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Unter den Cederbäumen zu Laughton saß jenes abscheuliche und entsetzliche Wesen, welches dort jung, leidenschaftlos und hoffnungsreich als Lucretia Clavering gesessen hatte – unter den alten Cederbäumen, welche immer dieselben geblieben waren, außer daß ihre gewaltigen Aeste unmerklich breitere Schatten auf die Moosfläche warfen. Wo durch die unteren Zweige die herbstlichen Sonnenstrahlen fielen, sah man die mit manchem Wappenschild verzierten Fenster hell im Abendstrahl schimmern. Von den Blumenbeeten des nahen Gartens wehte die frische, doch sanfte Luft schwache Düfte des Heliotrop und der welkenden Rose herüber. Der Pfau saß träge auf der schwerfälligen Balustrade; das Rothkehlchen hüpfte munter über die sonnige Rasenfläche: aus der Ferne klangen die Glocken der Schafheerde, das Brüllen einer Kuh: Töne, welche, indem sie das Schweigen unterbrachen, sich doch mit der Ruhe innig vertrugen. Alles ringsum trug dazu bei, das Gemälde feierlicher Stille zu vervollständigen, welche der Charakter solcher alten Herrenhäuser ist, welche ein Eigenthümer nach dem andern liebte und wahrte, indem er ihnen den Schmuck des Alterthums ließ und sie vor der Verödung des Verfalls schützte.
Allein saß Lucretia unter den Cederbäumen und ihr Herz stand in häßlichem Contrast zu der hehren Ruhe, welche ringsum athmete. Von jeder beruhigenden oder reuevollen Empfindung, welche der Schauplatz ihrer Jugend zuerst in ihr erweckt haben mochte, von jeder minder verschuldeten Pein, welche ihr die Erinnerung bereitet hatte, als sie zum ersten Mal wieder unter diesen Zweigen saß und, gleich einer Stimme aus anderer Welt, ein schwaches Flüstern von jugendlicher Liebe durch die Wüste und die Asche ihrer verödeten Seele zog, – von allen solchen neu aus der Vergangenheit erwachenden menschlichen Empfindungen hatte sie sich jetzt mit düsterer Gewalt losgerissen. Ein Verbrechen, gleich dem ihrigen, läßt eine Empfindung, welche die Gewissensqual über leichtere Vergehen lindert, nicht lange bestehen. Wenn da auf einen Augenblick aus der Vergangenheit der warnende und melancholische Geist erwacht, so erhebt sich bald aus dem Abgrunde die Furie mit erhobener Geißel und hetzt vorwärts auf der wahnsinnigen Bahn der Zukunft entgegen. In der Zukunft muß der Sinn des Verbrechers leben, muß sich selber mechanisch in Maschen und Netze einspinnen und Vergangenheit und Gegenwart in der willkommenen Atmosphäre der Finsterniß verlieren.
Während Lucretia so da saß und ihre Augen auf den Hallen ihrer Jugend ruhten, übersprang ihre Seele den Abgrund, der noch zwischen ihr und ihrem Ziele gähnte. Bereits war in ihrer Phantasie diese Heimath wieder ihr eigen; das eingedrängte Geschlecht von Vernon mußte nun zu Ende gehen, und betrachtete alsdann ein neugieriger Nachkomme den Stammbaum, so fand er, wie sich der Stammbaum wieder fortsetzte in der Nachkommenschaft Lucretia Claverings.
