Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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6.

Über den Potsdamer Platz schwang sich an Krücken ein Krüppel. Er berührte nur mit der rechten Fußspitze den Boden. Ein kleiner fahler Schatten schwang unter ihm.

Alle Passanten, wenige, sehr wenige, zertraten unter 391 ihren Füßen einen ebenso fahlen, zusammengeballten Schatten. Es war Mittagszeit, der Himmel war mit einem Dunstschleier bedeckt, durch den die Sonne blendete. Welche Hitze?

Der Krüppel schwang sich die Leipziger Straße hinauf.

Auch diese Straße war leer! Wenige Menschen, leere Straßenbahnen. Berlin war wie ein Friedhof, den nur dann und wann ein Grüppchen von Hinterbliebenen besucht.

»Ja, ein richtiger Friedhof!« sagte der Krüppel.

Die wenigen Menschen schlichen, den Blick zu Boden gesenkt, dahin, scheu, ängstlich. Mit zitternden Händen griffen sie nach den Mittagszeitungen, warfen einen Blick hinein, falteten sie mutlos zusammen.

Krieg, Hunger, Tod – Tod, Hunger, Krieg . . .

Vor wenigen Wochen noch hatte die Hoffnung die Stadt neu belebt. Die feindlichen Reserven waren aufgerieben, England stand vor dem Abgrund. Ja, was blieb also noch viel zu tun übrig? Die Zeitungen schrieben es, ein Minister sogar verkündete es – nun schien aber doch nicht alles in Ordnung zu sein.

Wie Berlin vor Wochen gejubelt hatte, Tausende von Gefangenen, Hunderte von Geschützen, so jubelten jetzt Paris, London, Neuyork. Berlin aber war still geworden.

Ein Friedhof bei Tag, ein Friedhof bei Nacht. In den Nächten war häufig ein Donnern in der Stadt zu hören, ein Grollen, und die Schläfer fuhren erschrocken in die Höhe – horch!

Der Krüppel schwang sich an seinen Krücken die Wilhelmstraße hinauf. Hier, bei den Regierungsgebäuden, war es noch stiller. Kein Mensch. Nur ein Hund ging, mit Verlaub zu sagen, von Eckstein zu Eckstein.

Der Krüppel bog in die Linden ein und näherte sich der grauen Limousine, die vor Stifters Diele stand. Er strich neugierig um den Wagen herum. Schwerdtfeger saß im Schatten des Autos auf dem Bürgersteig und nahm wie gewöhnlich sein Mittagessen ein, ein Stück Brot mit etwas 392 Käse, weiter reichte es nicht. Wie alle Soldaten erhielt er zwei Mark dreiunddreißig Pfennige am Tage und zwei Mark Verpflegungsgelder dazu.

Augenblicklich sprang Schwerdtfeger auf und nahm Haltung an. Der Krüppel war Offizier, Schwerdtfeger hatte ihn früher schon einmal gesehen. Ja, wie ein Gymnasiast, mit schneeweißen Haaren, großen, fiebernden Augen und kreidigem Gesicht, das unaufhörlich zuckte.

Der Krüppel schwang sich in Stifters Diele.

Hier, in einer halbdüstern Nische des vornehmen Restaurants, sah er ein erdiges Gesicht mit schwarzen Augenhöhlen und einem Blick, der brannte, ohne etwas zu sehen.

Auch Stifters Diele war fast leer.

»Ist es erlaubt?« fragte der Krüppel.

Das erdige Gesicht mit den schwarzen Augenhöhlen kam in Erschütterung, aufs tiefste erschrocken, die brennenden Augen, die nichts sahen, glitten prüfend über das Gesicht, das ohne Pause zuckte, über das schneeweiße Haar dieses Gymnasiastenkopfes.

»Ich hatte die Ehre –« Das zuckende Gesicht versuchte zu lächeln.

Da sah der General, daß es Hauptmann Wunderlich war.

»Ist es möglich? Es ist so dunkel hier. Bitte Platz zu nehmen – bitte mir die Freude zu machen, mein Gast zu sein, Hauptmann Wunderlich.«

Hauptmann Wunderlich lehnte die Krückstöcke an die Wand und zog sich an den Armlehnen des Sessels in die Höhe. Nie hatte der General die Krücken Wunderlichs erblicken können, ohne ihn ganz im geheimen um sie zu beneiden.

»Also in Berlin?«

»Ja. – Ich bin fertig!«

»Fertig?«

Wunderlichs Gesicht zuckte. Der Blick seiner großen Knabenaugen fieberte. 393

»Die Nerven«, sagte er. »Fertig! Leider, aber nicht zu ändern. Zusammengebrochen!« –

Aber, seht an, auch die Hände des Generals zitterten, und es schien, als ob es dem General Schwierigkeit bereitete zu sprechen, er stammelte, stotterte, suchte nach Worten. Wo war die wunderbare Ruhe und Sicherheit des Generals hingekommen?

