Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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10.

Mehre den Schatz!

Mehre den Schatz des Guten und Schönen! Lege nicht Hand an die Geschlechter, die nach dir kommen – –

Friedlich säuselt der Morgenwind.


»Lieber Junge,« – schrieb Hauptmann Falk an Otto – »mit dem Urlaub war es diesmal nichts. Und ein Flieger hatte mir schon versprochen, mich in seinem Kahn mit nach Berlin zu nehmen. Drei Tage hinten, immer in Alarmbereitschaft, kein Schlaf, Schwärme von feindlichen Fliegern, in jeder Nacht Verluste. Die Sache hat sich anmutig ausgewachsen! Heute abend wieder in Stellung. Wollte Dir gerne mehr schreiben – aber ich kann nicht. Es gibt 417 gewisse Dinge. Nun, wir kämpfen, tun unsere Pflicht. Herrliche Leute! Das Feuer wächst von Tag zu Tag –«

Ja, von Tag zu Tag wuchs das Feuer!

Bis nach London, nach der Schweiz war der Lärm der Kanonen zu hören. Es stand sogar in den Zeitungen..

Tausende sanken täglich dahin, Zehntausende –

»Trinke, Kamerad!«

»Erlöser!«

»Trinke! Stütze dich auf mich!«

»Erlöser!«

»Komm, komm, ich trage dich!«

»Erlöser! Erlöser!«

Auf Hunderte von Kilometern standen die Geschütze in einer Breite von zehn bis fünfzig Kilometern, Rohr an Rohr, gestaffelt, auf Kähnen, Flößen, Eisenbahnwagen und spien Feuer und Tod. Die Geschosse wurden von keuchenden Zügen herbeigeschleppt, von Dampferflotten, Schleppkähnen, endlosen Reihen von Lastautomobilen. Die ganze Welt arbeitete im Schweiße ihres Angesichts, um die Mäuler aus Stahl zu speisen. Die Geschosse, mannshoch, wurden auf besonders konstruierten Karren zu den Geschützen gefahren, durch Krane in die Rohre gehoben. Sie wurden zur Reklame in Zeitschriften abgebildet, einzeln und zu Tausenden aufgestapelt. Die Astronomen, die sonst der Bahn der ewigen Gestirne folgten, berechneten die Flugbahnen der Ungeheuer, die sich in den blauen Äther hineinstürzten. Tausende, Zehntausende von Geschützen spien Tod Tag und Nacht.

Und die Wolke wälzte sich, unendlich, über der Walstatt. Staub – die zermalmte Fruchterde, der zermalmte Fels, der zermalmte Baum, der zermalmte Mensch flimmerten in der Luft. Der Staub zog über ganz Europa, die Staubteilchen zermalmter Menschenleiber regneten auf ganz Europa, auf die ganze Erde nieder.

Endlich war es dem Menschen gelungen, den höchsten 418 Gipfel des Wahnsinns zu erklimmen. Die Erde selbst war nichts als eine gasgefüllte Bombe, die durch den Weltraum raste.

Hunderttausende von Kilometern waren durch die Erde gewühlt, Menschen und Tiere keuchten – mit dem gleichen Aufwand an Energie hätten die Wüsten sich in Gärten verwandeln lassen – noch aber wurde um das Weltmonopol des Plünderns gekämpft.

Erlöser! –

»Lieber Junge,« – schrieb Hauptmann Falk an Otto – »ich weiß nicht, ob diese Zeile Dich noch erreichen wird. Der Kommandeur ist schwer verwundet worden, und einige Leute wollen es unternehmen, ihn in der Nacht durch das Feuer zu tragen. Sie wollen diese Zeilen mitnehmen. Sage allen, daß wir unsere Pflicht tun! Zweiundsiebzig Stunden haben wir nicht geschlafen und kaum gegessen. Wir können nicht mehr. Bald werde ich wohl hinter Stacheldrähten spazierengehen. Aber sage allen, daß wir kämpfen und sie uns nicht umsonst haben sollen! Ich werde Nachricht geben, wenn ich kann. Alles Bisherige war Kinderspiel –«

Dies aber war der letzte Brief, den Otto erhielt. Wie durch ein Wunder kam er durch, obgleich der Kommandeur und seine Träger auf dem Rückwege getötet wurden. Man fand den Brief bei einem Mann ohne Beine, der verblutet war. Ein Offizier, dessen Name unleserlich war, hatte es auf die Rückseite des Briefes geschrieben.

