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Dreizehntes Kapitel.

Der Verlust des Postens.

Trotz der späten Stunde, in welcher er zur Ruhe gegangen, hatte Percival bereits gefrühstückt, als ihm sein Bedienter mit emporgezogenen Augenbrauen meldete, daß »ein recht sehr zerlumpter Mensch behauptete, vom Herrn bestellt worden zu seyn.« Obwohl Beck schon früher im Hause gewesen und vom Bedienten zugelassen worden war, erschien er nun doch um so viel hagerer und zerlumpter, daß ihn der schmucke Diener, der solche Leute nicht sehr aufmerksam beobachtete, nicht wieder erkannte. Indeß führte er, zu wohlgezogen, um sich erstaunt zu zeigen, auf Percivals Befehl Beck mit vieler Artigkeit herein, und St. John war schmerzlich betroffen über die Verheerungen, welche wenige Wochen auf des Straßenkehrers Gesicht angerichtet hatten. Die Züge waren so tief gefurcht, das trockene Haar sah so dünn aus und war so sehr mit Grau gemischt, daß Beck leicht Farren's William Farren (1786-1861), englischer Schauspieler, der an den herausragenden Bühnen Londons tätig war; Bei den von ihm bevorzugten Charakteren (mürrische alte Junggesellen, eifersüchtige alte Ehemänner, stürmische Väter, besorgniserregende Onkel oder alte Kerle, die in widerwärtiger Weise Anspruch auf Liebenswürdigkeit erhoben) war er einer der angesehensten Schauspieler seiner Zeit. Talent in der Rolle eines alten Mannes hätte überbieten können.

Des armen Kehrers Geschichte war, abgesehen von seiner seltsamen Phraseologie, einfach genug und bald erzählt: – Er war Abends nach Hause gekommen, um seine Schätze gestohlen und die Mühe seines Lebens vernichtet zu finden. Wie er diese Nacht zugebracht, wußte er sich nicht mehr genau zu erinnern. Wir dürfen annehmen, daß die wenige Vernunft, die er besaß, ziemlich verloren war. Kein Argwohn, wer der wirkliche Dieb, stieg in seiner verstörten Seele auf. So schlecht Grabmans Charakter seyn mochte, befand er sich doch in einer anständigen Stellung im Verhältniß zu den andern Bewohnern des Hauses. Bill, der Einbrecher, deutete natürlich wegen seines Berufs die Hand an, welche den Raub verübt hatte: aber wie konnte man von einem solchen Manne Ersatz hoffen oder die Herausgabe erzwingen? Indeß schlich er mechanisch, als die Stunde zum Beginn seines Tagewerks kam, die Treppe hinunter, und siehe, gerade vor der Hausthür spielten Bill's Kinder, und in der Hand des ältesten erkannte er wieder, was er seine Klapper nannte.

»Deine Klapper?« unterbrach ihn St. John.

»Ja – worauf die Kleinen beißen, bevor sie ihre Zähne bekommen.«

St. John lächelte, und da er glaubte, daß Beck wohl einmal kindisch genug gewesen seyn konnte, solch ein Spielwerk zu kaufen, winkte er ihm, fortzufahren; den Kleinen angreifen und sich trotz seines Stoßens, Beißens,Schreiens und Kratzens wieder in Besitz seines Schatzes setzen, war das Werk eines Augenblicks. Des Jungen Geschrei rief den Vater heraus, und an ihn wendete sich Beck laut und anfangs furchtlos, indem er die Koralle in die Tasche steckte, damit deren goldene Schellchen nicht das erfahrenere Auge und die furchtbarere Gier des väterlichen Diebes reizen möchten. Den Vater verklagte und beschuldigte er und bedrohte ihn mit jeder, menschlichen wie göttlichen, Rache. Dann stimmte er einen andern Ton an, flehte, weinte, kniete nieder. Sobald sich der erstaunte Einbrecher von seiner Verwunderung über solche Kühnheit erholte und die Art der gegen ihn und seine Familie gerichteten Anschuldigung begriff, ward er um so zorniger wegen des bei ihm seltenen und ungewohnten Bewußtseyns der Unschuld. Er ergriff Beck beim Kragen und schleuderte ihn mit einem geschickten Griff wie einen Federball in die Gosse.

