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Zweites Kapitel.

Liebe auf den ersten Blick.

Plötzlich schwebte vor Percival's Augen ein Gesicht vorüber, das den in Gedanken Verlorenen weckte, wie ein Lichtstrahl den Schlafenden aufstört. Es war wie ein Erkennen einer früher undeutlich gesehenen Gestalt – wie die Verwirklichung eines Traumbildes. Nicht die bloße Schönheit dieses Antlitzes (und es war schön) hielt seinen Blick fest und machte sein Herz schneller schlagen, sondern mehr die namenlose und unerklärliche Sympathie, welche die Liebe auf den ersten Blick ausmacht; ein instinktmäßiges Gefühl, das der schwerfälligste mit dem lebendigsten Geiste, der trockenste Verstand mit der lebhaftesten Phantasie gemein hat. Der einfache Cobbett William Cobbett (1763-1835), englischer Schriftsteller, Journalist, Verleger und radikaler, d. h. linksliberaler Politiker., als er vor der Hütte bei der allerprosaischsten häuslichen Arbeit das Mädchen erblickte, von dem er sagte: dies Mädchen soll mein Weib werden, und Dante, wie ihn der erste Blick Beatrice's mit heißer Glut durchbebte, sind beides echte Typen des allgemeinen Erfahrungssatzes: Die Liebe, welche am tiefsten sich einprägt, entsteht mit dem ersten Blick; sie strömt plötzlich auf uns herab aus der Wolke – ein Blitzstrahl – ein Schicksal, dem wir plötzlich ins Angesicht sehen.

Sicherlich war nichts Poetisches in dem Ort und der Umgebung, und noch viel weniger in der Begleitung, in der dieses liebliche Wesen das jungfräuliche Herz des harmlosen Knaben mit ungeahnter Glut erfüllte; sie stützte sich auf den Arm einer starken, behäbigen Matrone in dunkelbraunem Kleide, auf deren anderer Seite ein sehr kleiner und sehr dünner Mann mit einem sehr kleinen Gesicht, dessen unterer Theil mit einem ungeheuern Shawl verhüllt war, ging. Außer diesen zwei Bürden hatte sich die starke Frau noch mit einem Regenschirm, einem Korbe und ein paar Kothschuhen beladen.

Inmitten der fremdartigen Bewegung, welche durch sein Auge in seinem Herzen entstand, wurde Percivals Ohr unangenehm von der lauten, fast männlichen Stimme der Matrone berührt:

»Herr Jemine! Ob das nicht John Ardworth ist: wer hätte das gedacht! He, John – John!« Mit diesen Worten hob sie ihren Regenschirm horizontal in die Höhe, schob zwei Commis aus der City damit bei Seite, schwenkte den kleinen Mann, ihren Begleiter, links herum – der dafür von den Handlungsdienern mit dem Titel: »Kerl!« beehrt wurde und schob ihn als den spitzigsten Keil, der gerade bei der Hand war, durch eine dichte Masse von etwa sechs Zuschauern und maß die Unzufriedenen mit drohenden Blicken, während sie seiner unfreiwilligen Führung folgte. So machte sie sich Bahn bis zu dem Orte, wo der Genannte stand. Auf diese Weise entdeckt und aufgestört wurde der ruhmbegierige Träumer, denn er war es, einen Augenblick verlegen, als die dicke Frau ihn mit dem Regenschirme berührte und ausrief:

»Das ist doch zu arg! Was, Sie ließen uns sagen, Sie hätten nicht Zeit uns zu begleiten, und jetzt sind Sie hier in Lebensgröße!«

»Als Sie mir schrieben,glaubte ich nicht, daß –«

»Bah, Unsinn!« unterbrach ihn die dicke Frau mit einem bedeutsamen, gutmüthigen Kopfschütteln; »ich lasse mir nichts vormachen. Sie sind ein wilder Bursch, John Ardworth – das sind Sie! Sie laufen gern hübschen Lärvchen nach – ja, ja – ha, ha, ha! sehr natürlich! So warst Du früher auch – nicht wahr, Mivers? – ja, ja, Männer sind Männer und ich bin der Meinung, daß sie es in Einigkeit bleiben werden!«

