Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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9.

Zögernd bog der kleine Herr Herbst um die zugige Ecke und lenkte in seine Straße, die Fabriciusstraße, ein– ganz weit da draußen.

Eine plumpe Eisenbrücke spannte sich zwischen den Häusern, und soeben rollte donnernd ein Lastzug darüber. Der Qualm sank auf den Schmutz des Pflasters herab.

Es half alles nichts, er mußte unter der Brücke hindurch, auch wenn sie zusammenbrechen sollte. Die Angst des Trinkers schnürte ihm die Brust zusammen.

Die große Stadt machte hier einen düstern und verwahrlosten Eindruck. Die Straßen waren schnurgerade, überall die gleichen grauen Mietskasernen, die gleichen Aufschriften, die gleichen Scharen von bleichen, zerlumpten Kindern. Die gleichen hohlwangigen Weiber, die, mit einem kleinen Topf oder einer Tasche in der Hand, in Tücher gehüllt, an den Häusern entlangkrochen und husteten. Die gleichen mageren schwarzen Alleebäumchen, die in der sauren Luft erstickten. Der Mörtel fiel von den Hauswänden, schmutzige Papierfetzen trieben in den Rinnsteinen. Vor 131 den Nahrungsmittelgeschäften, die die Wochenration an Fett, zwanzig Gramm, angaben, standen lange Reihen von blaugefrorenen Frauen und vertraten sich die kalten Füße, während sie schwätzten und keiften.

Sonst waren Geschäfte und Läden leer, gähnende Särge. Bäckerläden ohne Brot, Fleischerläden ohne Fleisch, Schuhgeschäfte mit Holzschuhen und Blechdosen voller Stiefelwichse. Auch in dieser Gegend gab es jene Läden, in denen altes Metall gesammelt wurde, für die Kriegführung, Lampenfüße, Photographierahmen, Aschbecher, der Schutt aus den Wohnungen der Ärmsten.

Dann gab es hier noch das Delikatessengeschäft von Alfred Schustermann, mit der Aufschrift: Mensch, was für 'ne Ware! Seemuscheln, Pfahlmuscheln, waggonweise eingeführt, zu Gelee, Aspik, Pasteten, Würsten verarbeitet. Die Professoren, die entdeckt hatten, daß Baumrinde nahrhaft war und man Pilzkulturen in den Dachrinnen anlegen konnte, erklärten, daß diese Muscheln selbst Ochsenfleisch an Nährkraft überträfen.

Immer näher aber kam die graue Mietskaserne mit der riesigen Aufschrift: Leihhaus.

Der Schritt des Havelocks verlangsamte sich mehr und mehr, seine tränenden, entzündeten Augen blinzelten unter dem steifen Hut. Er hatte fast jeden Mut verloren.

Eine Weile holte er Atem vor der »Zoologischen Handlung«. Noch lebte er, der kleine muntere Zeisig, sein Freund, der das Problem gelöst hatte, das Körnerfutter bis zu fünfundneunzig Prozent auszumahlen. Die andern, die kleinen grünen Papageien, die beiden Kanarienvögel, die Drossel, sie waren an dem Problem nacheinander gescheitert und gestorben. Ja, gestorben. Auch die kleinen weißen Mäuse, die ewig im Kreise liefen, waren plötzlich bei ihrem spaßigen Rundlauf in Atemnot geraten. Der vierte Kriegswinter hatte auch sie vernichtet. Nur der Zeisig sprang noch munter in seinem kleinen Käfig hin und her. 132

Zwischen der »Zoologischen Handlung« und dem Leihhaus führten drei ausgetretene Stufen zum »Löwen von Antwerpen« empor, und schon war der Havelock in der Gaststube.

Keine Vorwürfe – er mußte Mut sammeln für die Nacht. Denn die Nacht würde kommen, so gewiß wie etwas! Und mit ihr die furchtbaren Nachtgespenster, seine Peiniger, vor denen nur der tiefe Schlaf Schutz bot. Der Rausch, um offen zu sein, die bewußtlose Trunkenheit.

