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Mensch, verweile auf dem Gipfel des Hügels in dem Schweigen der Abendstunde – und blicke, nicht mit freudigem, aber mit zufriedenem Auge auf die schöne Welt rings um dich! Sieh, wie die Nebel, zart und duftig, sich über die grünen Wiesen erheben, durch welche der Bach sich still seinen Weg sucht! Sieh', wie breit und tief sich die Welle dem vollen Glanze der sinkenden Sonne darbietet – und die Weide, die im Lüftchen erzittert, und die Eiche, die im Sturme nicht wankt, friedlich beide, von der klaren Fläche des Wassers zurückgespiegelt werden! Sieh, wie umrahmt von dem Golde der Erndten aus dem Hintergrunde von blühenden Hainen sich die Dächer der Stadt unter der ruhigen Glut des Himmels erheben! Kein Ton aus allen diesen Wohnungen trifft mit einem Mißklang dein Ohr – nur von dem Kirchthurm, der sich über die andern erhebt, schwebt vielleicht kaum hörbar in dem allgemeinen Schweigen die Stimme der heiligen Glocke herüber. Niedrig über den Matten fliegt die Schwalbe dahin – auf der Welle zeigt der silberne Kreis, in Schaum sich auflösend, das Spiel der Fische. Sieh die Erde, wie heiter ruhig, obgleich überall Thätigkeit und Leben verkündend! Sieh die Himmel, wie mild lächelnd, obgleich dunkle Wolken über jenem Berg ihr Gold in den Purpur des Abendhimmels mischen! Schaue zufrieden um dich, denn das Gute ist ringsum – nicht freudvoll, denn das Böse ist der Schatten des Guten! Laß deine Seele den Schleier der Sinne durchbrechen und den Blick sich tiefer senken, als auf die Oberfläche, welche dein Auge erfreut. Unter dem ruhigen Spiegel dieses Flusses schießt der Hecht auf seinen Raub; der Kreis auf der Welle, das leise Geplätscher im Rohr, sind nur Verkünder des Vernichters und des Opfers. In der Epheuhülle der Eiche am Ufer sehnt sich die Eule mit Gier nach der Nacht, die ihren Klauen lebendige Nahrung für ihre Jungen geben soll; und das Zweiglein der Weide erzittert von den Flügeln des Rothkehlchens, dessen helles Auge den Wurm auf dem Rasen erblickt. Und kannst du, Mensch, alle Sorgen, alle Sünden zählen, welche diese schweigenden Dächer verbergen? Mit jeder Windung jener Rauchwolke steigt ein menschlicher Gedanke so dunkel empor, schwindet eine menschliche Hoffnung so schnell dahin. Und die Glocke vom Kirchthurm, welche deinem Ohre nur Musik tönt, läutet vielleicht dem Todten zu Grabe. Die Schwalbe verfolgt nur den Schmetterling, und die Wolke, die die Pracht des Himmels mit einer dunkeln Farbe durchzieht, und die duftigen Schatten auf die Erde wirft, nähret blos den Sturm, der den Hain zerstört, und das Ungewitter, welches die Erndte verwüstet. Nicht mit Furcht, nicht mit Zweifel, o Sterblicher, erkenne auf Erden das Daseyn des Bösen. Zähme dein Herz mit demüthiger Ehrfurcht, daß sein Spiegel den Schatten so getreu wiedergebe, wie das Licht. Vergebens suchst du in der Landschaft die hohe Lehre, welche sie verkündet, wenn deine Seele der mäßigen Sinnenlust keinen Zaum anlegt. Zwei Schwingen nur erheben dich zum Gipfel der Wahrheit, wo der Cherub den Schmerz trösten, wo der Seraph die Freude erheben wird. Schwarz wie Ebenholz ist die eine Schwinge, weiß wie der Schnee leuchtet die andere – trauervoll wie dein Verstand, wenn er in die Tiefe hinabsteigt – freudvoll wie dein Glaube, wenn er sich zum Morgenstern erhebt.