Bei allen ihren unaussprechlichen Lastern war doch bloße Habgier, wie wir gesehen haben, kein Hauptcharakterzug dieses fürchterlichen Weibes gewesen; und in ihrer Absicht, durch das ärgste Verbrechen ihrem Sohne das Erbe ihrer Ahnen zu verschaffen, hatte sie bisher nur wenig an die blos gewinnbringenden Vortheile für sie selbst gedacht; jetzt aber, bei dem Anblicke dieses ehrwürdigen und großen Besitzes, kam eine plötzliche Habsucht zum Ausbruch. Hätte sie Alles zu ihrem eigenen Nutzen statt zu dem ihres Sohnes gewinnen können, so würde sie einen stärkeren Eifer in ihrem grausamen Streben gefühlt haben. Sie blickte auf die Scene wie ein abgesetzter Monarch auf sein usurpirtes Reich; ihr kam es zu. Die frühere Gewohnheit, es als ihr Besitzthum zu denken, kehrte zurück. Widerstrebend nur mochte sie selbst ihrem Kinde ihre Ansprüche abtreten. Hier, auch in dieser Region, kostete sie noch einmal, was ihr lange verloren gewesen war – die süße Empfindung würdevoller Geltung, welcher die Hochgebornen sich erfreuen. Hier hörte sie auf, die verdächtige Abenteurerin, die freundlose Verworfene, die mit feindseligem Geschick Ringende, die Feindin des Gesetzes zu seyn. Sie erhob sich noch einmal, und ohne Anstrengung, zu ihrer ursprünglichen Stellung – zu der geehrten Tochter eines berühmten Hauses. Das demüthigste Willkommen, welches ihr von einem alten, aber unvergessenen Dorfbewohner geboten wurde, die bescheidene Huldigung, die tiefe Ehrfurcht in solchem Gruße – selbst derartige Kleinigkeiten waren ihr werth und stärkten sie in dem Entschluß, Alles zu behaupten. In dem stillen Traumbilde, welches ihr Inneres barg, erblickte sie sich selbst in diesen Hallen, herrschend im Namen ihres Sohnes, sicher auf immer vor Verdächtigung und erniedrigender Noth, und vor elenden Verbrechen für elende Zwecke. Hier galt es nur ein großes Verbrechen, und sie erwarb die Majestät ihrer Jugend wieder.
Während sie so in der Zukunft weilte, wendete sich ihr Auge nicht ab von den sonnbestrahlten Thürmen nach den Gestalten unten, welche unmittelbarer zur Betrachtung einluden. Auf derselben Stelle, wo beim Beginn dieser Erzählung Sir Miles St. John saß und seine Aufmerksamkeit zwischen seinen Hunden und seinen Gästen theilte, saß jetzt Helene Mainwaring; an der Balustrade, auf welcher Charles Vernon geruht hatte, lehnte Percival St. John; und auf derselben Stelle, wo er an dem ereignißvollen Abend gestanden, als er in seiner boshaften Skizze die Züge seines Vaters verzerrte, stand Gabriel Varney mit demselben ironischen Lächeln auf den Lippen und war beschäftigt, ein wahrheitgetreueres Bild von des Erben erwählter Braut auf der Leinwand zu skizziren. Ach! Helene Mainwaring war traurig verändert seit dem Abend, wo sie zuerst das Herz des jungen Liebenden bezaubert hatte! Und wie unendlich tiefer war gleichwohl jetzt seine Liebe! Wie wuchs mehr und mehr, während die blos sinnliche Schönheit schwand, seine Bezauberung durch die göttlichere Schönheit der Seele und des Gedankens. Helenens Gesicht ließ allerdings verhältnißmäßig wenig von den Verheerungen blicken, welche die, so vorsichtig beigebrachten tödtlichen Gaben auf ihren Körper äußerten. Das Auge war freilich eingefallen und es lag eine schmachtende Schwerfälligkeit im Blick; aber die Wange war so natürlich gerundet, und die Züge so zart und schön, daß man die Abnahme der Muskeln nicht sehr bemerkte: und die strahlende Wärme der Gesichtsfarbe, und die Perlenreihen der Zähne gaben ihrem Ansehen noch immer eine trügerische Frische. Aber die Gestalt war schrecklich verwüstet, und die Hände, welche jetzt leicht gekreuzt über einander ruhten, schienen fast durchsichtig. Aus der höllischen Auswahl der Materialien, welche ihnen zu Gebote standen, halten die Giftmischer eine Mixtur gewählt, welche wirkt, indem sie ein beständiges Fieber unterhält; welches wenig Schmerz, wenig Leiden gibt, außer Müdigkeit und Durst, welches gleich der Schwindsucht verheert und doch den Arzt in Verlegenheit setzt, indem es wenig oder keines der gewöhnlichen Symptome dieser Krankheit zeigt. Viele der subtilsten Entdeckungen Dalibard's waren seinen entsetzlichen Erben nicht bekannt; ganz besonders eine höchst wunderbare Anwendung verderblicher Gase auf tödtliche Kunst, welche, nur Nachts und im Schlafe eingehaucht, rasch (doch nicht plötzlich) das Opfer tödten und wobei keine Kräuter oder Mineralien von Nöthen sind; dieses Geheimniß ist allerdings einem Hinderniß unterworfen; es ist nur anwendbar, wenn im Hause ein vollkommen Vertrauter thätig seyn kann, und es bleibt dem Leidenden, wenn die Fortsetzung vor den drei bis vier letzten Einathmungen unterbrochen wird, noch Hoffnung auf Genesung. Wahrscheinlich war es eine solche Vorrichtung der höhern Chemie, welche Lucretia bestanden, und der sie durch ihres Gatten Tod entgangen war.
