Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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11.

Noch immer saß der kleine Herr Herbst inmitten der unendlichen Dunkelheit und flüsterte zärtlich den Namen seines Sohnes. Sein kleines, hohlwangiges Gesicht war in Tränen gebadet.

Da – nun wurde es lichter an der Türe – nun kam er! Der Teuerste, Heißgeliebte kehrte aus dem Reiche der Schatten, wie die Menschen es nennen, zu seinem Vater zurück, wie in jeder stillen, dunkeln Nacht.

Ein fahler Schein ging von der Türe aus – und er erschauerte. Ja, ja, er war es, der Geliebte, Beste. Deutlich sah er ihn im fahlen Schein stehen: genau so sah er aus wie zu Hause auf dem Bilde. Ein Soldat im Helm, ein Jäger, jung, ein blutjunges Bürschchen, in der Rechten den Gewehrlauf, der mit Blumen geschmückt war, ganz wie an jenem furchtbaren Tage, da er ihn zum Bahnhof begleitete. 142

Eisige Kälte brachte er mit aus dem Reiche der Schatten. Der alte Mann zitterte. Die Kälte kroch über ihn, und er fühlte, wie sein kahler Schädel einschrumpfte. Die Angst schnürte ihm die Brust zusammen, und doch war es süß – erlösend.

»Bist du es?« flüsterte er voller Verzückung.

»Mein Sohn, mein Liebling!« Und er streckte seine eisigen, kleinen blauen Hände gegen die Türe aus.

»Bist du wieder hier?« Niemals sprach die Erscheinung, und er wartete auch nicht auf Antwort. Sie stand, regungslos, und blickte unverwandt auf ihn. Manchmal sah er deutlich die Augen, nicht immer. Seines Sohnes Augen, deren Glanz und Färbung er nie vergaß – glänzend und kristallen wie die Augen eines unschuldigen Tieres – während die Züge des Gesichts zuweilen schon seinem Gedächtnis entglitten.

»Bist du zurückgekehrt zu Papa –?«

Aber, Entsetzen! Wieder begann der Teure zu bluten –

Von der Stirn floß plötzlich dunkles Gerinnsel, gewiß, dort hatte ihn das tödliche Geschoß getroffen. Das Blut floß, es strömte, es färbte die Uniform dunkel, lautlos strömte es auf den Boden, ohne Ende. Und der Teure stand, regungslos blutete er, ohne jeden Laut . . .

»Wie schrecklich du heute wieder blutest, mein Einziger!« flüsterte der kleine alte Mann – oh, so leise! – und rang die Hände. Die Tränen stürzten über seine Wangen. »Immer noch findest du nicht Ruhe, du Teuerster? Warte, gedulde dich – ich habe schon an ihn geschrieben, er wird antworten – gewiß . . . Alles werde ich versuchen, nichts werde ich unversucht lassen – ich gelobe es – mein Liebling –.«.

Und er flüsterte, versprach, rang die Hände, verhüllte das tränennasse Gesicht –.

Da wurde es licht, der Schein einer Kerze, und augenblicklich zerfloß die Erscheinung. Nichts blieb als 143 die hellgestrichene Füllung einer Türe mit einem schwarzen Schloß.

Nicht eine Kerze, der Mond war über die Dächer gekommen. Ein Lichtkeil spaltete plötzlich die Dunkelheit des Zimmers. Erschrocken zog Herr Herbst die Hände aus dem Lichtstrahl zurück, als würden sie verbrannt.

 

Die Dunkelheit war zertrümmert, und nun kamen auch die Geräusche zurück. Stimmen murmelten, es hustete, alle Arten von Husten, vom pfeifenden Frauenhüsteln bis zum brüllenden Husten erkälteter Männer. Schlaflos war das ganze Haus, es brauchte nur der Mond über die Dächer zu kommen, aus Glas schien es zu sein. Die Lider standen im Schlummer geöffnet, wie bei den Toten, und die Strahlen des Mondes stachen wie Nadeln in die bloßgelegten Hirne.