Auf dem Kirchhof von Laughton steht ein Grab abgesondert von den übrigen. Es erhebt sich zwischen der Kirche und dem Eibenbaum; und innerhalb des schmalen Gitters pflegt eine sorgliche Hand niedrige Sträuche und einige Blumen. Dorthin kommt einmal des Jahres, seit Helenens Tod, ein Pilger aus der Riesenstadt; dort ruhet der strenge Mann von seiner Arbeit; dort vergißt der Ehrgeiz seine Träume; dort kehrt wie an einem Erzsabbath ein strebendes und ernstes Gemüth zu seiner Kindheit zurück und verkehrt durch den Tod mit Gott; und dorthin, nicht alljährlich, aber oft (o, wie oft!) und auch nicht seltener, weil die Zeit verläuft und die Sorgen des Lebens sich dichter um ihn drängen, kommt der sanftere und liebendere Leidtragende. Bei diesen zwei Naturen, so entgegengesetzt und doch so verbunden durch Liebe und Trauer um die Dahingeschiedene, wirkt die Erinnerung an Helene immer noch fort – stärker und dauernder vielleicht, als die lebende Helene auf sie hätte einwirken können.
John Ardworth hatte auf seiner Laufbahn nicht stillgestanden und die schönen Versprechungen seiner Jugend nicht unerfüllt gelassen. Obgleich theils durch eigene Anstrengungen, theils durch seine zweite Heirath mit der Tochter des französischen Kaufmanns, (durch dessen Vermittlung er mit Fielden korrespondirt hatte,) der ältere Ardworth sich ein mäßiges Vermögen erworben hatte, so reichte es bloß für seine Bedürfnisse und für die Kinder aus zweiter Ehe aus, welchen der Haupttheil desselben auch verschrieben war. Daher befreite John Ardworth die Wohlhabenheit seines Vaters, vielleicht zum Glück für sich und Andere, nicht von der Nothwendigkeit zu arbeiten. Seine Erfolge in der kurzen Episode seines literarischen Lebens konnten ihn weder berauschen, noch irre machen. Er wußte, daß seine eigentliche Sphäre nicht auf dem Felde der Literatur, sondern in der Menschenwelt war. Ohne die edle Bestimmung des Schriftstellers zu mißachten, fühlte er doch, daß diese Laufbahn, um das höchste Ziel zu erreichen, Kräfte anderer Art als die seinigen erforderte, und daß der Mensch blos seinem Genie treu bleibt, wenn dieses Genie mit seiner Laufbahn vertraut ist. Er wollte eine kurze Berühmtheit nicht mit späterem und dauernderem Ruhm eintauschen. Er fuhr noch einige Jahre fort, mit Geduld und festem Selbstvertrauen und entbehrend zu arbeiten, bis der Beruf für den durch strenge Zucht genährten Geist und die durch Studien gesammelte Gelehrsamkeit kam und den Keim fertig entwickelt und vorbereitet fand. Dann stieg er schnell von Stufe zu Stufe; denn immer noch durchglüht von hoher Begeisterung, dehnte er den Kreis seiner Tätigkeit von der einförmigen juristischen Praxis auf die weitaussehenden socialen Verbesserungen aus, welche das Gesetz, gehörig betrachtet, leiten, beleben und schaffen sollte. Dann, und lange, bevor die zwanzig Jahre, die er sich selbst als Lehrzeit vorgeschrieben, verstrichen waren, blickte er wieder auf den Senat und die Abtei, und sah die Pforte des einen sich vor seinem entschlossenen Tritt aufthun, und erblickte im Geiste das ruhmvolle Grab, das Kopf und Herz ihm in den andern gewinnen sollten.
Aber oft, wenn er den eisigen Hauch der Erfahrung fühlte, wenn jener kalte Skeptizismus, welchen Menschenkenntniß und das durch den Beruf des Juristen erklärliche Mißtrauen leicht erzeugen, die alte, edle Glut des Ehrgeizes zu dem Egoismus erbleichen machte, der die Prosa der That ist, da umschwebte ihn das Bild des holden Wesens, an das sich alle seine Jugendbestrebungen anknüpften, von dessen einfachen Lippen edle und anmuthige Gedanken geflossen waren, wie helle Wasser aus reinen Quellen; und selbst die Luft um ihn wurde wärmer, wie ein lebendiger Odem. Dieses Bild, die heiligen Erinnerungen, die sich damit verbanden, der ernste Schmerz, den es hinterlassen, schien ihn beständig zu umschweben, wie der sichtbare Geist seiner eigenen Jugend, und verbannte mit seinen reinen Augen die kälteren und härteren Gestalten, in die sich die Gedanken leicht kleiden, wenn wir älter werden, und lächelte ihn bei edlen Gedanken und hoher That mit der beistimmenden Freude einer Schwester an.
