Bernhard Kellermann
Der 9. November
Bernhard Kellermann

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5.

Horch!

Das Feuer rollte.

Sie zerrissen die Eingeweide der Erde. Tag und Nacht wühlten schweißüberströmte Leiber in den finstern Stollen der Tiefe, ohne Pause klirrten die Förderkörbe in allen Erdteilen auf und ab. Die Hochöfen spien Feuer über den Kontinenten, Ströme von flüssigem Metall flossen in die Formen: Geschütze, Granaten. 386

Sie zerrissen ihre Gehirne. Die Ingenieure und Chemiker schliefen nicht mehr, neue Maschinen, neue Sprengstoffe und Gase, immer fürchterlicher. Hunderte von Millionen sannen nur Vernichtung, brüteten nur Tod: die Völker der Erde waren Mördervölker geworden.

Tag und Nacht peitschten die Schrauben der Schiffe das Meer – vorwärts! Tag und Nacht flogen die Züge durch Europa, vorwärts. Das Meer zittert, und die Erde erbebt. Menschen, Pferde, Vieh, Wälder, die Güter der Erde, die Schätze der Welt. Sie hatten alle das gleiche Ziel.

Die Wolke!

Dort, dort, wo Menschen, Pferde, Vieh, Wälder, die Güter der Erde, die Schätze der Welt, zu Staub zermalmt werden – dort . . .

Schon färben sich die Flüsse rot, und auf den Meeren treiben Inseln von Leichen. Frankreich verwandelt sich in eine Wüste, Deutschland in einen Friedhof, die Welt in ein Lazarett.

Vorwärts, Soldaten! Es soll sich entscheiden – die Kanonen sollen die Probleme lösen.

Die graue Limousine raste durch die glühenden Straßen Berlins. Konferenzen, Besprechungen. Schwerdtfeger wischte sich den Schweiß vom schmutzigen Gesicht. Auch er war um seinen Urlaub gekommen, aber schließlich war er nichts als ein Chauffeur und konnte Gott auf den Knien danken, daß er nicht da draußen fahren mußte, wo die Landstraßen sich öffnen und Feuer speien.

Die graue Limousine raste über die Linden. Müde und abgespannt blickte der General mit halbgeschlossenen Augen auf die Straße und gähnte.

Plötzlich galoppierte ein Berittener über den Reitweg, die Fußgänger blieben wie auf Kommando stehen und gafften.

Der General setzte sich mit einem Ruck aufrecht.

Unerhört! 387

Am hellichten Tage! Unter den Linden!

Niemals hätte man so etwas für möglich gehalten.

Ein paar Dutzend junger Burschen und Mädchen, hundert vielleicht, nicht mehr, eilten die Linden entlang und schrien. Eine Spritzwelle von Menschen, die über die Linden fegte, nichts sonst. War es nicht unerhört, daß jemand Unter den Linden schrie und die öffentliche Aufmerksamkeit auf sich lenkte?

Der General rückte unruhig auf dem Sitz und blickte voller Empörung zum Fenster hinaus. Aber in diesem Augenblick hoben sich die Fäuste der jungen Burschen und Mädchen gegen ihn und schüttelten sich. Fassungslos zog er den Kopf zurück. Ja, was geschah, was ging hier vor? Sie schrien ein Wort, immer das gleiche Wort – er verstand es nicht. Er wagte nicht zu glauben, daß sie jenes Wort riefen – es ist unmöglich!

Oben beim Schloß aber wurde er plötzlich ernst. Ah, seht an! Eine Kette von Schutzleuten sperrte den Weg. Ein junger Bursche machte den Versuch – schon blitzte ein Säbel durch die Luft. Da lag er.

»Schlagt sie nieder!« schrie der General, purpurrot das Gesicht.

Und die Regierung?

Wütend lachte der General, wütend gegen Schwerdtfegers gekrümmten Rücken.

Die Regierung?

Sie schläft.

Die Gaffer auf den Bürgersteigen bewegen sich wieder. Die Spritzwelle hat sich verlaufen. Nichts ist geschehen.

Die graue Limousine raste weiter: Konferenzen, Besprechungen. Reserven! Nachschub! Verpflegung! Munition! Pferde! Sitzung über Sitzung – – – – – –

Vorwärts, Soldaten!

Die Schlacht brüllt, die Geschütze stampfen, kämpft, sterbt!

Schon runzelt der Divisionär am Telephon die Stirn, 388 der Kommandeur erbleicht am Scherenfernrohr: der Angriff am rechten Flügel stockt! Vorwärts, Artillerie, wenn es sein muß, die eigene Artillerie soll euch vorwärts treiben, wartet!

Kämpft, sterbt! Die Augen der ganzen Welt sind auf euch gerichtet.

Schon zittert die Börse, die Papiere fallen. Ihr werdet doch nicht, ihr geliebten Helden? Ja, Helden! Drei Mark, drei Francs, drei Schillinge und drei Dollar am Tage, Auszeichnungen, Triumphbögen, künstliche Gliedmaßen – ihr kennt doch unsere Tarife? Ihr werdet doch nicht –? Kali, Kohlen, Kolonien . . .

