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Platz gemacht!«
»Platz!«
Die Autos rasen.
Weite graue Mäntel, Soldatenmäntel, flattern eilig durch die Straßen. Hier, dort, überall. Es sind Hunderte, Tausende. Voller Lehm, voller Staub, der Kalk der Champagne, der Schlamm von Flandern, mit Blut befleckt, versengt von den Granaten, von den Gasen gebleicht, durchlöchert – die weiten flatternden Mäntel haben die Stadt überflutet.
Und die Autos rasen dahin, mit Trauben von 442 schweißtriefenden Menschen behangen. Auf den Trittbrettern kauern sie, auf den Motorhauben, den Schmutzflügeln, mit Gewehren und Handgranaten. Die roten Fahnen knattern – so rasen sie dahin.
»Platz gemacht!«
Es sind die Jungen, die gekommen sind, die neuen Gesichter, die Kühnen und Wollenden.
»Gegrüßt Ihr Kühnen, Wollenden, gegrüßt!«
»Vorboten des kommenden Menschen, gegrüßt! Ihr Läufer, die dem neuen Reiche vorauseilen, ihr Hoffenden, Starken, Liebeglühenden, gegrüßt . . .«
Ackermanns weiter Mantel flattert zwischen den roten Flaggen, die die Linden hinabrasen. Schüsse knattern. Staub fährt aus der Stadt.
Feuer speit der Vulkan, und die Erde bebt – –
Verloren – alles, in einer einzigen Stunde . . .
Und die Armee auf dem Rückmarsch! Regimenter, Divisionen, Korps – Hunderttausende, ja Hunderttausende. Hunderttausende – Millionen! Hunderttausende von Pferden und Wagen, Zehntausende von Geschützen – die Straßen überschwemmt, Schulter an Schulter, keuchend, Rad an Rad, krachend, Pferdeflanke an Pferdeflanke, mit Schaum bedeckt – Tag und Nacht, Nacht und Tag – jetzt in dieser Minute –
Der General findet keinen Schlaf mehr.
Er sieht die Riesenarmee auf ihrer Wanderung, Schauspiel, unerhört in der Geschichte, er hört sie! Er sieht die Flugzeuge, die über den Landstraßen kreuzen und die Marschbefehle abwerfen.
Eine Stockung, und Hunderttausende sind dem Hungertode verfallen!
Eine Stockung, und Hunderttausende fallen in die Hände des nachdrängenden Feindes – seine Vortrupps heben sich am Horizont ab!
Eine Stockung, und Panik erfaßt Hunderttausende, die 443 Riesenarmee zersplittert in tausend Stücke, und Banden von Verzweifelten wälzen sich durch die deutschen Lande!
Ein Wunder . . . ein Wunder an Manneszucht und Ausdauer allein – Europas Schicksal hing an einem Faden!
Nein, kein Schlaf kommt mehr in die Augen des Generals!
Er sieht die Riesenarmee auf ihrer beispiellosen Wanderung – beispiellos und unerhört – aber er sieht auch, daß sie rückwärts wandert.
Rückwärts!
In Eilmärschen, vom Gegner diktiert!
Niemals, niemals – unfaßbar!
Irgendwo brennt eine elektrische Lampe, und zuweilen kriecht das graue Antlitz durch einen dunkeln Spiegel.
Unfaßbar, ganz unfaßbar!
Der General stottert, er findet die Worte nicht mehr – seine fahlen Lippen bewegen sich, ohne einen Laut hervorzubringen . . .
Und hinter den dunkeln Vorhängen, hinter den herabgelassenen Rolläden, horch! Ja, wieder!
Da ist er wieder! Er mahlt.
Der Schritt! Hunderttausendfältig, ohne großen Lärm, wie ein Volk, das aufgebrochen ist und seinem Ziele zuwandert – ohne sonderliche Eile, denn es weiß, daß es sein Ziel erreichen wird. Dieser Schritt verfolgt ihn. Tag und Nacht wandert der Schritt der Hunderttausend an seinem Fenster vorbei. Eine Armee ist aufgestanden und wandert. Eine Armee, die irgendwo verborgen lebte. Wo waren sie bis heute? Er hatte sie nie gesehen. Lebten sie in der gleichen Zeit, in der gleichen Stadt? Ja, weshalb sah er sie nie? Die Vielen, die Unbekannten – mit diesen Augen, die nicht Augen von Menschen waren, von Wölfen, Füchsen, Adlern und Geiern. Mit diesen Gesichtern, die er früher nur in Träumen sah. Wo hatten sie gelebt bisher, wo hatten sie sich verborgen gehalten?
Horch! Woher? Wohin? 444
Endlos, ohne Aufhören wandert der Schritt der Hunderttausend. Selbst im kurzen Schlaf der Erschöpfung hörte er ihn.
Der General nimmt den weichen Hut, und das graue Steingesicht – grau wie der Staub der Landstraße – erscheint in dem kleinen, kahlen Vorgärtchen.