Mit dieser weisen Prophezeihung wendete sich die Dame zu Mr. Mivers, der jetzt mit einiger Anstrengung sein Kinn aus den Falten seines Shawls herauswickelte und mit einer dünnen Stimme erwiederte: »Ja, ich war einmal ein wilder Bursch, aber Du hast mich zahm gemacht, Mrs. M.!«

Und damit versank das Kinn wieder in den Shawl und die feine Stimme erstarb in einem feinen Seufzer.

Die dicke Dame blickte gnädig auf ihren Gatten herab und fuhr dann ermuthigend in ihrer Rede fort, während Ardworth halb ärgerlich und halb lächelnd zuhörte.

»Ja, nichts geht über ein angetrautes Weib, um einen Mann zahm zu machen, wie Sie später auch einsehen werden. Doch Ihre Zeit ist noch nicht gekommen, so können Sie also Helenen den Arm geben und uns begleiten.«

»Kommen Sie,« sagte Helene mit schmeichelnder Stimme.

Ardworth neigte sein strenges Gesicht zu Helenen nieder und eine sichtbare Freude erhellte seine gedankenvollen Züge. »Ich kann Ihnen nicht widerstehen.« begann er, schwieg aber sogleich wieder und runzelte die Stirn. »Still,« fuhr er fort, »ich rede Unsinn; aber wem verdrehten Sie nicht auch den Kopf? Widerstehen muß ich Ihnen, denn ich gehe jetzt an meine Arbeit. Fordern Sie in ein paar Jahren, wenn ich Zeit habe glücklich zu seyn, irgend etwas von mir, und Sie sollen sehen, ob ich ein Bär bin, wie Sie mich jetzt nennen.«

»Nun,« sagte Mrs. Mivers lebhaft, »kommen Sie oder nicht? Wozu das Besinnen!«

»Mrs. Mivers,« erwiederte Ardworth mit verstecktem Humor, »Sie würden gewiß sehr auf Ihres Gatten vortreffliche Ladendiener schimpfen, wenn sie so zu ihren Kunden sprechen wollten. Wenn eben eine Dame, die nur eine Elle gewöhnliche Spitzen kaufen wollte, plötzlich wie ich von einem ganz unerwarteten und heißbegehrten Prachtstück geblendet würde, einem schönen Spitzenschleier oder einem entzückenden Kaschemirshawl, und während sie noch zwischen dem, was die Klugheit und die Versuchung fordert, schwankte, Ihr erster Diener ausriefe: Wozu das Besinnen! – Nun, das frage ich Sie.«

»Unsinn!« sagte Mrs. Mivers.

»Ach! Ganz anders als bei Ihren Kunden (so hoffe ich wenigstens im Interesse Ihres Geschäfts) behält bei mir die Klugheit die Oberhand; außer etwa,« fügte Ardworth hinzu, unentschlossen Helenen anblickend, »wenn es Ihnen an dem gehörigen Schutz fehlte, und –«

»Schutz!« rief Mrs. Mivers mit staunender Entrüstung aus und schwang den gewaltigen Regenschirm, »als ob ich nicht, unterstützt von diesem Ding hier, ein ganzes Dutzend solcher Leute zu beschützen vermöchte. Schutz, wahrhaftig!«

»John hat Recht, Mrs. M.; Geschäfte sind Geschäfte,« sagte Mr. Mivers. »Laß uns weiter gehen; wir versperren den Weg und diese Taugenichtse hören uns zu und schnickern.«

»Schnickern!« rief die Frau aus; »ich möchte doch den sehen, der zu schnickern wagte,« und dabei sah sie sich herausfordernd um. Nachdem sie so ihren Zorn befriedigt hatte, machte sie sich bereit, ihrem Herrn und Gebieter zu gehorchen, was sie sicherlich stets that. Mit kunstfertiger Hand schwenkte sie Mr. Mivers wieder herum, ließ ihm die scharfe Spitze des Regenschirms vorausgehen und bahnte sich so einen Weg durch das Gewühl, gleich dem Sensenwagen der alten Britten. Bald war sie unter der Menge verschwunden, obgleich man ihren Weg errathen konnte an einer kleinen aufgeregten Furche im allgemeinen Strom, aus der sich ein fortlaufendes Gemurr des Vorwurfs und Schmerzes vernehmen ließ, das allmälig in der Ferne erstarb.