Der Börsentelegraph tickt, Tag und Nacht, schon ist er erregt worden, es bröckelt irgendwo ab, es knistert, er tickt, ah, dieses entsetzlich erregte Ticken, ihr könnt es leider nicht hören im Kanonendonner, die Börsen von Berlin, London, Paris, Rom, Neuyork – schon hat sich ein Bankrotteur eine Kugel in den Kopf geschossen – und ihr zögert?

Die Kaiser und Könige träumen vom Einzug in die jubelnde Hauptstadt, die Präsidenten träumen von dem Moment, da sie den glänzenden Seidenhut hochheben, umbraust vom Beifallsklatschen.

Die Landesfürstin, höchsteigenhändig, die Gemahlin des Herrn Präsidenten, höchsteigenhändig, wird euch die kleine Blechmünze auf die zerschossene Brust heften –

Vorwärts, ihr Geliebten, ihr Herrlichen, Unvergleichlichen!

Die Greise, die die Geschicke dieser Welt lenken, hüsteln hinter den gepolsterten Türen in ihre kalten wächsernen Hände. Sie sitzen an langen polierten Tischen, mit rosaroten Kinderbäckchen, trommeln mit den Fingernägeln, ungeduldig – die Sekretäre, ohne Tadel, schleichen auf den Zehenspitzen über das glänzende Parkett. Die Greise kritzeln mit der Feder, werfen gebieterische Blicke. 389

Jedes Wort, das sie sprechen, bedeutet Tod, jeder Federstrich, jedes Lächeln – Tod, Tod – sie aber leben.

Seit Monaten, seit Jahren, flimmert himmelhoch die Staubwolke über der Walstatt, es regnet schwarzes Blut – die apokalyptischen Reiter ziehen über den Wolken dahin und gießen ihre Schalen aus über Europa. Gewogen, gewogen und zu leicht befunden! Die Feuerschrift der Geschütze flammt am verfinsterten Firmament.

Soeben ist das Kabinett der Greise zu einer neuen feierlichen Konferenz zusammengetreten.

 

Reserven!

Die Hände des Generals zittern. Erregt wirft er die Telegramme auf den Schreibtisch zurück. Fieberröte flammt über sein Gesicht.

Schon vor zwei Jahren hatte er eine Denkschrift eingereicht, und erst kürzlich war er wieder darauf zurückgekommen. Er hatte den Vorschlag einer Patriotin aufgegriffen, zwei Millionen Frauen in die Armee einzustellen, für Wachtdienst, Etappe, Bureau. Zwei Millionen, zehn Millionen, wenn man wollte! Aus den kräftigsten Frauen hätten sich auch Kampfbataillone aufstellen lassen, ohne Frage. Die Frauen hätten vorzügliches Material abgegeben. (Der General war gewohnt »Material« zu sagen, wie alle Militärs.) Auch die Frauen, ohne jeden Zweifel, hätten ihre Leiber voller Begeisterung den Kanonen entgegengeworfen!

Seine Denkschrift – sie verstaubte irgendwo, mit abfälligen Randbemerkungen versehen. Man hatte seinen Rat nicht beachtet – wie man Ratschläge überhaupt nicht zu beachten beliebte. Man wußte alles selbst, wußte alles besser.

»Ich klingle bereits das zweitemal und Sie kommen nicht!« sagte der General mit gerunzelter Stirn zu Weißbach. 390

»Es hat nur das einemal geklingelt, Herr General«, versicherte der Adjutant.

Der General erhob sich – sein Auge wuchs.

»Ach, nun fangen auch Sie an zu widersprechen.«

Der Adjutant schwieg und stand still. Seine Miene war bleich. Der General streifte ihn mit einem Blick. »Nun sind auch Sie beleidigt, Weißbach«, sagte er einlenkend. »Es fehlte noch, daß auch Sie beleidigt sind.« Der Blick des Adjutanten strahlte Vergebung.

Mit zitternden Händen ging der General hin und her. Dann blieb er vor Weißbach stehen und sagte ruhig: »Rufen Sie sofort alle Herren telegraphisch aus dem Urlaub zurück! – Wir müssen unsere Anstrengungen verdoppeln!« fügte er schreiend hinzu.

Reserven? Als ob nicht alles Grenzen hätte. Und welchen Ton sie neuerdings beliebten? Man hatte alles, was nicht umfiel, eingezogen, hatte die Lazarette ausgefegt, Fiebernde aus den Betten gerissen, vom Operationstisch hatte man die Leute fortgenommen, ohne jede Rücksicht.

Und Reserven?

Ja, es gab einfach keine Reserven mehr, das allein war die Wahrheit!

Das Telephon schrillte . . .

Im gleichen Augenblick wurde es draußen stockfinster, und ein knatternder Donner sprang mit teuflischem Gelächter über das Dächermeer von Berlin dahin. Gott sei Dank, die Hitze war unerträglich geworden.

 


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