Ja, hier war er zu Hause, man sah es sofort an der Grimasse, mit der ihn der Wirt, ein Buckliger, empfing. Dieser Wirt wurde von den Soldaten, die in der Kneipe verkehrten, der »Millionär« genannt. Ja, hoho, so ein Buckel hatte seinen Wert heutzutage, ohne Zweifel! An den Sonntagen kamen auch Munitionsarbeiterinnen hierher, und es ging lustig zu. Sie tranken – sollte man es glauben, die Kleinen? – sie tranken Schnaps wie die Männer – ah, und sie trugen seidene Röckchen. Wenn sie ihn auch etwas hänselten, es schadete nichts. Sie lachten und hatten keine Sorgen. Vielleicht flogen sie morgen in die Luft, alles war möglich, deshalb lachten sie auch so ausgelassen.

Endlich – es war schon finster draußen – kroch der Havelock die Treppe des Leihhauses empor. Längst war die kleine Wolke, auf der er stundenlang bequem dahingerollt war, verschwunden. Seine Beine zitterten vor Müdigkeit.

Leise, leise schloß er die Flurtüre auf. Er liebte es nicht, daß man ihn kommen oder gehen hörte. Drei Parteien wohnten hier, jede hatte ein Zimmer, und die Küche gehörte ihnen gemeinsam. Aber er hatte diese Küche nie betreten. Schon war er in seiner kleinen finsteren Stube, schon hatte er die Schuhe abgelegt. Plötzlich zitterte er. Ah, wenn er nur nicht wieder von dieser Schaukel träumte! Alles, nur das nicht! Träumte er doch neulich, er säße auf einer Schaukel, die durch endlose schwarze Nacht 133 dahinschoß. Angeklammert wie ein Affe saß er auf dem schmalen, schlüpfrigen Brett, er schrie vor Angst – aber die Schaukel schoß dahin in endlosen Pendelschwingungen, jede eine Ewigkeit, ohne Gnade pfiff sie in rasender Schnelligkeit dahin.

Rasch, rasch, ehe sie ihn packten . . .

Schon schlief er. Ein leises Wimmern drang aus seinem kreisrund geöffneten Mund. Den Havelock hatte er anbehalten.

 

Da! Augenblicklich saß er wieder aufrecht im Bett. Seine dünnen Haare sträubten sich, der Schweiß stand auf seiner Stirn. Er dampfte vor Hitze und Kälte. Immer noch war sein Mantel feucht vom Regen der gestrigen Nacht.

Hatte nicht jemand gerufen, ihm fürchterliche Worte ins Ohr geschleudert, wie Felsen? Und ein Krachen, als berste das ganze Haus in zwei Teile, hatte er es nicht deutlich gehört? Die Balken splitterten. So deutlich!

Noch gellte das furchtbare Krachen in seinen Ohren, und erst nach geraumer Zeit fand er sich in die Wirklichkeit zurück. Zwischen einer unbekannten, ungeahnten Welt und der Wirklichkeit lebte er – seit jenen Ereignissen . . . Oft hielt ihn das Unbekannte, Unverständliche tagelang in seinem Bann, oft überfiel es ihn urplötzlich am lichten Tage – aber wiederum hatte er auch seine klaren Tage, wie er sie nannte. Da war alles so wie früher, und das andere erschien noch unverständlicher und schrecklicher.

Dunkelheit, und nun erwachten Geräusche, Geräusche dieser Welt, Gott sei Lob und Dank.

Hinter der Türe, dem schmalen Bett gegenüber, klapperte eine Schreibmaschine. Er arbeitete dort, der Student Ackermann, zurzeit Soldat. Er schrieb für Zeitungen, um Geld zu verdienen – er schrieb auch noch ganz andere 134 Dinge – Herr Herbst wußte Bescheid, oh, oh. Er wußte mehr, als jener ahnen konnte.