Ardworth folgte der lieblichen Gestalt Helenens mit einem Blicke des Bedauerns: und als sie verschwand, drehte er sich mit einem unterdrückten Seufzer um und bahnte sich mit dem langen, gleichmäßigen Schritte eines kräftigen Mannes einen Weg durch den Strom nach der Druckerei einer Zeitung, bei der er fest angestellt war.

Aber Percival, der einen großen Theil des Gespräches, das in seiner unmittelbaren Nähe stattgefunden, gehört hatte, Percival, der glückliche Sohn sorgenlosen Reichthums, war nicht durch Arbeit und Pflicht abgehalten, dem Triebe seines Herzens nachzugeben, und sein Herz zog ihn mit magnetischer Kraft dem Wesen nach, das neue Gefühle in seiner Brust erweckt hatte.

Mittlerweile sollte Mrs. Mivers lernen – obgleich ihr die Lection nicht viel nützte – daß man, um gut durch die Welt zu kommen, sowohl geschmeidig als stark seyn muß: und daß, obgleich bis zu einem gewissen Punkte Mann und Frau sich Platz machen können, indem sie mit Regenschirmen den Leuten in die Rippen stoßen und den Leuten unbarmherzig auf die Hühneraugen treten, die Ertragungsfähigkeit von Rippen und Hühneraugen dennoch ihre Grenzen hat.

Helena, halb beängstigt, aber auch etwas ergötzt über ihrer Begleiterin kräftigen und standhaften Willen, setzte in Mrs. Mivers das Vertrauen, mit welchem die Schwachen sich meistens auf die Starken verlassen, und obgleich sie stets, wenn sie die Augen von der glänzenden Illumination wegwandte, Mrs. Mivers bat, mit größerer Sanftmuth zu verfahren, so fürchtete sie dennoch keine bestimmten übeln Folgen von der Energie, die sie nicht bezähmen konnte – um so mehr, als sie schon sicher von der St. Paulskirche nach der St. Jamesstraße gekommen waren. Aber am untern Ende der letztgenannten Straße fand Mrs. Mivers endlich einen ebenbürtigen Gegner. Die Menge stand hier dichtgedrängt still, um in Ruhe die glanzvolle Perspektive zu betrachten, welche die Läden und Clubs dieser Straße bildeten. Kutschen hatten angehalten und unmittelbar vor Mrs. Mivers standen drei sehr dürre und kleine Frauen, deren Anzug verrieth, daß sie den untersten Ständen angehörten.

»Platz da, gute Frau, Platz da!« tief Mrs. Mivers der Einen zu, denn Gestalt und Rang der Drei flößte ihr wenig Achtung ein.

»Und warum soll man solcher Art Platz machen, Sie alter Fleischklumpen?« sagte die Angeredete, indem sie sich umkehrte und mit schielenden Augen Unheil verkündend in Mrs. Mivers Antlitz starrte.

Ohne sie einer Antwort zu würdigen, nahm Mrs. Mivers ihre Zuflucht zu ihrer gewöhnlichen Taktik. Regenschirm und Gatte fuhren rasch zwischen zwei der Frauen hindurch; aber zum unbegreiflichen Staunen und Schrecken der Angreifenden waren Gatte und Regenschirm augenblicklich verschwunden. Die drei kleinen Furien waren über beide hergefallen. Beide waren ihrem natürlichen Eigenthümer geraubt– sie wurden fortgerissen; der Strom hinten, seit lange empört über die rücksichtslosen Eindringlinge, schloß sich jubelnd zusammen. Mrs. Mivers und Helene wurden in der einen, Mr. Mivers und der Regenschirm in der andern Richtung von dannen getragen: aus der Ferne vernahm man eine feine Stimme: »Bitte! bitte! Mrs. – Mrs. – Mrs. M.! O! O! Mrs. M.!« Bei der letzten Wiederholung des geliebten Buchstabens in einem Tone fast übermenschlicher Bedrängniß war das Gattenherz der Mrs. Mivers von unbezähmbarem Schmerz betroffen.