Viel länger dauerte es, ehe Percival zu den Pflichten des wirklichen Lebens zurückkehren konnte. Ziellos und hoffnungslos floh er sein Vaterland, als könne er sich selbst entfliehen! Aber allmälig gelangte auch bei ihm das Andenken an Helenen zu seiner wahren und rechten Einwirkung auf ihn. Er kehrte nach England zurück, und fühlte in der Ausübung menschlicher Pflichten seine beste Gemeinschaft mit ihrer unsterblichen Seele. Seine Mutter ist ihm noch geblieben – um zu trösten und zu stärken; Greville lebte noch lange – um zu ermuthigen und zu leiten. Die unbestimmten Anzeichen von Talent, und die mannigfachen Versprechungen der Vortrefflichkeit, die seine Jünglingsjahre gaben, sind bis jetzt blos in einer Richtung zur Blüthe gekommen – in tief gemüthlicher, wohlthätiger Güte. Wie Ardworth seinen geeignetsten Wirkungskreis in den großen Bestrebungen gefunden hat, welche die Zeit und die Menschheit vorwärts bringen, so auch Percival in dem engeren, aber intensiveren Kreise individueller Sympathie und barmherzigen Wirkens – der Eine ein Arbeiter im Reiche des Geistes, der Andere im Reiche des Herzens. Jeder göttlich in seiner Bestimmung, und Jeder genöthigt, in keine Sphäre einzutreten; denn der Geist verliert sich ins Böse, wenn das Herz ihn nicht führt, und das Herz schafft sich selbst die Regel, wenn es Liebe und Erbarmen fühlt. Als Mittelpunkt der geräuschlosen Gutthaten, welche der Reichthum rings um sich aussäen kann, wird Percival St. John geliebt wie ein Kind und doch verehrt wie ein Weiser! Und aus diesem Mittelpunkte sieht er, wie aus einer Glorie, mit den Augen seines Geistes eines Engels glückliches, beifallspendendes Antlitz! O, zu welch einem Tempel wird die ganze Welt umgeschaffen durch ein Grab, welches gebührend geehrt wird!
Die engste Freundschaft besteht zwischen Percival und Ardworth. Bei ihrem seltenen Zusammentreffen sind sie wie Glieder desselben Hauses, die an demselben Herde sich treffen. Bis jetzt hat noch Keiner neue Bande des Herzens gefunden, aber Percival wenigstens ist noch immer jung, und Ardworth nicht zu alt, um hoffen zu können, im Alter glücklich zu werden; aber noch keiner hat geklagt, daß er sich einsam und sein Herz verwaist fühle. Für den Strebenden und den Liebenden kann die Welt Schmerzen haben, aber keine Vereinsamung.
Von den untergeordneten Personen unserer Geschichte brauchen wir wenig zu sagen. Wir wissen, daß, wie groß auch der Schmerz des Pfarrers über den Tod Helenens gewesen, er nur bedachte, daß für die über die Erde verhängte Trauer der Himmel um eine Freude reicher geworden war. In seiner einfachen Frömmigkeit war er mit der einzigen Philosophie gewaffnet: der Regenbogen erschien in der Wolke und das Zeichen des Regens war nur ein Versprechen der Erlösung von der Sündfluth.
Wir mögen uns zufrieden geben, daß die Mivers sich ziemlich gleich bleiben werden, so lange der Handel bereichert, ohne zu bilden, und so lange dennoch richtiges Fühlen auf dem gemeinsamen Pfade der Pflicht barmherzige Gesinnung mit anmuthloser Sprache vereinigen kann.
Wir können überzeugt seyn, daß die arme Wittwe, welche den verlorenen Sohn Lucretia's auferzogen, aus Percival's Händen Alles empfing, was sie für seinen Tod trösten konnte.