Die Augen der Wölfe und Füchse, die stechenden Augen der Geier gleiten prüfend über das breite graue Gesicht, und ihr Blick dringt in die Dunkelheit der schwarzen Augenhöhlen. Da aber beginnt es in den Dunkelheiten dieser finsteren Augenhöhlen zu glühen und zu sprühen – noch ist es nicht so weit!
Ein neues Geschlecht, ein verborgenes, unbekanntes, ungeahntes, nie gesehenes, war aus der Erde gestiegen.
Rufe, Schreie branden über den mahlenden Strom der Neuen, Niegesehenen dahin. Der General versteht sie nicht. Fahnen, Plakate, Inschriften, unverständlich. Lieder, Gesang – unverständlich.
Still steht er – ja, wie ein Baum, die Blätter sind gefallen, ein kahler Baum, und ringsum ist nichts, nichts, Nebel, soweit das Auge blicken kann. Und der Baum fröstelt, krümmt sich im Wind.
Endlos, in Wahrheit! Die Erde hat sich geöffnet, und die Lava strömt – langsam und ohne jedes Ende.
Schon wandert er neben dem endlosen Strom dahin und verliert sich in den Straßen. Die Hände in den weiten Manteltaschen des altmodischen Jagdrocks, den weichen Hut in die Stirn gezogen – und den Schnurrbart hat er etwas gestutzt, nicht viel, einen, zwei Daumen breit.
Straßen ohne Ende wandert er hinab. Er überquert Plätze, blickt in Seitengassen. Sein düsterer Blick zuckt über die Züge der Demonstranten. Nicht einmal die Autos mit den roten Fahnen läßt er vorüberfahren, ohne die Gesichter zu prüfen. Aber er läßt sich nicht entmutigen, weiter, hinab die Straße, hinauf – er sucht.
Ja, er sucht! 445
Die Straßen sind überschwemmt von Menschen. Die Dämme sind gerissen, die Flut spült durch die Stadt. Aus den Vorstädten, aus den Fabriken, die in den Nächten – in wie vielen endlosen Nächten! – gleißten, waren sie gekommen, die gelben Gesichter, die Arme vom schlechten Öl zerfressen, die Augen entzündet von der stechenden Flamme der Bogenlampen. Auch die Bleichen und Fahlen, die den Tag seit Jahren nicht sahen, waren gekommen. Auch sie waren gekommen, die sich von Rüben und faulen Kartoffeln nährten, während der Kellner in Stifters Diele Geheimnisse in das Ohr der Gäste raunte. Auch sie waren gekommen, die noch die Lügen glaubten, während die Eingeweihten schon lange die Wahrheit kannten. Auch sie waren gekommen, die ihren dünnen, abgescheuerten Ehering opferten, während in den Schlössern die Leuchter aus schwerem Gold und Silber auf den Tafeln standen. Auch sie waren gekommen, die Elenden, die nicht einmal mehr ein Hemd auf dem Leibe trugen.
Von da draußen – da draußen – –!
Die Hohläugigen, die Vergessenen, die Angespienen, die lebendig Begrabenen, die Verfemten, die Gemarterten, die Gekreuzigten – ja, von ihren Kreuzen waren sie gestiegen und gekommen.
Auch die Frauen waren gekommen, die die Frucht ihres Schoßes, ohne zu feilschen, den Generalen hingegeben hatten.
Auch sie waren gekommen, die Frauen, deren Männer längst in den Massengräbern moderten, auch die Mütter waren gekommen, die ihre Säuglinge an der versiegten Brust sterben sahen.
Auch sie waren gekommen, die Wahnsinnigen, die Krieg und Not um den Verstand gebracht hatte, auch sie, die Sterbenden, erschöpft zu Tode von Gram und Mühsal, auch sie schlichen auf zitternden Beinen dahin. Auch die Verzweifelten, die das Leben nur noch nach Stunden maßen, auch sie waren gekommen. 446
Auch die Tapferen waren gekommen, die Mutigen, die selbst in den furchtbaren Jahren nicht den Glauben an den Sieg ihrer Sache verloren hatten. Gepriesen sei ihr Name!
Geboren von Müttern? Gezeugt in Betten? fragte der General.
Ja, natürlich, was für eine Frage, geboren von Müttern. Gezeugt in Betten und überall, hinter Zäunen, auf den Bänken der öffentlichen Gärten – was für eine Frage, als ob es darauf ankäme?
Die Erde war geborsten, und sie kamen heraus. Die Formlosen, Ungeformten, selbst noch Erde. Die Verschütteten waren ans Licht gekommen, die Explosion hatte sie befreit. Die Kasernen und Zuchthäuser waren geborsten. Auch die Schutzhäftlinge – Tausende und aber Tausende, die im Wege waren –, sie waren frei. Auch jener Inder, den ein Geheimer Rat drei Jahre in Schutzhaft hielt, er war frei, und sein Peiniger bestellte ihm ein Hotelzimmer, um selbst rasch ins Ausland zu entfliehen.