»Warten Sie einen Augenblick, Helene! Ich will Ihnen blos zeigen – weiter nichts!« Im nächsten Augenblick hörte man Mrs. Mivers sich scheltend durch die Menge drängen, bis ihre letzte Spur Helenens Augen entschwunden war. Verlassen, erschrocken und über alle Maßen beschämt, sah sich das Mädchen mit einem rathlosen Blick um. Der Blick wurde bemerkt von zwei jungen Männern, deren Stand in dieser Zeit, wo die Kleidung nur ein unsicheres Kennzeichen ist, sich aus ihrem Aeußeren nicht errathen ließ. Es konnten Dandies aus dem Westen, aber auch Commis aus dem Osten seyn.

»Meiner Treu.« rief der Eine aus, »welch' hübsches Mädchen!« und alsbald standen Beide, durch eine plötzliche Verschiebung des Gewühls, neben Helenen.

»Bist Du allein, schönes Kind?« sagte eine Stimme mit roher Vertraulichkeit.

Helene gab keine Antwort – der Ton der Stimme erschreckte sie. Eine Lücke in der Menschenmasse gestattete einen Durchblick nach Cleveland Row, einer Straße, die ziemlich leer war, da man hier nicht illuminirt hatte. Sie floh sogleich in dieser Richtung; die Beiden folgten ihr, und der kühnere und ältere versuchte mehrmals ihren Arm zu erfassen. Endlich, als sie an das letzte Haus kam, gewahrte sie plötzlich, daß hier kein Durchgang war, und während sie erschrocken still stand, hatten ihre Verfolger ihr die Flucht abgeschnitten.

Einer von ihnen ergriff jetzt ihre Hand. »Aber, schönes Kind, warum so hartherzig? Nur einen Kuß – einen einzigen!« Er wollte sie dabei mit seinem Arm umschlingen, Helene wich ihm aus und eilte zurück, wo ihr aber der andere den Weg vertrat, als zu ihrem Erstaunen eine dritte Person erschien, den Anderen ruhig bei Seite schob und mit einem stummen, herausfordernden Blick auf ihre ritterlichen Verfolger ihr seinen Arm bot. Helene sah ihren unerwarteten Beschützer nur mit einem einzigen schüchternen Blick an: ein Etwas in seinem Gesicht, seinem Benehmen, seiner Jugend, flößte ihr augenblickliches Vertrauen ein. Fast ohne zu wissen, was sie that, legte sie ihre zitternde Hand auf den dargebotenen Arm.

Die zwei Lotharios Lothario ist eine Figur aus »The Fair Penitent« (1703), einer Tragödie von Nicholas Rowe. Er ist ein notorischer Verführer, zwar äußerst attraktiv, aber unter seinem charmanten Äußeren ein hochmütiger und gefühlloser Schurke. Die Figur wurde zu einem festen Bestandteil der englischen Literatur. So hat Samuel Richardson in seinem erfolgreichen Roman »Clarissa« (1748) die Figur des Lovelace dem Lothario nachempfunden. Der Name der Figur wurde im Laufe der Zeit zum Synonym des geckenhaften, skrupellosen Wüstlings. sahen sich verblüfft an. Einer zupfte den Hemdkragen zurecht, der Andere drehte sich mit einem gezwungenen Lachen um. So knabenhaft Percival aussah, so lag doch in seinem Gesicht ein Ausdruck schnellbereiten Muthes, der seine Gegner zwar vielleicht nicht einschüchterte, aber sie doch eine Scene fürchten ließ, welche die Einmischung der Polizeibeamten, deren einer sich schon langsam näherte, herbeiführen konnte. Sie beobachteten daher ein mürrisches Schweigen; und Percival St. John führte mit klopfendem Herzen, aber triumphirend, seine Eroberung von dannen.