Wir haben nicht nöthig die stumpfsinnigen Verbrechen Martha's oder die schlauen Laster Grabman's bis zu ihrem unvermeidlichen Ziel, dem Spital oder dem Gefängniß, dem Düngerhaufen oder dem Galgen, zu verfolgen.
Ueber den älteren Ardworth ist unser letztes Wort weniger kurz. Wir sahen ihn zuerst als hoffnungsreichen und warmherzigen Jüngling mit edleren Grundsätzen und klarerem Gefühl für Ehre als William Mainwaring. Wir sahen ihn dann als Verschwender und Flüchtling, mit gesunkenen Grundsätzen und befleckter Ehre. Er zeigt uns kein ungewöhnliches Beispiel der Verderbniß, die ein Kind jener niedrigen Genußsucht ist, welche den Morgen für die Freuden des heutigen Tages einsetzt. Kein Gott kann herrschen, wo die Bedachtsamkeit fehlt. Der Mensch, in sich schon eine Welt, braucht zur Entwickelung seiner Eigenschaften die Geduld; und als Schwerkraft seiner Handlungen die Ordnung. Selbst wo er sich für den größten Märtyrer gehalten, in seinem Bekennen zu bloßen politischen Meinungen, hatte Walter Ardworth blos die ruhelose, leichtsinnige Ungeduld, die über seine Männerjahre Trübsal und über sein Alter Reue gebracht, zur Theorie ausgebildet.
Der Tod des seiner Obhut anvertrauten Kindes hatte lange (vielleicht bis zu seinem letzten Augenblicke) seinen Stolz auf den Sohn verbittert, den, ohne sein Zuthun, die Vorsehung zu einem glänzenden Geschick aufgespart hatte. Hätte ohne die Fehler, die ihn aus seinem Vaterland verbannt, und die Gewohnheiten, welche sein Gefühl für Pflicht abgestumpft hatten, dieses Kind so verlassen werden und so untergehen können?
Wir haben nun nur noch einen Blick auf die Strafe zu werfen, welche die sinnliche Schlechtigkeit Varney's und die geistige Verderbniß seiner grausenerregenden Stiefmutter fanden.
Diese beiden Personen hatten aus den Verbrechen, welche das irdische Gesetz mit dem Tode bestraft, ein wahres Gewerbe gemacht. Sie hatten in ihren Herzen gesagt, daß sie das Verbrechen verüben, der Strafe aber entgehen wollten. Durch wunderbare Schlauheit, List und Geschicklichkeit, welche die Schuld in eine Wissenschaft verwandelten, hatten sie ihr Ziel erreicht. Die Vorsehung schien, als verachte sie die gewöhnlichen Werkzeuge der Wiedervergeltung, ihnen das zu gewähren, wonach sie gestrebt hatten – Rettung vom Strick und vom Galgen. Unentdeckt in seinen schwärzeren und unsühnbaren Verbrechen und nur bestraft wegen des geringsten, behielt Varney, was er vor Allem schätzte, das Leben! Noch sicherer vor dem rächenden Gesetz, hatte kein menschliches Auge die tiefe Nacht von Lucretia's schrecklicher Schuld ermessen. Die Mörderin des Gatten, der Nichte und des Sohnes entließ die blinde Gerechtigkeit unbestraft und unbeargwöhnt. Ueberraschend, wie vom Himmel ohne Wolke, fiel der rächende Blitz. Ist das Leben, welches sie gerettet haben, des Preises werth? Ist der kurze Schmerz schmählichen Todes fürchterlicher, als das Loos, welches sie zu tragen haben? Schaut hin, und sprecht!