Nebenan wimmerte ein Kind, eine Bettstelle knarrte.

»Bist du denn wieder aufgestanden?« zischelte es hinter der Wand.

»Ja, ja«, entgegnete Hähnleins heisere Stimme. »Ich sehe mir den Mond an.«

»Wie soll ein Mensch das ertragen?«

»Beruhige dich, Mutter – bald, ja bald –!«

Ermattet saß Herr Herbst, bebend vor Erschöpfung. Das Gespräch mit dem Sohn hatte ihn völlig entkräftet. Der Teure sog alle Kraft aus ihm. Das Herz zuckte in seiner Brust. Er wischte sich den Schweiß von der Stirne.

Ach, wie entsetzlich er doch wieder geblutet hatte – er litt – rasch mußte er handeln. rasch!

Er versank in tiefes Nachdenken. Langsam, wie betäubt bewegten sich die Gedanken in seinem kahlen Kopf, schlafschwer krochen sie dahin wie Schatten auf den Dächern. Das Geflüster und Gezischel hinter der Wand störte ihn nicht. Hähnleins alte Litanei – die Litanei des Elend und des Hungers. Nein, das Elend fremder Menschen 144 machte keinen Eindruck mehr auf ihn. Worte, Nichtigkeiten! Weshalb sollten nicht andere ebenfalls unglücklich sein, alle. Neulich hatte er mit angesehen, wie ein vornehmer Herr von einem Militärlastauto überfahren wurde – gerade über das rechte Bein war das schwere Doppelrad gegangen. Er war in verzweifelter Stimmung, sofort aber besserte sich seine Laune! Die Unglücklichen weiden sich am Unglück, die Kranken an der Krankheit, die Armen an der Armut – nur die Glücklichen, das ist etwas ganz anderes, sie weiden sich nicht am Glück. Sie sehen andere Menschen nicht mehr.

Langsam – aber schließlich fand er sich doch zurecht in all den Dunkelheiten.

Nein, keine Antwort. Hunderte warten!

»Der General antwortet nicht!«

»Nein, nein!«

Erregt setzte er sich auf.

»Was aber dann? Was dann?«

Im Nu hatte er die Füße auf den Boden gestellt. Er saß mitten im Mondlicht und blickte zum Fenster hinaus. Sein Schädel glänzte wie eine Quecksilberkugel, seine Augen schimmerten wie die Augen toter Fische, die schon lange liegen. Er lauschte in sich hinein, er grub in seinem Gehirn. Plötzlich begann sein gleißender Schädel zu dampfen, Rauch kräuselte aus seinen Augen. Eine Wolke glitt über den Mond. Wieder glänzte die Quecksilberkugel. Aber plötzlich saß er gänzlich ohne Kopf da. Der Mond glitt hinter einen Schornstein. Als er wieder ins Zimmer blendete, hatte Herr Herbst die Hälfte seines Volumens verloren. Er hatte den Havelock abgelegt.

Rasch, rasch riß er den Kragen und die kleine schwarze Binde ab und steckte den Kopf in eiskaltes Wasser. Der Mond funkelte.

Einen ungeheuren Gedanken hatte der Mond im Gehirn des kleinen Herrn Herbst wachgeblendet. 145

Er konnte gar nicht genug eiskaltes Wasser über seinen Kopf gießen. Fieberhaft rieb er sich ab, zog Kragen und Binde an.

»Ja, ja, weshalb nicht –?« Rasch schlüpfte er in den Havelock.

»Ich werde –«

»Ich werde –«

»Ich werde ihn besuchen!«

Schon rannte er zur Türe hinaus. Halt, wohin, es ist mitten in der Nacht! Aber nichts hielt ihn zurück. Mit raschen Schritten eilte er die leere und verödete Fabriciusstraße hinab.

Ah, und wie eisig kalt es war!

 


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