Ohne recht zu wissen wohin, jedenfalls mit gänzlichem Vergessen der Mrs. Mivers, und nur bestrebt, aus dem Gedränge zu kommen, ging Percival gerade fort, bis er sich plötzlich mit seinem schönen Schützling unter den Bäumen des St. James-Parks wiederfand.

Da blieb Helene stehen und sagte voll Unruhe: »Mein Gott! das ist der falsche Weg – ich muß nach der Straße zurück!«

»Wie einfältig ich bin – natürlich!« sagte Percival mit verwirrtem Gesicht. »Ich fühlte mich so glücklich, bei Ihnen zu seyn, und Ihre Hand auf meinem Arm zu fühlen, und zu denken, daß wir ganz allein seyen, daß – daß – aber Sie verlieren Ihre Blumen!«

Ein Strauß, den Helene trug, fiel zu Boden. Beide bückten sich, um ihn aufzuheben und dabei trafen sich ihre Hände. Bei dieser Berührung überfiel Percival ein seltsames Zittern, welches sich vielleicht – denn solche Dinge sind ansteckend – seiner schönen Begleiterin mittheilte. Percival hatte den Strauß und schien ihn behalten zu wollen, denn er musterte die Blumen zögernd. Endlich sah er mit seinen hellen, freien Augen Helene an, wählte eine Rose aus und sagte bittend: – »Darf ich diese behalten? Sehen Sie, sie ist nicht so frisch wie die anderen.«

»Ich verdanke Ihnen gewiß so viel, Sir,« sagte Helene, erröthend und die Augen niederschlagend, »daß es mich freuen würde, wenn eine armselige Blume es Ihnen vergelten könnte.«

»Eine armselige Blume! Sie wissen nicht, welchen Werth sie für mich hat!«

Percival steckte die Rose ehrerbietig in den Busen, und die Beiden kehrten nun zögernd um, um wieder auf die Straße zu gelangen.

»Ist jene Dame eine Verwandte von Ihnen?« fragte Percival, und sah weg, denn er fürchtete die Antwort: »doch nicht Ihre Mutter?«

»O, nein! – Ich habe keine Mutter!«

»Verzeihen Sie!« sagte Percival, denn der Ton von Helenens Stimme hatte ihm verrathen, daß er hier eine schmerzhafte Saite berührte. »Und,« fügte er mit einer Eifersucht hinzu, die er kaum verbergen konnte, »der Herr, mit dem Sie unter den Colonnaden sprachen – ich habe ihn schon früher gesehen, aber ich weiß nicht wo. Wahrhaftig, Sie haben mich alles Andere vergessen machen. Ist er mit Ihnen verwandt?«

»Er ist mein Vetter.«

»Ihr Vetter!« wiederholte Percival, ein wenig schmollend; und wieder schwiegen Beide.

»Ich weiß nicht, wie es ist,« sagte Percival endlich mit großem Ernste, als ob ihm ein verwickeltes Problem zu schaffen machte, »aber mir kommt es vor, als ob ich Sie schon von jeher gekannt hätte. Ich habe das doch nie gefühlt.«

Es lag etwas so Unschuldiges in des Knaben ernsthaftem, verwundertem Ton, mit dem er diese Worte sprach, daß ein unwillkürliches Lächeln Helenens Lippen umspielte. Vielleicht fühlte sie zum erstenmal einen Anflug von Coquetterie.

Percival, der sie verstohlen anblickte, sah das Lächeln und sagte, indem er das lockige Haupt zurückwarf: »Ich glaube wahrhaftig, Sie lachen mich aus, als ob ich ein Kind wäre; aber ich bin älter, als ich aussehe. Ich bin überzeugt, ich bin viel älter als Sie. Sie sind vielleicht siebzehn Jahr, nicht?«

Helene, die immer beruhigter wurde, nickte bejahend.