»Also nicht zufrieden mit den Nerven? Auf Urlaub?« Der General füllte mit zitternder Hand Wunderlichs Glas. »Auch hier in Berlin sind wir – überarbeitet, dazu die Hitze. Und an der Front?«

Flüstern.

»Scharen von Fliegern! Kämpfe in drei Etagen – in zwei-, drei- und viertausend Meter Höhe – für eine abgeschossene Maschine zehn neue – Kämpfe auch in der Nacht –«

»Auch in der Nacht?«

»Und Bombengeschwader – in jeder Stunde der Nacht – keine Ruhe mehr in den Quartieren und Lagern – kein Schlaf . . .«

»Hm.«

Der Kellner servierte.

Mit verzerrtem Gesicht berichtete Wunderlich. Er murmelte, damit niemand in der Diele ihn hören konnte.

»– allein fünfzigtausend Mann durch Gefangennahme verloren in drei Tagen, fünfhundert schwere Geschütze –«

»Ich weiß, weiß.«

Flüstern.

»– die Lazarette ohne Leinen, die armen Kerle in ihren schmutzigen Uniformen – Papierverbände, nackt begraben . . . Pferdefleisch –«

»Pferdefleisch?«

»– erst die Zunge, jeder ein Stück, mit dem Messer – in einer Minute liegt nur noch das Skelett des Pferdes da –«

»Hm.« 394

»– und die Pferde fallen zu Hunderten, Tausenden. Ohne jede Kraft –«

»– und Gelbkreuz, Blaukreuz?«

»Keine besonderen feindlichen Verluste. Man findet die Batterien verlassen. Aber dahinter stehen neue.«

»Und der – Geist der Truppe?«

»Herrlich – wunderbar, wie immer. Kämpfen bis zur Erschöpfung. Ohne ordentliche Verpflegung, seit Wochen ohne Ablösung . . .«

»Einzelne Divisionen nur noch Stäbe – Feldküchen, Kraftfahrer . . .«

Flüstern. Raunen. Der General setzt den Kneifer auf und blickt argwöhnisch aus der Nische. Überall Lauscher. Wenn der Feind das erführe –!

»Eineinhalb Millionen amerikanischer Truppen –«

Plötzlich zieht der General die Uhr und erhebt sich rasch. Seine Hände sind eisig kalt. Er schwankt beim Hinausgehen.

Und die graue Limousine rast durch die glühenden Straßen: Sitzungen, Konferenzen . . .

 

Geschrei . . .

Geschrei in den Wolken. Verflucht die Welt, verflucht die Erde! Verflucht Könige, Präsidenten und Minister. Verflucht!

Betrogen um unser Leben, geopfert dem Wahnsinn!

Die Millionen der Gefallenen, Geschlachteten, Millionen und abermals Millionen, fahren über Europa dahin, in ihren armseligen Lumpen, zerfetzt ihre Leiber und schreien. Sie verdunkeln den Himmel.

Betrogen, betrogen!

Fluch auf euch!

Aber die Front donnert, und unendlich steht die Staubwolke über der Walstatt.

Nun fällt der Tau, die Nacht sinkt herab. Der Horizont funkelt, Feuer loht über das Gewölk, die Geschütze brüllen. 395 Riesengroß steht Ackermanns Geist über dem Schlachtfeld, und lauter als die Geschütze schallt seine Stimme.

»Völker der Erde – Söhne von Müttern – Brüder . . .«

Furchtbar fauchen die Granaten um ihn. In seinem weiten grauen Mantel steht er, die Hände erhoben, seine Augen sind sprühende Sterne. Stahl, Feuer, Gase? Was wollen sie noch von ihm? Lauter als die krachenden Granaten tönt sein Ruf.

»Brüder!«

Und die schweißbedeckten Soldaten in den Laufgräben, Erdlöchern, Batteriestellungen lauschen. Welche Stimme?

Ackermanns Geist trägt die Verwundeten über das Schlachtfeld, fällt den Rasenden in den Arm, die den hilflosen Gegner niederschlagen wollen, führt die Hand des Arztes, der den blutenden Feind verbindet. Ackermanns Geist berührt die Toten, die mit offenen Augen liegen, Deutsche, Franzosen, Inder, Amerikaner, Engländer, Neger, Kanadier, Australier, und spricht: ihr alle werdet auferstehen am Tag der Versöhnung, ihr Heiligen und Märtyrer!

Ackermanns Geist erfüllt die finstere Wolle, die über der Walstatt bis zu den Sternen lodert, und schon – schon dämpft sich der Lärm der Geschütze. Schon schweigen sie . . .

Aber die Greise, die einen leisen Schlaf haben, fahren erschrocken auf in ihren Betten, lauschen und drücken auf die Klingel.

Wiederum beginnen die Geschütze fürchterlich zu toben.

Die Menschen lieben Macht und Glanz wie Kinder. Leicht sind die Völker zu verführen – aber wehe denen, die sie verführen!

 


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