Aber in dem Buch, welches in Lucretia's Hände gefallen, war genug, um einen so grausamen Geist zu verführen, zumal da die gegebenen Recepte scheinbar natürliche Krankheiten bewirkten; durch künstliche Mittel erzeugten sie die Krankheiten, welchen unsere menschliche Hinfälligkeit gewöhnlich preisgegeben ist; besonders Fieber in all' seinen Abstufungen, von dem leisen und verzehrenden bis zu dem schnell dahinraffenden. Hier waren ebenso Mittel geboten, welche das Blut nach dem Herzen treiben, welche Aneurisma erzeugen oder durch einen plötzlichen Krampf tödten; Vorschriften fanden sich, welche lehren, die Wirkungen von Zorn und Aufregung nachzuahmen, welche das Blut nach dem Gehirn jagen und das Lachen des Deliriums erregen, welche den Arzt über den Zusammenhang zwischen Seele und Körper zu räsonniren und seine Zuhörer zu warnen veranlassen, sich vor jeder plötzlichen Nervenerschütterung zu hüten. Wie wahrscheinlich mußt' es seyn, daß der Tod dieses Mädchens in solcher Weise auf das junge Blut dieses innig Liebenden wirkte! Indem man verrätherische Mineralien vermied und sich nur vegetabilischer Gifte bediente, welche jeder Untersuchung nach dem Tode spotten und die Unmacht von Sektionen beweisen, konnte man sich Straflosigkeit vor dem Gesetze versprechen. In solcher Weise hatte man die Mittel bereitet, um Helenens Tod minder verdächtig erscheinen zu lassen; er sollte langsam nahen, obwohl nicht zu langsam, und mit gehöriger Abwechselung, mit Stillstand und ohne gewöhnliche tödtliche Symptome, damit die Hoffnung bis zuletzt erhalten bliebe, wo ein plötzlicher Schauer, eine Vernachlässigung, dann die Schuld an dem plötzlichen Verscheiden des bedrohten Opfers tragen könnte. Auch den Trank hatte man bereits ausgewählt und bereitet, welcher dem Schmerze des trauernden Jünglings die natürlichen Paroxismen der Verzweiflung geben sollte, damit man so in ein nicht beargwohntes Grab die beiden Hindernisse stürzen könnte, welche zwischen dem Besitzthume Laughton und dem Sohne standen, in welchem Lucretia Clavering's verlorne Rechte wieder auflebten.
Obwohl der Oktober weit vorgerückt war, war der Tag doch so mild und warm wie im August. Allein Percival, welcher Helenens Gesicht mit der Besorgniß der Liebe beobachtet hatte, wollte das Sitzen nun abgebrochen wissen. Die Sonne stand tief und es konnte für Helenen nicht mehr heilsam seyn, sich der Luft ohne Bewegung auszusetzen. Er schlug vor, man solle durch den Garten gehen und Helene, die fröhlich aufstand, legte ihre Hand auf seinen Arm. Aber kaum war sie die Stufen der Terrasse hinabgestiegen, als sie plötzlich stehen blieb und schwer und schmerzlich Athem holte. Der Anfall war bald vorüber, und indem man langsam weiter ging, wandelte man, wenige Worte wechselnd, bei Lucretia vorüber, und war bald weit genug, um von den Cedern aus nicht mehr gesehen zu werden.
»Stütze Dich fester auf meinen Arm, Helene,« sagte Percival. »Es ist doch eigen, daß Dir die Veränderung der Luft so wenig, und unser Landarzt noch weniger genützt hat! Ich würde mich wirklich unglücklich fühlen, hätte mir nicht Simmons, aus welchen meine Mutter stets sehr viel hielt, die Versicherung gegeben, es sey nichts zu fürchten, denn diese Symptome seyen nur nervös. Sey munter, Helene! süße, liebe, sey munter!«
Helene erhob ihr Gesicht und versuchte zu lächeln, aber die Thränen standen ihr in den Augen; »es wäre bitter, jetzt sterben zu müssen, Percival!« sagte sie mit zitternder Stimme.