»Und ich bin nicht weit von einundzwanzig. Ja! wundern Sie sich nur – aber es ist wahr. Vor einer Stunde noch fühlte ich wie ein Knabe; jetzt werde ich nie wieder wie ein Knabe fühlen!«

Abermals erfolgte eine lange Pause, bis sie zuletzt die Stelle erreichten, wo Helene ihre Begleiterin verloren hatte.

»O, Herr erhalte uns und beschütze uns!« rief eine Stimme, laut wie eine Trompete, aber nicht mit Silberklang, »da sind Sie endlich!« und Mrs. Mivers (mit wiedergewonnenem Gatten und Regenschirm) erschien vor ihnen.

»Nun, ich bin schön in Angst gewesen, und jetzt kommen Sie daher, als wenn gar nichts gewesen wäre, als wenn der Regenschirm nicht seinen elfenbeinernen Griff verloren hätte – es ist wirklich arg Gott! Gott! was wir ausgestanden haben! Und wer ist der junge Herr da?«

Helene flüsterte ihr eine schüchterne Erklärung zu, die Mrs. Mivers nicht so freundlich aufzunehmen schien, als der arme Percival berechtigt war. Sie starrte ihn an und schüttelte mißtrauisch den Kopf, als er darüber etwas verlegen wurde. Dann nahm sie wieder Helenen unter den Arm und entfernte sich, nachdem sie zu Percival blos gesagt hatte:

»Sehr verbunden und gute Nacht. Ich habe einen weiten Weg zu machen, um das Mädchen zurückzubringen, und das Beste, das wir Alle thun können, ist, so schnell als möglich nach Hause zu gehen und zur Stärkung eine Tasse Thee zu trinken– das ist meine Meinung, Sir. Entschuldigen Sie!«

Auf so unhöfliche Weise verabschiedet, konnte der arme Percival seiner Helene nur sehnsüchtig nachsehen, wie sie von dannen getragen wurde, und hatte blos noch den Trost, sie als sie sich entfernte, zurückblicken zu sehen, und zwar, wie er glaubte, mit einem Schatten des Verdrusses auf ihrem Gesicht. »Da kam ihm plötzlich der Gedanke, wie entsetzlich er die Zeit vergeudet hatte. Er hatte in seiner Unerfahrenheit nicht einmal nach dem Namen und der Wohnung seiner neuen Bekanntschaft gefragt. Wie ihm das einfiel, eilte er durch das Gedräng, und erreichte sein Ziel gerade noch zur rechten Zeit, daß er das Mädchen in einen Wagen steigen sehen und einen vollen Anblick der imposanten Verhältnisse der Mrs. Mivers, die ihr folgte, genießen konnte.

Als das schwerfällige Fuhrwerk (der einzige Wagen auf dem Platze) sich langsam in Bewegung setzte, traf Percival's Blick den Kehrmann, der, immer noch auf seinen Besen gelehnt, da stand und in dankbarer Erinnerung der Freigebigkeit, mit der sein Dienst belohnt worden, an den Hut griff und den Jüngling trüb anlächelte. Die Liebe schärft den Geist und macht die Schüchternen lebendig; ein Gedanke, dessen sich der Erfahrenste nicht zu schämen brauchte, fiel Percival St. John ein: er eilte auf den Kehrmann zu, legte seine Hand auf dessen zusammengeflickten Stock und sagte athemlos:

»Ihr seht die Kutsche dort; folgt ihr, bis sie anhält Hier habt Ihr einen Sovereign – einen zweiten bekommt Ihr, wenn Ihr gehörige Nachricht bringt. Bringt mir die Antwort in meine Wohnung Nr. – Curzonstraße! fort, wie der Wind.«

Der Kehrmann nickte mit schlauem Lächeln; es war wohl nicht der erste Auftrag dieser Art, den er bekam. Er rannte die Straße hinab. Percival, der ihm schnell folgte, konnte ihn, als die Kutsche über den St. James-Platz fuhr, bequem hinten auf sitzen sehen.