Hinter der Wand, an der das Bett stand, auf dem er lag, strich ein Schritt vorüber, immer auf und ab, wie ein Tier, das rastlos in seinem Käfig hin und her geht. Das war Hähnlein, der Tapezierer, zurzeit Soldat. Er wohnte in dem Zimmer nebenan mit seiner kranken Frau und seinen beiden Kindern. Vor kurzem hatte sie wieder geboren, aber das Kind war bald nach der Geburt gestorben. Es wog nur viereinhalb Pfund. Und welches Geschrei hatte es gegeben, trotzdem sie nichts zu nagen und zu beißen hatten! Hähnlein und Ackermann waren früher beim gleichen Regiment, und Hähnlein hatte Ackermann hierher in dieses Haus gebracht. Das alles hatte Herr Herbst Gesprächen entnommen.

»Schlafe doch!« zischelte Frau Hähnlein. Die Bettstatt krachte, und sie hüstelte.

»Schlafen? Schlafen? Ich kann nicht schlafen«, entgegnete die heisere Stimme Hähnleins, und wieder schabte sein Schritt hinter der Wand.

Die Wand war dünn wie Papier, nun, eine Mietskaserne, er vernahm jeden Laut.

Die Frau wimmerte.

»Weine nicht, vielleicht kommt es bald, wie Ackermann sagt«, tröstete sie Hähnlein. Und deklamierend fügte er hinzu: »Die Völker der Erde werden sich erheben gegen ihre Peiniger!«

Oft ging Hähnleins Schritt die ganze Nacht hin und her, bis der Tag graute. Herr Herbst hatte sich längst daran gewöhnt. In unruhigen Nächten beruhigte ihn dieser ruhelose Schritt sogar. Ein Mensch, ein Leidender, wie er, dicht nebenan.

Es wurde still hinter der Wand, und nur die Schreibmaschine Ackermanns klapperte eifrig. Es konnte noch nicht spät sein, denn im Haus summten Stimmen. Türen wurden 135 zugeschlagen, und zuweilen krachte die Haustüre ins Schloß, daß das ganze Haus zitterte.

Die lange furchtbare Nacht lag vor ihm.

Seine Beine waren vor Müdigkeit geschwollen. Sie waren Wolken, ins Endlose verströmend. So würde er nun sitzen müssen die ganze Nacht und lauschen auf jedes Geräusch – auch auf jene Geräusche, die aus dem Unbekannten kamen.

Seltsame Fügung, die ihn in dieses Zimmer geführt hatte! Der bucklige Wirt vom »Löwen von Antwerpen« hatte es ihm empfohlen, damals, als er den Entschluß gefaßt hatte, nicht mehr in die Blücherstraße zurückzukehren. Längst hatte er es aufgegeben, nach Erklärungen zu forschen, alles war Fügung. Jeder Schritt im menschlichen Leben wurde gelenkt von unbekannten Gewalten, guten und bösen. Sinnlos, sich dagegen zu sträuben. Nun, er sträubte sich nicht mehr, er forschte auch nicht mehr – er war in der Hand des Allmächtigen, der die Haare auf seinem Haupte gezählt hatte. Sollte es so sein!

Frau Hähnlein hinter der Wand begann zu wimmern, zu klagen, zu beschwören. Nun begann es wieder. Es half ihr nichts. Der Mensch ist ein Tier . . . obschon seine Frau leidend war – ein Tier war dieser Hähnlein.

Dann wurde es wieder still, die Geräusche im Hause erstarben mehr und mehr, und nur noch die Schreibmaschine hinter der Türe klapperte.

Schreibe du nur! sagte Herr Herbst zu sich – um sich zu beschäftigen, die Nacht war lang –. »Deine Zettel, deine Reden, deine . . .« Lange Wochen war ihm dieser Soldat im weiten Mantel ein Rätsel gewesen. Was trieb er, was tat er in den Nächten? Oft hielt er Reden, förmliche Reden. Erst vor kurzer Zeit, beim Januarstreik, hatte er ihn plötzlich erkannt! Mit eigenen Augen und Ohren sah und hörte er, wie er zu einem Haufen streikender Arbeiter sprach, nebenan, bei den Laubengärten – und was er sagte, 136 Grundgütiger! Es gab keinen Zweifel mehr, er war – ein Spion, ein Agent . . . gehörte zu jenen, von denen die Zeitungen schrieben, daß sie Geld bekommen von den Feinden. Er stand auf einem Steinhaufen, redete, schrie und schwang die Soldatenmütze. Keine Granate mehr! Da aber kam die Polizei, und sie liefen – und auch er lief. So schnell wie die andern – hahaha! So schnell liefen sie, solche Angst hatten sie . . .

