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Oberleutnant v. Hecht-Babenberg?«
»Dritte Station, meine Dame, den Gang entlang und dann links. Zimmer 233.«
Man mußte nur höflich fragen, dann bekam man selbst hier in Berlin höfliche Auskunft. Hedi war stolz auf ihre Fähigkeit, mit den Menschen umzugehen. Selbst jetzt, wo sie rasend wurden, wenn man sie nur anblickte, kam sie noch vorzüglich mit ihnen aus. Allerdings sah dieser Pförtner wohl auf den ersten Blick, daß er eine Dame vor sich hatte. Sie wollte natürlich einen guten Eindruck machen, wenn sie Otto besuchte, und hatte ihr himbeerfarbenes elegantes Hütchen aufgesetzt. Dazu trug sie den Biberkragen von Mama und helle Seidenstrümpfe.
Aus der Papierhülle lugten drei weiße Rosen.
Es roch nach Karbol, aber Hedi liebte Karbolgeruch. Alles war blitzblank und eigentlich weniger schrecklich, als sie es sich gedacht hatte. Sie liebte es nicht, derartige Orte zu besuchen, Friedhöfe, Krematorien, Krankenhäuser flößten ihr Schauder ein. Sie mied sie. Nur Mamas Grab besuchte sie zuweilen – aber das war ja schon lange her.
Nun aber wurde der breite Korridor belebter, und sie schritt schon etwas zaghafter vorwärts. 123
Ein Soldat, dem der rechte Fuß abgetrennt war, humpelte an ihr mit bloßem Fußstumpen vorbei. In hellen Krankenkleidern saßen auf einer langen Bank Soldaten mit verbundenen Armen, Beinen und Köpfen. Sie erwarteten sie mit neugierigen Blicken, musterten sie von oben bis unten, und sie fühlte voller Unbehagen all die Blicke der verwundeten Männer auf ihrer Haut. Plötzlich wurde die Türe eines Saales geöffnet, und Hedi war so unvorsichtig, einen Blick in den Saal zu werfen. In diesem Saale wurde auf einem Holztisch gerade ein Soldat verbunden, dem ein Bein bis zum Knie amputiert war. Der nackte Schenkel endete nicht – zu Hedis Entsetzen – mit einem Fuße, sondern mit einer Art Pferdehuf, einem roten Lappen unterhalb des Knies. Ein Arzt betupfte den roten Pferdehuf mit Watte. In diesem Augenblick drehte der Verwundete seine Augen zur Türe, Augen voll größter Qual und äußersten Schmerzes. Schon wurde die Türe wieder geschlossen. Hedi war nahe daran zu taumeln. Hinter der Türe eines Operationssaales stöhnte ein Verwundeter, und die barsche Stimme eines Arztes gebot ihm Ruhe. An einer Kreuzung von Korridoren stieß sie auf eine Tragbahre, die von zwei Soldaten vorübergetragen wurde. Mit einem Laken zugedeckt lag darauf ein Soldat, dessen Gesicht bis zur Nase verhüllt war. Er hatte die glänzenden Augen zur Decke gerichtet und sah sie nicht an.
Hedi war purpurrot geworden. Welcher Irrsinn, hierher mit einem himbeerfarbenen Hut und hellen Seidenstrümpfen zu kommen? Sollte sie umwenden – entfliehen?
Da aber schrak sie zusammen!
Wildes Geschrei, als ob jemand lebendig in Stücke geschnitten würde.
Mein Gott, was müssen diese Menschen Unsägliches erdulden! Wer ahnt es denn? Das Geschrei trieb sie rascher vorwärts. Da aber knallte eine Türe, und das Geschrei erscholl plötzlich in nächster Nähe. Ein schreiender Soldat, 124 der den verbundenen rechten Arm hochhielt, stürzte über den Korridor, gefolgt von einer Schar von Ärzten und Krankenschwestern. Der Schreiende lief wie gehetzt den langen Korridor hinunter. In der weißlackierten Türe erschien das bebrillte, fahle Gesicht eines Arztes im weißen Kittel, der laut auflachte.
Das Geschrei entfernte sich.
