimmer. Dieses Badezimmer war, wie schon erwähnt, ein kleines Treibhaus – Blüten, Wärme, Düfte – weich und schneeig fiel das Licht durch die Glasdecke. Neben dem Bassin stand ein kleiner Tisch mit dem Frühstück, den Zeitungen und der Post. Und Blumen, Billetts, eine Menge Aufmerksamkeiten – das Tischchen war völlig bedeckt davon.

Dora lachte vor Vergnügen. Wieder kam ihr die Blütenschlacht in den Sinn. Was für ein drolliger, alter Herr das war! Seine orangefarbene Schärpe, wie unendlich komisch!

Gelungen war das Fest! Ganz Berlin würde darüber sprechen – über die Tänzerin, etwas kühn, nicht wahr, und die beiden Neger – ja, es kam nur darauf an, Einfälle zu haben! Eine Oase in dem grauen, schrecklichen Winter. Dank für das Fest! Alle dankten, alle waren glücklich gewesen – ein paar Stunden. Eine drollige Liebeserklärung von Hauptmann Feuerwalze. Endlich 257 hatte sie nach langer Zeit wieder fröhliche Menschen um sich gesehen, und so war es nun einmal: Dora konnte nicht leben ohne Freude. Aber – sie schrak zusammen, indessen voll spitzbübischen Vergnügens – wie leichtsinnig war sie doch gewesen! Der Sekt – sollte es der Sekt gewesen sein –? Wie leicht hätte jemand sie beobachten können!

Nichts aber liebte sie mehr als Abenteuer, aus einer Laune geboren – eine Minute vorher wußte man noch nichts von ihnen, und oft eine Minute nachher nichts mehr davon. Und Doras Gedanken huschten blitzschnell über eine Reihe ähnlicher Abenteuer dahin, die sie nicht missen möchte in ihrer Erinnerung.

Wunderbar – und niemand, niemand . . .

Nur einer, oder ein paar Vertraute –.

Plötzlich aber griff Dora wieder zur Post. Es ging nicht an, allzu lange bei diesen Abenteuern zu verweilen.

Ein Brief des Generals! Seht an! Doras Lippen kräuselten sich. Sie legte den Brief langsam zur Seite. Diese Schriftzüge jetzt, nein – sie langweilten sie momentan, steif und anmaßend kamen sie ihr vor, später.

Sie griff nach einem rosafarbenen Briefchen, das an einem Fliederstrauß befestigt war. Zu ihrer großen Überraschung war es ein drolliges Gedicht, die Huldigung einer lustigen Gesellschaft, die das Fest bei Ströbel beschlossen hatte. Dora lachte, daß das Treibhaus zu klingen begann. Ach, wie bezecht müssen sie gewesen sein –!

Zu dieser Gesellschaft, die das komische Gedicht bei Ströbel verfaßt hatte, gehörte auch Hedi. Sie kam etwas nach zehn Uhr nach Hause, und gerade, als sie das silbergraue Schleierkostüm, das ganz in Stücke gegangen war, leider, abstreifte, erwachte Klara. Grelle Lichtzacken stachen durch die zusammengezogenen Vorhänge.

»Ah, da bist du ja!« sagte Klara. Aber welche Betonung! Sie hatte die Schwester zuletzt in einem Kreis von händeklatschenden Vermummten gesehen, wo sie einen 258 schamlosen Tanz aufführte, und es gab keine Worte, die ihre Verachtung ausdrücken konnten.

»Ja, hier bin ich!« erwiderte Hedi mit einem sonderbaren, leisen Auflachen. Sie war sehr blaß, und ihre Augen flackerten unstet.

»Wo warst du eigentlich?« fragte Klara, während sie neugierig und überrascht die Schwester beobachtete.

»Ich?« Wieder lachte Hedi leise und heiter. »Du hast ja nicht gewartet. Bei Ströbel. Alle haben wir bei Ströbel Kaffee getrunken. Herrlichen Kaffee, Weißbrot, sogar Sahne!«

»Ströbel? Wer ist Ströbel?«

»Er besitzt eine Motorenfabrik und hat im Kriege Millionen verdient.«

»So, und da also –?«

»Und weißt du, wer den Kaffee gekocht hat?« fragte Hedi lachend. »Ich, zusammen mit Ströbel. Denn Ströbel hat keine Dienstboten im Hause, obschon er so reich ist – um ungestört zu sein. Ja, also wir zwei haben den Kaffee gebraut – und das Wasser wollte gar nicht kochen, hahaha! – aber niemand fiel es auf.«

»Was fiel niemand auf?«

Hier brach Hedi in lautes Gelächter aus. »Was sagte ich? Nun – niemand fiel es auf, daß es so lange dauerte, bis der Kaffee fertig wurde. Es war einfach schnurrig! Die ganze Gesellschaft trank Kognak aus Kaffeetassen. Wir haben alle Brüderschaft getrunken!«

Hedi lachte, erzählte, summte, tänzelte, während sie abwechselnd durch Dämmerung und grelles Licht glitt. Bald flammte ihr Auge auf, bald ihr weizengelbes Haar, bald ihre bleiche Haut. Plötzlich stieß sie ein Glas vom Tisch, aber auch darüber mußte sie nur lachen.