Er wußte nichts von den Absichten seines Auftraggebers und kümmerte sieh auch nicht darum. Ehrenwerthe Liebe und selbstsüchtiges Laster waren für ihn ganz gleich. Er sah nur nach seinem Sovereign, den er mit verwundertem Auge immer noch betrachtete, und das Phantasiebild des noch zu erwartenden:

Scandit aeratas vitiosa naves
Cura; nec turmas equitum relinquit.
»Schnöde Sorg' ersteiget das erzbeschlag'ne

Es war die Selbstsucht Londons – gelassen und theilnahmlos, mochte sie im Dienste des Lasters oder der Unschuld stehen.

Halb eilf Uhr saß Percival St. John auf seinem Zimmer und der Kehrmann stand auf der Schwelle. Reichthum und Armuth schienen in den Personen der Beiden sichtbar neben einander gestellt zu seyn. Die Wohnung gilt bei Vielen für ein Kennzeichen des Charakters des Besitzers; dann aber unterschied sich Percival's Zimmer sehr von dem der meisten andern jungen Leute von Rang und Vermögen. Einerseits bemerkte man weder jene Affectation von seinem Geschmack, die sich in eingelegten Arbeiten und Vergoldungen, oder der malerischen Unbequemlichkeit von Stühlen mit hohen Lehnen und mittelalterlichen Curiositäten verräth. Andererseits fehlten die Lieblingsstücke rauher gearteter Jünglinge, Abbildungen von Rennpferden und Fuchsjagden, vielleicht untermischt, wenn der Nimrod zugleich etwas Lovelace ist, mit Portraits von Tänzerinnen und französischen Idealbildern mit der Unterschrift: » Le Soir,« oder » Le Reveillée,« oder » L'Espoir,« oder » L'Abandon.« Die ganze Wohnung hatte vielmehr eine eigenthümliche Physiognomie durch ihre außerordentliche Nettigkeit und heitere Einfachheit. Die Musselinvorhänge waren mit bunten Blumen durchmustert; Bücher standen in den Nischen; hie und da hingen kleine Gemälde, hauptsächlich Seestücke – gut gewählt und gut vertheilt.

Es hätte vielleicht etwas fast Weibisches in dem Ganzen gelegen, wenn nicht die Flügelthüren einen Einblick in ein einfacheres Zimmer mit Fleurets und Boxhandschuhen an den Wänden und einem Ballholz in der Ecke, gestattet hätten. Das gab der Wohnung wieder ein männliches Aussehen, aber es war die Männlichkeit eines Knaben, halb Mädchen in der Seelenreinheit, die das eine Zimmer athmete, ganz Knabe in den spielenden Zerstreuungen, welche das zweite verrieth. Aber so einfach als die ganze Wohnung war, hatte Becks Auge doch noch nie etwas halb so Schönes erblickt. Er blieb eine Weile in der Thür stehen und starrte verwirrt und geblendet ringsum. Aber seine natürliche Gleichgültigkeit gegen Dinge, die ihn nichts angingen, erzeugte in ihm bald den Stoicismus, den die Philosophie dem geistig Starken gibt; und nach dem ersten Anfall des Staunens heftete sich sein Auge ruhig auf seinen Auftraggeber. St. John stand hastig vom Sopha auf, wo er, versunken in die Betrachtung der vom Sternenlicht erhellten Bäume des Chesterfieldgartens, gesessen hatte, und rief ihm entgegen:

»Nun?«

»Old Brompton,« sagte Beck mit einer Kürze des Ausdrucks und einer Schärfe der Wahrnehmung, die eines Spartaners würdig war.

»In einem großen alleinstehenden Hause mit einer hohen Mauer davor,« fuhr Beck fort.