»Geh' nach Jericho, Schlammkratzer!« rief Bill mit donnernder Stimme – »und sagst Du jemals wieder so eine Dummheit, so pack' ich Dich in einen Kartoffelsack und verkaufe Dich für fünf Pence an Nr. 7, den großen Leichenräuber. Nimm Dich in's Künftige in Acht vor mir!«

Damit schlug Bill die Thüre zu, und Beck, der ganz von Sinnen war, kroch aus der Gosse und schlich, geschunden und unter Schmerzen, nach seinem Posten. Allein diesen Tag war er nicht im Stande, sein Amt zu erfüllen; sein schwacher, armseliger Körper vermochte den erhaltenen Streich nicht zu ertragen. Lange vor der Dämmerung schlich er hinweg, und da er sich heimzukehren fürchtete, weil ja Bill, nachdem nichts mehr zu rauben war als sein Leichnam, Wort halten und den letztern an den Leichenräuber verhandeln konnte, so nahm er seine Zuflucht zu dem einzigen Obdach, wo er sicher ruhen zu können glaubte.

Hier müssen wir eine Erklärung einschalten. Als wir Beck zuerst einführten, begnügten wir uns, dem scharfsinnigen und gewandten Leser anzudeuten, daß sein Herz weit genug seyn mochte, um außer seinem Straßenposten noch etwas zu beherbergen. Nun wohnte in einer der engen Gassen, die nach Fleetstreet führen, eine alte Wittwe, welche sich durch Scheuern nährte – ein fleißiges, betriebsames Wesen, die, seitdem ihr Gatte, ein Dachdecker, vom Gerüst gefallen war und sie, indem er den Hals brach, zum Glück ebenso kinderlos als geldlos zurückgelassen hatte, die seitdem nur noch davon lebte, daß sie Treppen reinigte und schmutzige Häuser säuberte, wenn sie vermiethet werden sollten, mit einem Wort, eine Scheuerfrau. Und in diesem Berufe hatte sie ihr Möglichstes geleistet, bis ein böser Rheumatismus und hohes Alter ihren Bestrebungen ein Ziel setzten und sie berechtigten, wöchentlich zwei Schillinge Kirchspielalmosen zu empfangen. Diese alte Frau und Beck verknüpfte ein geheimnißvolles Band, so geheimnißvoll, daß er es selber nicht recht begriff. Bisweilen nannte er sie »Mama«, bisweilen auch »die alte Frau«. Gewiß ist aber, daß er ihr, zur Verlegenheit von St. Giles, den Namen verdankte, welchen er trug.

Becky Carruthers war der Name der alten Frau; aber Becky war eines der guten Geschöpfe, die man stets bei ihren Taufnamen nennt und die nie zu der Würde des Familiennamens oder zu dem Ansehen einer »Mistreß« emporsteigen; – indem er eine Sylbe von dem gewöhnlichen Namen wegließ, nannte sich der arme Bursche »Beck«.

»Und,« sagte St. John, welcher im Laufe der Fragen und Antworten so weit in die Geschäfte des Gassenkehrers eingedrungen war, »ist diese gute Frau wirklich Deine Mutter?«

»Mutter!« wiederholte Beck mit verachtendem Tone.

»Nein, ich hab' eine größere Mutter als sie. Sint Poll's ist meine Mutter. Aber die Alte hat mich aufgezogen.«

»Ich verstehe Dich wirklich nicht. Saint Paul's ist Deine Mutter! – Wie?«

Beck schüttelte geheimnißvoll den Kopf, und fuhr, ohne auf die Frage zu antworten, in seiner Geschichte fort, welche wir umschreiben, wie folgt.