Voller Verachtung drehte Klara sich gegen die Wand.

»Nun,« sagte Hedi triumphierend, »dieser Herr Ströbel ist nicht nur reich, sondern auch ein Gentleman. Und er 259 ist verliebt in mich! Dich aber würde er wahrscheinlich gar nicht ansehen, kleine Braut.« Dies fügte Hedi ein, um Klara zu reizen.

Aber Klara schwieg.

»Ah, seht an, sie spielt die Hochmütige!« fuhr Hedi fort. »Nun, mein Liebling, es ist mir höchst einerlei, was du denkst. Du bist ja noch ein Kind, und was solltest du vom Leben wissen? Auch was Papa denkt, ja, siehst du, auch das ist mir höchst einerlei. Ich habe dir ja schon oft gesagt, daß ich dieses Leben hier satt habe, diese ewige Langeweile, und eure Rüben und Kartoffeln. Und dazu die ewige Kontrolle! Nein, mein Herz, nun mache ich Schluß. Hörst du mich, kleine Braut? Ja, natürlich hörst du mich, du tust ja nur so . . . ich werde euch verlassen . . .«

»Ja, verlassen, man hat mir eine Sekretärsstelle angeboten, tausend Mark im Monat, bei völliger Bewegungsfreiheit – ein kleines Bureau werde ich haben, und einen kleinen Empfangssalon – du staunst, wie? – und bei Ströbel selbst. Ich werde mir nun mein Leben so einrichten, wie es mir gefällt. Ich bin jung, ja Gott sei Dank, noch bin ich jung. Und du darfst mich besuchen, kleine Braut, und vielleicht schenke ich dir ein Paar seidene Strümpfe –.«

Ganz plötzlich schlief Hedi ein.

Aber ihr Schlaf war unruhig, und immerfort lief ein Zittern über ihren Körper. Klara beobachtete sie.

Was war geschehen?

Labyrinthisch und voller Dunkelheiten erschien Klara plötzlich das Leben.

Dora aber freute sich immer noch über das Gedicht, während sie das warme Bad genoß. Ihre Augen, ihre Zähne, Grübchen, ihre Schultern und Brüste, die ganze Dora strahlte vor Entzücken. Es war so leicht, ihr eine Freude zu machen. Sie wartete nur darauf.

Behutsam legte sie das Gedicht zur Seite, um es 260 aufzubewahren, in dem Schubfach, das angefüllt war mit ähnlichen Huldigungen.

Ein Billett von Otto. Sie strich das volle Haar in den Nacken, las – nur zwei Zeilen – und zerriß es, in winzige Stückchen, die sie in die Aschenschale warf. Eine feine Röte flog über ihre Wangen.

Dann trank sie ein Täßchen Kakao.

Und dann griff sie nach dem Briefe des Generals. Seine Schrift begann zu zittern. Es war nicht mehr die frühere, starke Hand. Er begann langsam, ganz langsam zu altern, ja . . . Was sollte er ihr zu sagen haben? Nichts, gar nichts.

Plötzlich aber saß Dora ganz still.

Ihre glänzenden, roten Lippen standen offen, die Hand zitterte – ihr schwindelte.

Heute nacht . . .

Heute nacht also . . .

Heute nacht, während sie tanzte, während sie scherzte, während sie lachte. Vielleicht gerade in jenem Augenblick . . .

Heute nacht – die Tänzerin, die Neger, die Vermummten – alles wirbelte vor ihren Augen.

Und vielleicht gerade in jenem Augenblick . . . Sie schauerte zusammen.

Wie betäubt hüllte sie sich in das Laken, den leeren Blick zu Boden gerichtet. Vielleicht war er schon tot –.

Ihre glänzenden Augen, von dem seltenen intensiven Blau, füllten sich langsam mit Tränen.

Aber trotz allem haßte sie ihn, auch jetzt! Sie konnte es ihm nie verzeihen, daß er sie schon am ersten Tage betrogen hatte, alles andere. Immerhin, ein Mann, der ihr einmal nahestand. Der einzige Mann, der nie sentimental war und nie eifersüchtig wurde. Der einzige, der nicht flehte und nach ihr bettelte. Nein, bei Gott, das tat er nicht. Der spöttische Blick seiner kalten, scharfen Augen stand vor ihr.

Hoffentlich litt er nicht, nein, nein, was auch geschehen 261 war, diesen Gedanken konnte sie nicht ertragen. Trotzdem sie ihn gerade in diesem Augenblick bitter haßte – leiden sollte er nicht! Und doch, ein abscheuliches, verruchtes Gefühl triumphierte in ihr, ganz wider ihren Willen: also auch dich hat es gepackt! Auch dich hat die Granate zerrissen!

Ja, diesen furchtbaren Gedanken dachte Dora.

Sie stieß das Fenster auf: ein Morgen von ungeahnter Herrlichkeit strahlte.

Dann klingelte sie eilig der Zofe.

 


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