»Ihr würdet es wiedererkennen?«

»Versteht sich; 's ist so seltsam.«

»Was?«

»Nun, das Haus. Die junge Dame stieg aus, und die Alten fuhren zurück. Ich ging denen nicht nach,« sagte Beck mit einem schlauen Gesicht.

»So; – ich muß den Namen erfahren.«

»Ich frug im Wirthshaus,« sagte Beck, stolz auf seine diplomatische Gewandtheit. »Sie haben ein Dienstmädchen, das alle Tage ein halbes Maß für sich holt. Die Mutter der jungen Dame ist eine Ausländerin.«

»Eine Ausländerin! So wohnt sie also bei ihrer Mutter?«

»So sagen sie im Wirthshaus.«

»Und der Name?«

Beck schüttelte den Kopf. »Es ist ein französischer; aber das Dienstmädchen heißt Marthe.«

»Ihr müßt mich morgen in Brompton am Chausseehause treffen und mir das Haus zeigen.«

»Aber ich bin den ganzen Tag im Geschäft.«

»Im Geschäft?«

»Ich stehe am Uebergang,« sagte Beck mit vieler Würde, »aber nach acht gehe ich hin, wo ich will.«

»Also Morgen Abend halb neun in Brompton.«

Beck zupfte bejahend an seiner Stirnlocke.

»Hier ist der versprochene Sovereign– wendet ihn gut an. Ihr habt vielleicht einen Vater oder eine Mutter, deren Herz er erfreuen wird.«

»Ich habe mein Lebtag so 'was nicht gehabt,« meinte Beck und drehte das Goldstück in der Hand um.

»Nun, so vertrinkt es nicht«

»Ich trinke nie nichts als Kofent Leicht- bzw. Dünnbier. Im englischen Original: »svipes«.

»Was werdet Ihr da mit dem Gelde machen?« frug Percival lachend.

Beck legte den Finger an die Nase und sagte ganz leise und feierlich: »Ich hab' eine Matratze …«

»Eine Matratze! Was hat eine Matratze mit dem Gelde zu thun?«

»Ich nähe es ein,« war die Antwort.

Percival sah ihn fragend an. »O,« sagte er nach einer gedankenvollen Pause und mit dem Tone des Bedauerns, »ich verstehe; Ihr näht Euer Geld in Eure Matratze. Armer, armer Bursche, Ihr könnt was Besseres thun! Es gibt ja Sparkassen.«

Beck blickte ihn erschrocken an. »Ich hoffe, der Herr wird's Niemandem sagen. Ich hoffe, es wird mir Niemand rathen, mein Geld an einen Ort zu thun, wo ich gar nichts weiter davon sehe. Nein, ich weiß, wo es ist – und ich schlafe darauf.«

»Schlaft Ihr besser, wenn Ihr auf Euerm Schatze liegt?«

»Nein; 's ist eigen,« sagte Beck nachdenklich; »jemehr ich einnähe, desto schlechter schlafe ich.«

Percival lachte; aber es lag Trauer in diesem Lachen; etwas in dem verlassenen, unwissenden, vaterlosen, darbenden Geizhals rührte ihn bis ins innerste Herz.

»Leset Ihr nie die Bibel?« frug er nach einer Pause; »oder die Zeitung?«

»Ich lese nie nicht; denn ich habe keine Schule gehabt, wie der Baron Tim, der wegen Fälschung geschickt Im Original: »lagged«: eingelocht. wurde.«

»Geht Ihr Sonntags in die Kirche?«

»Ja; ich habe eine wöchentliche Anstellung auf dem New Road.«

»Was soll das heißen?«

»Nun, ich halte dort den Gig eines Herrn, der von Highgate kommt.«

Percival blickte mit seinen glänzenden Augen – und sie waren feucht vom himmlischen Thau – in das stumpfe Gesicht dieses Brudergeschöpfes. Beck machte einen linkischen Kratzfuß, blickte verlegen um sich, schob sich zur Thür hinaus und eilte durch die hellerleuchteten Straßen der Weltstadt heimwärts, um sein Geld in die Matratze zu nähen.


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