Seht, jenes dunkle Schiff auf dem Meere! Seine Ladung ist nicht von Ormus Das Königreich Ormus (portugiesisch Ormuz) existierte zwischen dem 10. und 17. Jh. im Persischen Golf. Es wurde im 10. Jh. von arabischen Prinzen gegründet und kam später unter persische und portugiesische Oberherrschaft. Der Stadtstaat Ormus geht bis in das 13. Jh. zurück, als es den Sklavenmarkt zwischen Afrika und Arabien und Chorasan und Persien kontrollierte. Auf seinem Höhepunkt im 13. bis 14. Jh. war Ormus ein mächtiger Seefahrerstaat mit einer großen und aktiven Handelsflotte und einer starken Marine. und Tyrus Tyros ist eine der ältesten kontinuierlich bewohnten Städte der Welt. Die Küstenstadt am Mittelmeer war eine der frühesten phönizischen Metropolen und einer der wichtigsten Orte des Ost-West-Handels.. Keine reiche Waare trägt es über die Wogen, kein Glückwunsch haftet an seinen Segeln; beladen mit Schrecken und Schuld, mit Verzweiflung und Reue, oder mit dem scheußlichsten von Alle,, mit der stumpfen Apathie zu Stein verhärteter Seelen, trägt es den Abschaum der alten Welt, um eine neue damit zu bevölkern. Auf einer Bank dieses Schiffes sitzen neben einander zwei Männer, einer dem andern als Gefährte zugetheilt. Bleich, abgezehrt, verzagt, aller Glanz von seiner Kleidung, aller muthwillige Trotz von der Stirn verschwunden – kann dieser hohläugige, sieche Jammermensch derselbe Mann seyn, dessen Sinne aufjauchzten bei jeder Freude, dessen Nerven jeder Gefahr spotteten? Aber neben ihm, mit einem Grinsen gemeinen Hohnes auf dem Gesicht, der Körper ganz Muskel und Kraft, das glanzlose Auge ganz trotzige und arge Tücke, sitzt sein Kamerad – der Leichendieb! Auf den ersten Blick hat Jeder den Andern erkannt, und die Erinnerung .an die Prophezeihung trifft wie ein Wetterschlag das zärtlichere Opfer! Wenn er ihm zu entfliehen strebt, fordert ihn der Leichendieb als seine Beute, droht ihm mit seinen Augen wie einem Sclaven, tritt ihn mit dem Fuß, während sie dasitzen und lacht höhnisch seiner Schmerzen. Blickt weiter: Hört den Ruf von der Mastspitze – seht das Land aus der Wasserwüste steigen! Ein Land ohne Hoffnungen! Anfangs finden, trotz der Strenge der Vorschriften, die Erziehung und die Gaben Varney's ihre Würdigung – das Verbrechen, wegen dessen er verurtheilt ist, gehört nicht zu den schlimmsten. Er wird befreit von dem scheußlichen Gesellen, er darf Schullehrer werden; sein Geist mag arbeiten, nicht seine Hände! Aber die unverbesserlichsten Verbrecher sind gerade die, welche durch Geburt und Erziehung sich über die übrige Hefe erheben. In den Klotz kann man Licht bringen, aber das Meteor muß sich vom Sumpfe nähren! und Stolz und Eitelkeit suchen Nahrung, wo für das Verbrechen selbst die Veranlassung zu fehlen scheint. Immer tiefer und tiefer sinkt er, und die Kolonie sieht bald in Gabriel Varney ihren verderbtesten Sünder; Erzverbrecher unter den Verbrechern, doppelt verloren unter den Verdammten: sie verbannen ihn in die strengste Strafkolonie – sie schicken ihn mit den Gemeinsten hinaus, um Steine auf der Straße zu klopfen. Runzelicht, gebeugt und vor der Zeit alt – seht das spitze Gesicht, das mitten aus dieser, kaum noch menschenähnlichen Schaar hervorlugt – seht ihn zittern vor der Peitsche des rauhen Aufsehers – seht die Paare zusammengefesselt Tag und Nacht! Ho, ho! sein Kamerad hat ihn wieder gefunden, der Künstler und der Leichendieb zusammengeschmiedet! Man denke sich diese durch Erziehung überreizte Phantasie, dieses durch schlaffe Nachsicht verweichlichte Gefühl – die eine Schrecken schauend, die nicht wirklich sind, das andere zurückschaudernd vor aller Arbeit als einer Qual.