Hauptmann Falk, genannt die Feuerwalze und wenn es hoch herging, die glorreiche Feuerwalze, konnte keine Briefe mehr schreiben . . .

Ein Erdloch. Und aus diesem Erdloch sieht eine Leiche mit entblößten Zähnen. Die Leiche wendet langsam den Kopf und späht aus. Staub treibt, Staub flimmert. Wenig zu sehen. Die Wimpern der Leiche sind voller Staub, und auch ihre rotweißen Haare sind gepudert, die weißen Lippen 419 haben den Staub zu einem weißen Brei zerrieben. Ruckweise atmet diese Leiche und stößt dabei mit dem Kopf in die Luft. Die Uniform ist beschmutzt, eben hat die Leiche gebrochen.

Fünfzig Schritte feldein, im Staub, kohlt ein Flugzeug. Er war der letzte, der kam, er warf Nahrungsmittel ab, aber er kehrte nicht zurück. Fünf Schritte zur Linken aber liegt ein gekreuzigter Mensch auf der Erde, mit gebrochenen Gelenken, Arme und Beine von sich gestreckt, vom Luftzug fast völlig entkleidet, die Fetzen angesengt, flachgedrückt, das Gesicht ins Genick verdreht. Und noch schwelt das versengte Gras von den giftigen Dämpfen der Granate, die ihn kreuzigte. Es riecht nach verbranntem Fleisch und verbrannten Haaren.

Zehn Schritte zur Rechten aber kauert eine Gruppe von Leichen um ein Maschinengewehr, und sobald die Leiche im Erdloch die Hand hebt und die Zähne bleckt, so feuert sie. Schatten taumeln im Sandsturm. Schatten kommen, nähern sich, versinken. Aber weshalb geht die Leiche im Erdloch nicht zu dem Maschinengewehr? Das ist es eben. Sie kann nicht. Durch einen Balken sind ihre Beine festgeklemmt.

Und so kann sie nur die Arme heben, die Zähne blecken und schreien – aber man hört nichts.

Tanks kriechen im Sandsturm. Dort die Höhe, schwarzer Qualm. Durch den Sandregen ist zu sehen, wie Menschenleiber in die Luft fliegen – und Hauptmann Falk sieht deutlich die Sturmhauben, deutsche Sturmhauben, wirbeln. Dort im Nebel – Nebelwesen mit erhobenen Händen, fern, klein. Und die deutschen Batterien, sie, die stets bereiten, wo sind sie? Nichts, nichts, kaum zuweilen ein Einschlag drüben – völlig außer Gefecht, vergast.

Schatten im Sandsturm, im Qualm. Und wieder schreit er und bleckt die Zähne. Obschon er seit vierundzwanzig Stunden nichts gegessen hat, muß er sich wieder erbrechen. Die flachen Chinesenhüte verschwinden, versinken. 420

Zwanzig Kilometer hinter der Feuerlinie fährt ein schweres Eisenbahngeschütz aus dem Wald, von gutgelaunten, schwitzenden Kanadiern in Hemdärmeln bedient. Das Langrohr steigt in die Höhe, wird abgerissen. Die Mannschaft stürzt zurück, die Hände gegen die Ohren gepreßt.

Die Granate war unterwegs. Es war jene Granate – –

Ein Tank faucht durch den Sandsturm, hinweg über das Erdloch. Flache Eisenhüte. Amerikaner. Sie haben die Gewehre umgehängt und trotten durch den Sandsturm dahin. Nichts stört sie, sie haben keine Eile.

Vor den flachen Eisenhüten einher schreitet ein junger amerikanischer Offizier. Ein Deutscher, namens Martin. Man hat ihm gesagt, daß die deutschen Soldaten den Kindern die Hände abschneiden. Er hat es in den Zeitungen gelesen, er hat sogar Abbildungen gesehen mit eigenen Augen. Und nun ist er gekommen, diese Kinderschänder vom Erdboden zu vertilgen.

 


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