Als er etwas über sechs Jahre alt war, begann Beck sein Brod selber zu verdienen, durch Botenlaufen, Pferdehalten, indem er so Pence und halbe Pence zusammenbrachte. Frühzeitig erwachte seine Leidenschaft zu sparen. Anfangs aus gutem und uneigennützigem Beweggrund: um die »Mama« am Schluß der Woche zu überraschen. Aber als ihm die »Mama«, die damals selber genug verdiente, die Wange streichelte, ihn einen guten Jungen nannte und ihm sagte, er solle für sich selber sparen, denn es würde schön seyn, wenn er groß würde und dann einen hübschen Pfennig zurückgelegt hätte: da wurde er ein Geizhals auf eigene Rechnung. Endlich that er mit Erlaubniß des Polizeiinspektors und unter Beistimmung des Besitzers des anstoßenden Hauses seinen großen Schritt im Leben, und folgte einem verstorbenen Neger in der Würde und der Einnahme des denkwürdigen Kehreramts. Von dieser Stunde an fühlte er sich in seiner eigentlichen Bestimmung; aber ach! die arme Becky war bereits unter's dürre und gelbe Laub gefallen! Mit der Abnahme ihrer Kräfte nahmen auch ihre guten Eigenschaften ab. Sie ergab sich dem Trinken – nicht um sich geradezu zu betäuben, sondern nur, um sich »behaglich zu machen«; und um ihr Gelüst zu befriedigen, leerte sie, wie Beck eines Morgens beim Erwachen sah, seine Taschen. Da beschloß er, ruhig und ohne sie zu schelten, sich eine sicherere Wohnung zu suchen. Sparen war zur gebieterischen Nothwendigkeit seines Daseyns geworden. Doch muß man zu seiner Rechtfertigung gestehen, daß Beck ein leises Gefühl für das hatte, was er der »Alten« verdankte. Jeden Sonnabend Abend kam er in ihre Wohnung und gab ihr eine gewisse Summe, die zwar nicht einmal im Verhältniß zu seinen Einnahmen groß war, die aber dem armen unwissenden Geizhals, der sich selber jeden Heller abdarbte, als ein ungeheurer Abzug von seinem Kapital und als eine Summe erschien, die für jedes menschliche Bedürfniß zur Genüge ausreichte. Und während er nun heimging, von Allem beraubt, außer den wenigen Pence, die er an diesem Tage gesammelt, war – man muß dies zu seiner Ehre gestehen – nicht seine geringste Qual der Gedanke, daß dies der Sonnabend sey, an welchem zum ersten Male seine Spende ausbleiben würde.

Aber so traurig und elend sah er aus, als er ihr kleines Gemach erreichte, daß »Mama« ganz an sich selber zu denken vergaß, und als er seine Geschichte erzählt hatte, war ihr Trost so liebreich, ihr Mitgefühl so uneigennützig, daß er sich seine alte Sparsamkeit vorwarf, so wie seine zarte Ahndung ihres einmaligen Vergebens; hatte sie nicht ein Recht auf Alles, was er schaffte? Aber Gewissensbiß und Gram gingen bald beide unter in dem Fieber, welches ihn ergriff; mehrere Tage war er ohne Besinnung, und als er sich in soweit erholte, um gewahr zu werden, was um ihn her vorging, sah er die Wittwe neben ihm sitzen, in den vier nackten Wänden – denn Alles, außer dem Bett, worauf er schlief, war verkauft worden, um ihn in seiner Krankheit zu unterhalten. Sobald er wieder aus dem Hause wanken konnte, eilte Beck nach seinem Straßenposten – ach! er war schon eingenommen! Seine Abwesenheit hatte zu eifersüchtiger Usurpation geführt. Ein einbeiniger, trotziger Seemann hatte seinen Thron eingenommen und führte sein Scepter. Das Decorum der Straße verbot den Zwist der streitenden Parteien, aber der Seemann stellte die Diskussion einem Meeting anheim, das in einer Kneipe der Rookery Das Wort bezeichnet in der Umgangssprache des 18./19. Jh. ein städtisches Slum-Gebiet, mit verarmter Bevölkerung und oft hohem Anteil an Kriminellen und Prostituierten. am Abend gehalten werden sollte. Dort wurde eine Jury bestellt und der Proceß eröffnet. Nach den herkömmlichen Gesetzen, welche diese nützliche Genossenschaft reguliren, war Beck noch immer in seinem Rechte, sein Wiedererscheinen genügte, um seine Ansprüche giltig zu machen, und eine Appellation an den Polizeibeamten mußte ohne Zweifel seine Autorität herstellen. Aber Beck war noch so unwohl und schwach, daß er die traurige Einbildung nährte, er werde seine Amtspflichten nicht genügend erfüllen können; und als sich der Seemann, der im Ganzen kein schlechter Kerl war, erbot, bis auf den Pfennig zu erlegen, was wirklich eine ziemlich reichliche Summe schien, wofern Beck seine Rechte friedlich abträte, da dachte der arme Wicht an die leeren Wände seiner Mama, an den langen, traurigen Zeitraum, der, wenn er auch arbeitsfähig war, vergehen mußte, bevor das verpfändete Hausgeräth von seinen täglichen Ersparnissen wieder eingelöst werden könnte, und mit einem Seufzer hielt er die Hand hin und schloß den Handel.