Aber der noch nicht ganz entschwundene Geist, obgleich er täglich mehr auf gleiche Stufe mit dem Thier hinabsinkt, sinnt noch auf Befreiung und Flucht. Laßt den Plan reifen und das Herz hoffen! brecht seine Ketten, laßt ihn frei, schickt ihn hinaus in die Wildniß. Horch, das Geheul der Wilden! Sieh jene Geschöpfe, eine Verhöhnung unseres Geschlechts, um den verhungernden, niedergehetzten Flüchtling tanzen, und horch wie er aufschreit über seine Marter! Wie sie ihn zerstechen und brennen und zerreißen! Auch sie verschonen sein Leben – er ist befreit! Ein Kaliban unter Kalibans beladen sie ihn mit ihrer Bürde und nähren ihn von ihrem Abfall. Laßt ihn leben; er liebte das Leben seiner selbst willen, er ist dem Galgen entgangen – laßt ihn leben! Laßt ihn harren, laßt ihn noch einmal entfliehen, nackt und verstümmelt kehrt er wieder zur Verbrecherhütte zurück. Seht, wie er dort schluchzend kniet und laut ausruft: Ich habe alle eure Gesetze verletzt, ich will euch alle meine Verbrechen verkünden; ich verlange blos mein Urtheil – hängt mich auf – laßt mich sterben! Und aus der Schaar stöhnen viele Stimmen: hängt uns auf – laßt uns sterben! Der Aufseher dreht sich gleichgültig um, und wieder wird Gabriel Varney mit dem Leichendieb zusammengefesselt.
Ihr tretet ein in diese so sorgsam gehüteten Thore – ihr geht mit schneller pulsirendem Herzen an diesen Gruppen im Garten vorüber, obgleich sie harmlos sind; ihr folgt dem Führer durch die Gänge; wo es die offenen Thüren gestatten, seht ihr den Kaiser seinen Scepter von Stroh schwingen, – hört den Speculanten seine Millionen zählen – seufzt, wo das Mädchen lächelnd die Rückkehr ihres todten Geliebten erwartet – oder schüttelt ernst den Kopf und eilt vorüber, wo der Fanatiker von der Apokalypse raset, und über die Welt zu Gericht sitzt; ihr geht durch feste Gitter in dunkleren und entlegeneren Corridoren. Näher und näher vernehmt ihr das Geheul und den gotteslästerlichen Fluch – ihr seyd in dem tiefsten Innern des Irrenhauses, wo die Unheilbaren und Gefährlichen angefesselt sind – diejenigen, welche nur noch Verstand genug haben, um zu schlagen, zu würgen und zu morden. Der Führer öffnet eine Thür, massiv wie eine Mauer, und ihr erblickt (wie der Erzähler erblickt hat) Lucretia Dalibard, ein scheußliches, unsauberes, blutgieriges Hohnbild eines menschlichen Wesens – gräßlicher und tiefer gefallen, als Dante je von seinen Schatten träumte, oder Swift in seinem Ya-hoos spottete! Doch wo alle andern Züge den Stempel der Menschheit verloren zu haben scheinen, brennt noch, mit unauslöschlicher Fieberglut das verzehrende Auge. Dies Auge scheint nie zu schlafen, oder schließt sich nie im Schlummer. Wie ihr vor der unheimlichen Flamme zurückschaudert, kommt es euch vor, als ob der Geist, der seinen Zusammenhang und seine Harmonie verloren, immer noch in sich, aber nicht mittheilsam, das Bewußtseyn als Fluch behalten hätte. Tagelang, wochenlang beobachtet diese entsetzliche Wahnsinnige hartnäckiges Stillschweigen; aber wie sich das Auge niemals schließt, so ruhen die Hände nie – sie öffnen und schließen sich wie über einem greifbaren Gegenstande, den sie mit krampfhaftem Griff, wie die Klauen eines Raubvogels, festhalten – zuweilen fahren sie über die tiefgefurchte Stirn, als wollten sie ein Brandmal abwischen oder einen Schmerzensgedanken entfernen – zuweilen ergreifen sie den Saum des ärmlichen Gewandes und scheinen sich ganze Stunden lang zu bemühen einen Flecken auszureiben. Dann bricht durch das lange Schweigen ohne Ursache und Andeutung das schreckliche Lachen, bis der Körper, erschöpft von der Anstrengung, sinnlos zusammenstürzt. Aber verständige und zusammenhängende Rede vernimmt man selten von diesen Lippen.