»Zu sterben! o! Helene! – Nein, wir dürfen uns nicht länger hier aufhalten – die Luft ist gewiß zu scharf für Dich. Vielleicht wird Deine Tante nach Italien gehen – warum wollen wir nicht alle dorthin und meine Mutter aufsuchen? Sie wird Dich pflegen, Helene, – und – und –« Er vermochte nicht weiter zu sprechen.
Helene drückte seinen Arm zärtlich. »Vergib, lieber Percival – nur in Momenten fühle ich mich so niedergeschlagen, wie jetzt; – nun ist es vorbei. Ach, ich sehne mich so sehr, Deine Mutter zu sehen! Wann erhältst Du Nachricht von ihr? Bist Du nicht zu sanguinisch? Bist Du wirklich gewiß, daß sie eine so niedrige Wahl billigen werde?«
»Zweifle nicht an ihrer Liebe, an ihrer Achtung gegen Dich,« antwortete Percival heiter, indem er hoffte, Helenens natürliche Besorgniß möge die verborgene Ursache ihrer Niedergeschlagenheit seyn. »Oft, wenn wir, unter diesen nämlichen Cedern, von der Zukunft sprachen, hat meine Mutter gesagt: Du hast keinen Grund, aus Ehrgeiz zu heirathen – vermähle Dich blos, um glücklich zu werden. – Sie hatte nie eine Tochter – zur Vergeltung all' ihrer Liebe will ich ihr diesen Segen geben.«
So redend, wandelten die Liebenden, bis die Sonne sank, und als sie dann nach dem Hause zurückkehrten, fanden sie, daß ihnen Varney und Madame Dalibard vorausgegangen waren. Diesen Abend gewann Helenens Geist all' seine Elasticität wieder; und Percival konnte sich noch einmal beim Silberton ihres Lachens beruhigen.
Als zu der gewöhnlichen frühen Stunde alle Uebrigen zur Ruhe gingen, begab sich Percival nach seinem Arbeitszimmer, um endlich wieder an Lady Marie und Kapitän Greville zu schreiben. Während er beschäftigt war, trat sein Kammerdiener ein, um zu berichten, daß er, der am Morgen ausgegangen war, um ein von der Weide verirrtes Pferd zu suchen, so eben mit dem Thiere zurückgekehrt sey, welches fast bis Southampton entflohen war.
»Das freut mich,« sagte Percival zerstreut, und setzte seinen Brief fort.
Der Diener zögerte noch, und Percival blickte verwundert auf.
»Erlauben Sie, Sir; Sie wünschten ausdrücklich, mit Beck zu reden, wenn er zurückkäme.«
»Ich – o, es ist wahr! Sag' ihm,er solle warten. Ich werde mit ihm sprechen – Du brauchst nicht aufzubleiben für mich – Beck soll auf die Klingel Acht haben.«
Der Diener ging. Percival setzte seinen Brief fort, und füllte Seite um Seite, Bogen um Bogen; und als endlich die Briefe, die nichts von dem enthielten, was er mitzutheilen wünschte, fertig waren, versank er in eine Träumerei, welche währte, bis die Kerzen niedergebrannt waren, und die Thurmuhr Eins schlug. Erstaunt über die Flucht der Zeit stand er auf, erinnerte sich erst jetzt wieder an Beck, und zog die Klingel.
Der ci-devant Kehrer zeigte sich in seiner schmucken Livree an der Thür.
»Beck, mein armer Bursch, ich bin beschämt, Dich so lange warten gelassen zu haben! aber ich erhielt diesen Morgen einen Brief, der Dich betrifft. Ich hab' ihn in meinem Schlafzimmer gelassen. Folge mir hinaus, ich muß Dich Einiges fragen.«
»Hoffentlich nichts gegen meinen Charakter, Ew. Gnaden,« sagte Beck schüchtern.
»O, nein!«
»Also wegen der Matratze?» rief Beck freudig.
»Auch das nicht« antwortete Percival lachend, während er eine Kerze anzündete, und Beck voraus die Treppe hinanstieg.
Percival hatte allerdings diesen Morgen einen Brief empfangen, der ihn sehr in Erstaunen setzte; er war von John Ardworth und lautete so:
»Mein lieber Percival, – Es scheint, daß Sie einen jungen Mann in Ihren Dienst genommen haben, den man nur unter dem Namen Beck kennt. Ist er jetzt bei Ihnen in Laughton? Ist dem so, so bitt' ich, ihn dort zu behalten, und es so einzurichten, daß er auf Verlangen sofort zu mir kommen kann, obwohl es wahrscheinlich ist, daß ich eher zu Ihnen komme. Jetzt, so seltsam es Ihnen scheinen mag, werd' ich in London durch Geschäfte zurückgehalten, die mit dieser wichtigen Person in Zusammenhang stehen.