Hedis Blick flatterte. Ihre Haut war von Hitze bedeckt wie von heißem Sand. Entsetzen hauchte aus diesen getünchten Mauern. Dieses Krankenhaus war ein endloses Labyrinth, durch graues und blaues Eis gehauen. In der Ferne rauchte die Dämmerung an den kahlen Korridorfenstern, Schatten humpelten, hinkten durch ferne Quergänge. Ein Labyrinth mit Tausenden von Kammern voller Qualen und Grauen. Tag und Nacht schnitten hier die Messer in Menschenfleisch, unaufhörlich füllten sich die Eimer mit Blut und Eiter. Die Wände schwangen von Schmerzen. Das ganze Haus war wie eine Riesenwunde, eine Schlucht von eiterndem Fleisch, in der die Ärzte mit ihren Messern kletterten.
Da kam aus einem Quergang würdevoll ein hoher Offizier geschritten. Langsam trieb seine massige Gestalt mit den steilen Schultern – wie eine Erscheinung aus einer anderen Welt – durch den Korridor. An den Umrissen schon erkannte Hedi den General. Zwei Krückenmänner stellten sich in Positur, einer mit Socken an den Füßen, dem andern fehlte ein Bein. Sie standen auf den Krücken gegen die Wand gelehnt und warfen das Kinn in die Höhe. Auf einem Stuhl kauerte ein Krüppel mit dickumwickeltem Bein. Er blieb sitzen, den Oberkörper steif aufgerichtet, und stellte die beiden Krücken vor sich hin, als präsentiere er wie mit dem Gewehr.
Der General schritt vorüber, ohne Hedi anzusehen. Sie hatte ihn übrigens nur einmal bei Dora getroffen, er hätte sie schwerlich wiedererkannt. 125
Eine Pflegerin, eine taktlose Person, gab Hedi mit malitiösem Lächeln den Bescheid, daß Otto heute keine Besuche mehr empfangen könne. Sie hatte ihre Karte ins Zimmer geschickt, er wußte also recht gut, daß sie es war. Deutlich hatte sie seine helle Stimme im Zimmer gehört. Natürlich war sie nur gekommen, um ihm ihre Teilnahme an seinem Unfall zu zeigen – aus keinem andern Grunde. Er sollte sehen, daß sie erhaben war über gewisse Dinge. Diese taktlose Person aber musterte Hedis himbeerfarbenes Hütchen, ja sie erdreistete sich, den Blick an ihr hinab bis zu den hellen Seidenstrümpfen streifen zu lassen. Hedi warf einen kritischen Blick auf die etwas unordentliche Frisur der kleinen rothaarigen Pflegerin. Augenblicklich war zwischen den beiden Damen eine tödliche Feindschaft ausgebrochen.
»Das allgemeine Befinden ist gut?« erkundigte sich Hedi mit liebenswürdigem Lächeln.
»Man kann indessen nie wissen, ob nicht Komplikationen eintreten«, entgegnete die Schwester ausgesucht höflich.
»Wie wahr!« Hedi lächelte spöttisch und grüßte mit vollendeter Liebenswürdigkeit.
Die Rosen aber nahm sie wieder mit.
»Hotel Kaiserhof!« rief sie dem Kutscher zu, als sie wieder in die Droschke stieg. Denn Hedi hatte sich einen Wagen geleistet. Es gab gewisse Stadtviertel Berlins, vor denen sie Furcht hatte.
Plötzlich warf sie die Rosen mit einer zornigen Bewegung durch das Wagenfenster auf die schmutzige Straße. Zwanzig Mark für drei Blumen, welcher Wahnsinn!
Otto hatte ihren Besuch sicher völlig falsch ausgelegt. Gewiß war es ihm unmöglich, an lautere und selbstlose Motive bei seinen Mitmenschen zu glauben. Nun aber lebe wohl, Otto! Sollte er ruhig mit dieser rothaarigen Person – ja, ihretwegen . . . 126
Der Geiger schob ein violettes Seidenkissen zwischen Frack und Kinn, grüßte noch mit einem koketten Lächeln ins Publikum, dann schleuderte er den Bogen in die Luft, daß seine blendende Manschette aus dem Ärmel fuhr: Carmen.
»Auch Kuchen?«
»Auch etwas Kuchen, bitte.«
Da saß sie nun wieder, Hedi. Erstens, dachte sie, erstens und zweitens und drittens – man muß nun genau überlegen. Es wird höchste Zeit, so geht es nicht weiter.
Erstens also stand fest, daß sie sich in ewiger Geldkalamität befand. Zweitens langweilte sie sich zu Hause zu Tode, und drittens: es mußte etwas geschehen. Sie hatte keine Lust, ihre ganze Jugend zu vertrauern, nur weil dieser Krieg kein Ende nahm.