Er kroch heim zu der »Alten« und warf ihr den Kaufschilling in den Schooß: dann schlich er gebrochenen Herzens und verzweifelnd wieder fort, während er eine vage, träumerische Hoffnung nährte, daß das Gesetz, welches Vagabunden haßt, ihn ergreifen und einsperren würde.

Nachdem diese Erzählung vollendet war, unterließ Percival nicht das sanfte Werk der Ermahnung, welches bei dem erweichten Herzen und den dunkeln Gewissensschlägen des armen Kehrers um so leichter wurde. Mit sanften Worten deutete er an, wie vielleicht die Habsucht, der er sich hingegeben, gnädig gezüchtigt worden sey, und entwarf ein zierlich sprechendes Gemälde von dem Elende des vollendeten Geizhalses. Beck hörte bescheiden und respektvoll zu, obwohl er so wenig von Gnade, und Vorsehung, und Laster verstand, daß der erhabenere Theil der Predigt ihm ganz verloren ging. Indeß gestand er reuig, daß »ihn die Matratze schlechter als ein Thier gegen die alte Frau gemacht hätte,« und daß er auf zeitlebens vom Sparen geheilt sey.

»Und nun,« sagte Percival, »da Du in der That nicht kräftig genug scheinst, um solche Geschäfte im Freien zu besorgen, (zumal da der Winter naht,) – was meinst Du, wenn Du in meinen Dienst trätest? Ich brauche einen Gehülfen in meinen Ställen. Das Geschäft ist leicht genug, und Du bist ja auch gewissermaßen an Pferde gewöhnt.«

Beck zögerte und sah einen Augenblick unentschlossen aus. Endlich sagte er: »Mit Ew. Gnaden Erlaubniß, wenn ich nicht stark genug bin, die Straße zu fegen, so fürcht' ich, ich werde Ihnen auch nicht zu dienen vermögen. Und wär' es nicht schlecht, Ihren Lohn zu nehmen und doch nicht für Sie zu arbeiten, wie sich's gehörte?«

»Ach was, wir wollen Dich bald stark machen, lieber Mann. Nimm meinen Rath an und denke nicht weiter an den Straßenposten. Dergleichen Industrie setzt Dich schlechter Gesellschaft und schlechten Gedanken aus.«

»Das ist freilich wahr,« sagte Beck, indem er seinen rechten Zeigefinger auf seine linke flache Hand legte.

»Gut, so bist Du in meinem Dienst. Geh jetzt hinunter und nimm Dein Frühstück zu Dir. Und hör' – Du sollst mir auch Deine Mama zeigen, damit wir sehen können, was sich für sie thun läßt.«

Beck drückte seine Hände vor die Augen und vermochte sich des lauten Weinens kaum zu enthalten. Aber es war zu viel für ihn, und als ihn der Bediente, der auf Percivals Ruf erschien, die Treppe hinabführte, hörte man sein Schluchzen durchs ganze Haus.


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