Wollen Sie ihm wohl inzwischen – in gleichgültigem Tone – folgende Fragen vorlegen:
Erstens: wie er in Besitz einer gewissen Kinderklapper gekommen, die er im Hause einer gewissen Becky Carruthers hier zurückgelassen?
Zweitens: ob er ein Zeichen an seinem Arme kennt, und ist dies der Fall, ob er es beschreiben will?
Drittens: Wie lange er die besagte Becky Carruthers gekannt hat?
Viertens: Ob er sie für ehrlich und zuverlässig hält?
Setzen Sie seine Antworten auf, und senden mir selbige. Ich kann im Voraus vermuthen, welcher Art sie seyn werden; aber ich wünsche, daß Sie die Fragen vorlegen, damit ich urtheilen kann, ob ein Widerspruch zwischen seinen Angaben und denen der Mrs. Carruthers stattfindet. Ich habe Ihnen viel zu sagen, und bin begierig, Ihre freundlichen Glückwünsche zu einem Ereigniß zu empfangen, welches mich glücklicher gemacht hat, als der Succeß meines Büchleins. Grüßen Sie Helenen recht herzlich! In der Hoffnung, Sie bald zu sehen, stets der Ihrige.
P. S. Sagen Sie kein Wort vom Inhalte dieses Briefes der Madame Dalibard, oder Helenen, oder irgend Jemand, außer Beck. Schärfen Sie ihm dieselbe Vorsicht ein. Wenn Sie seiner Verschwiegenheit nicht trauen können, so schicken Sie ihn nach der Stadt.«
Als der Postbote diesen Brief brachte, war Beck bereits ausgegangen, und nachdem er sich mit vagen Vermuthungen geplagt, war Percival zu sehr mit der Besorgniß um Helenen beschäftigt gewesen, als daß er wieder an jenen Gegenstand hätte denken können.
Jetzt, wo sein Gedächtniß in dieser Hinsicht wieder angefrischt war, nahm er Schreibmaterial zur Hand, stellte die Fragen der Reihe nach, und zeichnete die Antworten nach Verlangen auf, während er über Becks furchtsame Neugier lächelte, der gern gewußt hätte, wer sich wohl um solche Sachen kümmern könne« Da Percival, gerade der Furcht wegen, seiner Verschwiegenheit traute, ließ er seinen Stallknecht zur Ruhe gehen.
Beck war vorher noch nie in diesem Theile des Hauses gewesen, und als er aus den Corridor kam, ward er irre und wußte nicht, wohin er sich wenden sollte, ob links oder rechts. Er hatte kein Licht bei sich: der Mond schien jedoch hell durch ein großes in der Decke angebrachtes Fenster. Dieses Licht konnte ihm indeß den Weg nicht zeigen. Während er, sehr verlegen, still stand und nicht einmal sicher war, ob er die Thür des so eben verlassenen Zimmers wieder erkennen würde, wofern er wagen wollte, seinen jungen Herrn um einen Faden durch dieses Labyrinth zu bitten, ward er unaussprechlich erschreckt und entsetzt über eine plötzliche Erscheinung. Eine Thür an dem einen Ende des Corridors öffnete sich geräuschlos und eine Gestalt, anfangs kaum unterscheidbar, denn sie war vom Kopf bis zum Fuß in Schwarz gehüllt, so daß das Ganze kaum den Umriß einer menschlichen Gestalt zeigte, schlich heraus. Beck rieb sich die Augen und schlich mechanisch in die Nische einer der Thüren auf dem Gange. Die Gestalt bewegte sich einige Schritte nach ihm zu; und welche Worte können sein Erstaunen schildern, als er so aufrecht und in vollem Besitz physischer Kraft und Bewegung die gelähmte Gebrechliche sah, deren Rollstuhl er so oft im Garten gesehen und deren unglücklicher Zustand täglich in der Gesindestube besprochen wurde. Ja, der Mond von oben schien voll auf dieses Gesicht, welches, einmal gesehen, nicht wieder zu verkennen war. Und es erschien unnatürlich streng und blaß im Gegensatz zu dem Schwarz der seltsamen Hülle und bei diesem melancholischen Lichte betrachtet. Wäre wirklich ein Gespenst aus dem Grabe gekommen, es hätte ihm kaum mehr Entsetzen einflößen können. Madame Dalibard sah den unwillkürlichen Spion nicht; denn die Nische, in die er geschlichen, befand sich auf der vom Mondschatten bedeckten Wandseite. Mit raschem Schritt ging sie in ein anderes Zimmer, dem verlassenen gegenüber, dessen Thür weit offen stand, und verschwand geräuschlos, wie sie erschienen war.