Es kommen allerdings Zeiten, wo die Wärter überzeugt sind, daß ihr Verstand zum Theil wieder zurückkehrt; und die Erfahrung hat ihnen gelehrt, die Kranke alsdann mit erhöhter Sorgfalt zu bewachen. Die Krisis verräth sich durch eine Veränderung des Benehmens – durch ein schnelles Auffassen aller Aeußerungen – einen angstvoll-gespannten Blick auf die nackten Wände – eine unterwürfige Folgsamkeit – durch leise Klagen über die drückenden Ketten und zuweilen, aber selten, durch vernünftiger scheinende Bitten um mildere Behandlung und größere Freiheit
In der ersten Zeit ihrer Einkerkerung, als man vielleicht in der Anstalt glaubte, sie sey eine vornehme Kranke, deren Freunde sich um sie kümmern und ihre Heilung reichlich belohnen würden, bewachte man sie in diesem Hause weniger streng und wendete die milderen Mittel bei ihr an. Aber mit einer List, welche die sprüchwörtlich gewordene Schlauheit der Wahnsinnigen weit hinter sich ließ, wußte sie stets von der Milderung der Aufsicht den tödtlichsten Gebrauch zu machen! Sie kroch dann an das Bett eines schwächeren Kranken und das Geschrei, welches die Wärter in die Zelle rief, rettete das auserlesene Opfer kaum aus ihren Händen. Es schien als ob in diesen halblichten Augenblicken die Vernunft nur zurückkehre, um zur Vernichtung benützt zu werden, – um den zerrütteten Mechanismus zu einem Raubthiere zu beleben.
Jahre waren jetzt seit ihrer Ankunft in diesen Mauern verstrichen. Der sie hergebracht, ist nicht wieder zurückgekehrt – er hatte einen falschen Namen angegeben – keine Spur von ihm konnte entdeckt werden – das Geld, das er zurückgelassen, reichte nur für ein Vierteljahr aus. Als Varney zuerst verhaftet worden, schrieb John Ardworth, der sich damals in Laughton vergeblich bemühte, Percival zu trösten, an seinen Vater, den Fälscher in seinem Gefängniß aufzusuchen, und sich bei ihm nach Madame Dalibard zu erkundigen; aber Varney fürchtete damals so sehr, daß sie etwa im Wahnsinn seinen Antheil an ihren Verbrechen ausplaudern könnte, oder wenn sie genesen wäre, durch den Gedanken an ihres Sohnes Ermordung zur Reue und zum Geständnis aus Verzweiflung erwachen könnte, daß der Elende es für klüger hielt, anzugeben, seine Mitschuldige lebe nicht mehr – ihr Wahnsinn habe schon mit dem Tode geendigt. Da er gezwungen war, seine Ansprüche an die Versicherungscompagnie aufzugeben, so blieb ihr Aufenthaltsort (den fast der Prozeß an den Tag gebracht hätte) ein in seine Brust verschlossenes Geheimniß. Ein Egoist bis zuletzt, war sie von nun an todt für ihn – warum nicht auch für die Welt? Der ältere Ardworth, ohne auf Details zu dringen, die sein scharfsinnigerer Sohn gefordert haben würde, schenkte seiner Erzählung unbedingten Glauben; und der Schlag, welcher Lucretia betroffen, machte sie selbst für John wahrscheinlich genug. So unterblieb jede weitere Nachforschung, obgleich, eine geringe zur Entdeckung verholfen hätte – und der Genosse ihrer Verbrechen schnitt ihr die einzige Rettung, das Mitleid ihrer Verwandten ab, und die Pforte der lebenden Welt schloß sich hinter ihr auf ewig. Doch mit einer Art Mitleid, oder er als ein Gegenstand um Experimentiren – als ein Ding, mit dem sich in diesem Sectionszimmer des Geistes alles anfangen lasse, gewährten ihr ihre Hüter immer noch ein Asyl. Aber mit jedem Jahre wurde sie mehr vernachlässigt und rauher behandelt; und seltsam, während die Züge kaum noch erkennbar waren, während der Körper allen den Veränderungen unterlag, welche die Gestalt erleidet, sobald die Seele sie verlassen hat, blieb ihre wunderbare Lebenskraft ungeschwächt. Kein Anzeichen des Hinsiechens war zu entdecken. Der Tod, als verschmähe er die Leiche, hielt sich unerbittlich fern. Auch Du, entgangen dem menschlichen Gesetz, hast das Leben gerettet! Nicht für Dich gilt der Spruch: Blut für Blut! Du lebst – Du kannst die äußerste Grenze des menschlichen Lebens erreichen. Lebe fort, um den Kuß von Deiner Stirn, und das Blut von Deinem Kleid zu wischen! – Lebe fort!