Aber nicht so rasch, bleiben wir bei erstens. Dieses bißchen Taschengeld. das ihr Papa an jedem Monatsersten mit strahlender Miene einhändigte – lächerlich. Wie konnte Papa glauben – nun, Papa verstand es eben nicht anders. Es blieb nichts anderes übrig, als Geld zu schaffen! Es lag ja zurzeit auf der Straße, die Leute sagten es wenigstens, die Millionen flogen durch die Luft. Sollte sie filmen? Schnurrige Idee, aber leider unausführbar. Man mußte – wie herrlich war doch diese Musik, voller Mut! – man mußte Verbindungen haben, und die Gesellschaft –? Nein. Übrigens, diese Gesellschaft, darauf gab sie nicht so – viel!
Immerhin – der Kellner brachte den Tee, und Hedi war für eine Weile in Anspruch genommen. Wieder saß die Weizenblonde mit den Brillantohrringen da und auch jene Dunkele, Tragische, mit den hellgelben Stiefelchen. Und jener alte Herr mit dem Schnauzbart und der Glatze nahm ebenfalls wieder hier seinen Tee. Hedi schloß plötzlich, um sich zu amüsieren, das eine Auge und blinzelte ihn über das Teeglas hinweg unvermutet an. Der Herr mit der Glatze prallte im Sessel zurück – aber schon hatte Hedi 127 ihr Batisttüchelchen aus der Tasche genommen und rieb sich das Auge, als sei etwas hineingeflogen. Nein, wie komisch diese Männer waren!
Ja, Geld mußte jedenfalls geschafft werden. Sie besaß, zum Beispiel, drei Paar Seidenstrümpfe. Schon rannen die Maschen, obgleich die Strümpfe nur bei besonders feierlichen Anlässen getragen wurden. Aber wenn diese Strümpfe nun unbrauchbar wurden? Die Handschuhe, die Stiefel, wenn es sich darum handelte, ein neues Kleid zu beschaffen –? Und schon würde sie aus der Klasse der Tadellosen, der Ladies ausschalten. Schon, es ging rasch, die Gesellschaft duldete keine abgeschabten Knopflöcher, keine geflickten Stiefelchen. Und sie würde second class sein – unerträglich! So unglaublich es klang, ihre Zukunft, ihr ganzes Leben hing an einem Paar Seidenstrümpfen.
Fürchterlich war der Gedanke an den Sturz in die Tiefe. Sie erschrak, Schwindel ergriff sie. Es war aber hohe Zeit, den Tatsachen ins Gesicht zu sehen.
Bald würde sie sich, zum Beispiel, um nur ein Beispiel zu nennen, wieder ein Stück Seife im Schleichhandel kaufen müssen – so ging es jeden Tag!
Zu Hause war das Leben unerträglich geworden. Papa, lieb und gütig, aber immer müde, überarbeitet, immer beschäftigt. Und dabei wußte er gar nichts, trotzdem er im Auswärtigen Amt arbeitete! Häufig geschah es, daß sie bei Tisch etwas sagte, etwas Politisches, und Papa schüttelte tadelnd den Kopf. Man sagt so etwas nicht, mein Kind. – Aber Papa, es stand ja schon vor drei Tagen in der Zeitung! – Ah, schon vor drei Tagen –? – So war Papa. Klara war ein Kind. In einer Minute tanzte sie wie eine Närrin, in der nächsten weinte sie. Sie kannte das Leben noch nicht. Sie war noch nicht in das Alter gekommen, wo jeder Tag ein Problem ist, ein fürchterlicher Kampf, wo man bei lebendigem Leibe täglich vor Sehnsucht verbrannte – wo 128 man wartete, wartete – wo das Warten das schrecklichste Leiden ist. Oh, schrecklich! Schrecklich!
Grau gingen die Tage. Sie lebten äußerst bescheiden, sie besaßen kein Vermögen. Dazu hatte Papa ihnen verboten, die Gesetze für die Ernährung im geringsten zu verletzen. Wie lebten sie, was aßen sie – trotzdem sie alles Mögliche auf den Tisch schmuggelten – es war eine Schande und niemand durfte es wissen, wenn sie nicht für immer unmöglich sein sollten. Zum Beispiel Rüben, wie die Kühe sie bekommen, erfrorene Kartoffeln. . . .