Manchmal kamen auch Freunde zu ihm, meistens junge Leute, Kameraden, die laut schrien und alle wild durcheinander redeten. Unvernünftige, Unerfahrene. Was für Leute waren das? Nun . . . dieselbe Sorte, um kein Haar besser. Für sie gab es nichts Heiliges, nichts vor dem sie haltmachten. Die Minister, was waren sie? Nun – höchst einfach – Dummköpfe und Verbrecher! Und die Generale – höchst einfach –geputzte Narren! Und die Diplomaten – selbstgefällige Gecken! Ja, sie, sie, diese jungen Leute, sie waren viel klüger als diese Minister und Diplomaten! Aber die höchsten Fürstlichkeiten, was waren sie – nun, er würde sich schämen, die Worte zu wiederholen. Aber auch die feindlichen Staatsmänner, Präsidenten und Minister, was waren sie – ganz das gleiche verbrecherische Gesindel. Nein, nichts gab es, was ihnen Respekt einflößte. Hat man es je gehört: Die deutsche Regierung bestand aus Anarchisten, die Tag und Nacht darüber nachdachten, wie sie das Deutsche Reich am schnellsten zugrunde richten könnten? Wie? War es denkbar?

Aber, was waren diese Leute in Rußland, diese Räuber und Diebe? – Heilige waren sie, nicht mehr und nicht weniger.

Ja, völlig neu mußte die Welt aufgebaut werden, von Grund auf – und sie, diese jungen Leute, die so laut schrien, sie allein wußten, wie alles gemacht werden mußte. Sie ganz allein.

Manchmal flüsterten sie auch, tuschelten, raunten, geheimnisvoll – 137

In diesem Augenblick lachte Ackermann in seinem Zimmer laut auf und sagte: Man sollte es nicht für möglich halten –

Und wütend prasselte die Schreibmaschine.

Nicht für möglich halten?

Warte nur, du, du . . . he?

Hast vergessen, daß Gott jeden deiner Schritte bewacht, daß die Haare auf deinem Haupte gezählt sind – die Fügung hast du ganz vergessen.

An den Sonntagen, da saßen sie oft bis in die späte Nacht und debattierten, schrien, sprachen durcheinander, daß man kein Wort verstand. Neu, völlig neu sollte die Welt erstehen!

Und sein Mädchen saß dabei, an den Sonntagen! Es war ja selbstverständlich, daß dieser, dieser – ein Mädchen hatte, aber, daß sie dabeisaß, während es nichts Heiliges für sie gab? Nein, nein, es störte sie gar nicht, nicht im geringsten. Im Gegenteil. Sie kochte Tee und sagte: Bitte, meine Herren – bitte. Und so ging es den ganzen Sonntag bis nachts um zwei, drei Uhr. Bitte, meine Herren – und sie qualmten, daß der Rauch durch die Türe quoll und er husten mußte, obschon er doch selbst ein starker Raucher war. Worte flogen, Worte, wilde, verwegene Worte.

Und sein Mädchen saß mitten unter ihnen!

Da schwieg die Schreibmaschine plötzlich. Ackermann verließ das Haus. Sein Schritt eilte die Treppe hinab, die Haustüre wurde ins Schloß geworfen. Bis zum grauenden Tag würde er nun fortbleiben.

Wann schläft er eigentlich? dachte Herr Herbst in seinem Bett.

Nun war es ganz still geworden. Es knackte in den Balken, rieselte in den Mauern, die Wände seufzten.

Ja, ganz still und dunkel.

Mitten in der unendlichen Dunkelheit und Stille saß der kleine alte Mann, und plötzlich begann er zu flüstern. Leise, oh, so leise – nur er hörte es. 138

»Robert – mein Sohn – Geliebter, Teurer – mein Liebling –!«

Zärtlich streckte er die kleinen Hände der Dunkelheit entgegen.

 


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