Nicht des gemeinen Zweckes wegen, nichtigen Schrecken hervorzurufen – nicht wegen der Nervenerschütterung und des gröberen Interesses, welche die Darstellung des Verbrechens erweckt, ist dieses Buch nach den dem Verfasser zur Kenntniß gekommenen Thatsachen und Materialien verfaßt worden. Wenn der große deutsche Dichter in einem seiner schönsten Gedichte die plötzliche Erscheinung eines ungeheuern Schicksals in dem Kreise leichtsinniger Freude beschreibt, so schenkt er dem, der die Welt in Parabel oder Lied belehrt, das Recht, das Gespenst zu beschwören. Es ist nützlich, zuweilen aus der ruhigen Alltäglichkeit, welche unser gewöhnliches Leben umgibt, aufgeweckt zu werden, ein helles, stetiges und dauerndes Licht auf die dunkleren Geheimnisse des Herzens, auf die Grüfte und Höhlen der sozialen Zustände zu werfen, auf welche wir den Markt und den Palast bauen. Wir erholen uns von dem Schauer und der halb ungläubigen Verwunderung, um genauer unser innerstes und geheimes Selbst zu betrachten. In dem, der nur den Verstand bildet, und Herz und Geist wüst und todt liegen läßt, der sich ewig um die Achse des Ichs dreht, nicht erwärmt von Liebe, nicht geleitet durch die Anziehungskraft des Wahren, liegt der Keim, den das Schicksal zur Schuld Oliviers Dalibards emporreifen lassen kann. Möge der, welcher nur vermittelst der Sinne lebt, der die Schwingen der Phantasie im bunten Lichte verdorbenen Genusses sonnt, gierig den Reiz des Vergnügens suchend, und die Arbeit scheu fliehend, dessen Fähigkeiten auf den Bereich sinnlicher Wahrnehmungen beschränkt sind, dessen Muth sogar nur Nervenstärke ist, der nur das Thier entwickelt, während er den Menschen erstickt, auf die Schurkerei Varney's blicken, und entsetzt vor dem vergrößerten Schatten seiner Selbst, vor dem bleichen Bild des Spiegels zurückschaudern! Mögen die, welche mit Kraft zu herrschen und mit Leidenschaften diese Kraft zu beflügeln, ohne Rücksicht zum Ziele eilen möchten, die, mit eisernem Fuße die menschlichen Wesen zertretend, die auf ihrem Pfade blühen, mit dem stolzen Schritte des Vernichters zum Siege schreiten möchten, in dem Gelächter der wahnsinnigen Mörderin das Jubeln des Dämons vernehmen, dem sie ihre eigene Seele vermählt haben! Hüte sorgsam, Erbe der Ewigkeit, die Pforte der Sünde – den Gedanken! Je schärfer Dein Geist, je kühner Dein Muth ist, desto kürzer und gerader ist der Weg vom Gedanken zur That. Rechnest Du auf einen Todesfall, um Geld zu erlangen, oder eine Leidenschaft zu befriedigen? – Dein Gedanke hat sich feindlich gegen ein Leben erhoben, wenn auch Deine Hand vor dem Mord zurückschaudert. Lies diese Blätter mit stolzer Verachtung der Einkehr in Dich selbst, und sie werden Dich nur empören. Lies sie und blicke fest in Dein Herz, und Du wirst bis zu Deinem Grabe besser und reiner und weiser seyn!
Ende.
Druck der J. B.
Metzler'schen Buchdruckerei
in Stuttgart.