Grau, kalt, finster gingen die Tage.
Licht, Glanz, Wärme, Frohsinn, Tanz, Feste, die früher den Eintritt der jungen Mädchen in das Leben begleiteten – wo waren sie? Sie hatte vor dem Kriege nur zwei Bälle mitgemacht, davon träumte sie noch heute.
Was war diese Musik im Vergleich zu jener Musik auf den Bällen? Ein zaghaftes Echo. Diese Beleuchtung – ein Abglanz. Das Lachen der Menschen von heute, ihre Mienen – Schatten in einer Schattenwelt, nicht mehr, nicht mehr . . .
Plötzlich aber beugte sich Hedi errötend über das Teeglas: dort stand er! Der Spanier war gekommen! Er wußte, daß sie wieder hierherkommen würde, daß er also, wenn er sie zu sehen wünsche – sie hatten sich verstanden.
In seinem gelben Mantel stand er im Mittelgang und polierte das Einglas. Er hatte sie sofort gesehen und überlegte nun. Ob er den Mut haben würde sie anzusprechen? In der Droschke hatte sie schon Träume gesponnen – ein Wiedersehen beim Tee, zum Beispiel im Adlon oder Bristol – vielleicht ein Theaterabend, in einer Loge – ein Diner, wo man plauderte . . .
Er kam. Hedi hatte ihre Verlegenheit vollständig überwunden und blickte ihm ruhig entgegen. Sie war wieder ganz Lady. Ströbel kam geradeswegs auf sie zu, die Brauen wie vor freudigem Erstaunen hochgezogen. Aber 129 je näher er kam, desto häßlicher wurde er. Sein gelber Mantel war etwas zu weit, zu auffallend. Die ganze Kleidung zeigte eine etwas übertriebene Eleganz. Ah, und nicht die Spur von einem Spanier, er war eine – Bulldogge. Seine blaurasierten Wangen waren etwas faltig, fahl und verlebt, nichts blieb von dem Spanier als das glänzende schwarze Haar, das um eine Kleinigkeit zu eng an den Kopf gebürstet war, das um eine Idee zu stark pomadisiert war – nicht first class mit einem Wort.
Aber er hatte die Nonchalance, die Manieren der großen Welt.
Mit unübertrefflicher Zwanglosigkeit verbeugte er sich. »Unser gemeinsamer Freund hat einen Unfall erlitten –«, begann er, gänzlich unbefangen. Und er verlor seine Unbefangenheit auch nicht, als Hedi ihn anblickte – gänzlich verständnislos. Obschon sie doch mit ihm das Theater besuchen, dinieren, plaudern wollte, bei einem Glas Sekt zum Beispiel – gänzlich verständnislos.
»Sie täuschen sich, mein Herr«, erwiderte Hedi mit einem liebenswürdigen, verstehenden, verzeihenden Lächeln, einem Lächeln, wie nur eine Dame von Welt es auf die Lippen zu zaubern vermag.
War es nicht eine Unverfrorenheit ersten Ranges, sie hier im »Kaiserhof« einfach zu überfallen?
»Sie saßen doch gestern –?«
»Ich erinnere mich nicht.« Hedis Stimme wich in weite Fernen zurück. Fern und unwirklich wurde ihr Lächeln.
»Wir wollen nur hoffen, daß Herr v. Hecht –«
Hedis Augen wurden plötzlich kühl, das Leben erkaltete in ihnen.
Mit einer tadellosen Verbeugung, völlig ungezwungen, völlig Herr der Situation, zog Ströbel sich zurück.
Der Geiger in seinem schwarzen Frack schwang sich in den Hüften und blickte kokett lächelnd zum Tisch der Dunkeln, 130 Tragischen, der das Mißgeschick passiert war, ein Glas Wasser umzustoßen.
Hedi gab ihren Mienen einen träumerischen und harmlosen Ausdruck. Niemand sollte auf den Gedanken kommen können, daß ein Wildfremder es gewagt habe, sie anzusprechen. Die Weizenblonde mit den Brillanten in den Ohren hatte die Szene beobachtet. Hedi streifte sie mit einem Blick, und in dem kaum merklichen Aufatmen ihrer Brauen, mit dem sie über die Weizenblonde hinwegsah, lag ihre ganze Verachtung.
Nein, nein, noch war sie lange nicht so weit! Was bildete er sich doch ein –?