Verschwunden die auf den Mann dressierten Berittenen und die Blauen, die gleich mit dem scharfen Säbel einschlugen. Verschwunden auch jenes Polizeigehirn, das eine Bibel von Verordnungen verfaßt hatte, die jeden Schritt von der Geburt bis zum Grab regelte. Fort mit ihm!
Fahrdämme und Bürgersteige sind überschwemmt. Redner überall. Auf Autos, Wagen, Karren, Bänken. Der Stumme, Jahrzehnte, Jahrhunderte stumm gehalten, nun spricht er!
Soldaten überall, einzeln, in Trupps, in Scharen, in ihren armseligen, geflickten Uniformen. Durch das Blutmeer sind sie geschritten, dem Blutmeer sind sie entstiegen, noch sind sie betäubt vom Geruch des Menschenbluts, schon aber glänzt neue Hoffnung in ihren Augen.
Düster gleitet der Blick des Generals über sie hin, seine Lippen zucken: die deutsche Armee –.
Er fröstelt. 447
Kriegsgefangene, auch sie sind frei. In Rudeln schieben sie sich durch das Gedränge: Franzosen und Russen, Italiener und Engländer, Schotten und Irländer, Kanadier, Neger, Australier, Inder, in allen denkbaren Uniformen. Sie rauchen, kratzen sich die stachligen Backen, spucken aus, schnattern. Einer humpelt auf seinem Holzstumpen dahin, aber er lacht. Ja, weshalb nicht? Der Krieg ist gewonnen, der Präsident wird ihn auf die Wange küssen und ihm eine Blechmünze auf die Brust heften. Sein Vaterland wird ihm eine Rente aussetzen, zwanzig, dreißig, vielleicht hundert Francs den Monat, eine Drehorgel wird er gratis erhalten, er hat keine Sorgen mehr.
Schon aber wandeln sie stolz und unnahbar durch die kochenden Straßen, die Brust voller Ordenssterne, mit roten Streifen an den Hosen, Litzen und Tressen, glitzernd und funkelnd: die Sieger! Ein Geruch von Lorbeer bleibt hinter ihnen zurück.
Von weitem schon erspäht sie das Auge des Generals. Rasch begibt er sich auf die andere Seite der Straße und sieht sie dahinwandern. Sie also! Die Würfel fielen.
Auch in seinen düstersten Träumen –. Ja, oft hatten ihn düstere Träume gequält, oft schien es ihm, in müden Stunden, als ob es zuviel sei, ja, trotz der wunderbaren Armee und der herrlichen Organisation, zuviel – aber selbst in seinen düstersten Träumen hatte er es nicht für möglich gehalten, daß einst die Uniformen der feindlichen Generalstäbe unter den Linden lustwandeln würden.
Hell gegen den funkelnd blauen Himmel, hell und leuchtend flattert die rote Fahne über dem Schloß.
Versprechungen – Lügen, freie Meinung – Gefängnis, Freiheit – Kartätschen: ja, nun also flattert die rote Fahne auf dem Schloß.
Im Gebäude des Reichstags tagt das Parlament der Novembermänner, im Abgeordnetenhaus und im 448 Herrenhaus, wo die Greise noch gestern um Nichtigkeiten feilschten, beraten sie. Wo man nur flüsterte, tobt der Lärm, wo die Diener die Stiefel des Unbekannten musterten, kauern die Posten bei ihren Maschinengewehren. Fort die Gehröcke und Gamaschen, die Flüsterer, die wehenden Greisenbärte und funkelnden Glatzen, die krummen Rücken!
Hüte dich! Wie eine Stichflamme brennt die neue Sonne am Himmel. Sie stieg empor aus dem weiten Rußland, benetzt von Blut und Tränen. Sie hat die Weichsel überschritten. Sie wird den Rhein überschreiten. Sie wird den Kanal überschreiten – benetzt von Blut und Tränen. Jenseits des Atlantiks wird sie aus dem Meer steigen, und die Stahlkammern der Wolkenkratzer werden in der Stichflamme dahinschmelzen – auch die Pyramiden der ägyptischen Könige sind heute nicht mehr als Steinhaufen ohne jeden Sinn.
Auch aus den Fluten des Stillen Ozeans wird sie eines Tages auferstehen, wo die gelben Völker wohnen.
Die Greise, die Grausamen, die Vermessenen, die die Geschicke der Völker lenken, wird sie verzehren, die neue Sonne; ehe sie es gewahr werden – ehe sie lallen können, werden sie nicht mehr sein.
Die Geschichte wird ihre Namen verzeichnen, wie sie den Namen Neros verzeichnete, der Menschen als Fackeln brannte. Aber vor ihren Namen wird Neros Name verblassen.