Es währte indeß mehrere Minuten, bis sich Beck von seinem Staunen und Schrecken genügend erholt hatte, um aus seinem Versteck hervorzutauchen. Dabei machte er in der Verzweiflung den Weg, den er gekommen, wieder zurück. Dies brachte ihn indeß zum Glück auf einmal an die Haupttreppe und dort entsetzten ihn die blutrothen Flecken, welche die bunten Fenster auf den Steinboden warfen, nicht viel weniger, als der Anblick, über welchen sich noch immer sein Haar sträubte. Er vermochte kaum zu athmen, bis er seine eigene kleine Schlafstelle erreicht hatte, wo er dann, während allmälig seine Besinnung zurückkehrte, fortfuhr, über das Erblickte zu grübeln und nachzudenken, und zwar mit jener Neigung, die Erscheinungen auf's Schlimmste zu deuten, was natürlich war, in Folge seiner langen Bekanntschaft mit betrügerischen Täuschungen und Verlarvungen der Verbrecher.
Wir haben gesehen, daß Beck im Anfang sehr überrascht war, als Gast in seines Herren Hause den schmuckgekleideten, schnurrbärtigen Besucher Grabman's wiederzuerkennen, der es gewagt hatte, den Auferstehungsmann in seiner Höhle zu wecken, und der so furchtlos heimisch an einem Orte war, wo, wie Beck gar wohl merkte, ehrliche Leute nie eintraten, außer wenn sie durch ihre Armuth geschützt waren. Er wußte, daß zu Grabman gewöhnlich nur Leute jener zweideutigen Classe kamen, die das Gesetz nicht suchen, sondern demselben entgehen wollen; und als einen solchen hatte er bei sich selbst natürlich den Gast beurtheilt, dem er die Treppe hinausleuchtete, und der in Kleidung und Miene so ungewöhnlich zierlich und vornehm war. Ehrlich, wie Beck es selbst war, würde er deßwegen, weil er ihn als Bekannten Grabman's gesehen, nicht ungewöhnlich schlimmer als von andern derartigen Leuten gedacht haben, hätte er ihn nur nicht jetzt in der Hülle eines achtbaren Gentleman erblickt. Die Liebe des dankbaren Geschöpfs zu seinem jungen Wohlthäter erweckte sein Gewissen aus seiner Lethargie und machte ihn schaudern, daß das Verbrechen, welches er zuvor mit Gleichmuth betrachtet, Eingang in ein so unbescholtenes Haus finden sollte. Auch St. John's Jugend und daraus folgende Unerfahrenheit erfüllten ihn mit Mißtrauen – wie leicht mußte solche Güte zu bethören seyn!
Beck hatte es sich sehr angelegen seyn lassen, in der Gesindestube Alles über Varney's Thun und Treiben zu erfahren. Eingedenk der klugen Bemerkungen seiner Pflegemutter, wie leicht die Betrüger junge reiche Männer zu ihrer Beute machen, fühlte er sich fest überzeugt, daß Varney einer von jener saubern Zunft sey; allein er ward irre, als er fand, daß Karten und Würfel nie zum Vorschein kamen, und seine Furcht war noch mehr beseitigt worden, als er sah, daß Varney der besondere Freund und Vertraute von St. John's eigener Verwandten, der Madame Dalibard, zu seyn schien. Aber nun erfüllte ihn gerade diese Vertraulichkeit mit Schrecken und Argwohn. Paarte er das Bild Varney's als Gast Grabman's mit der Entdeckung, daß Madame Dalibard eine ihm gar wohl bekannte Betrügerei, als vorgebliche Gebrechliche, spielte – so konnte er nicht umhin zu glauben, daß ein seinem jungen Herrn gefährlicher Anschlag im Werke sey; er blieb unentschlossen, ob er seinen Argwohn und seine Entdeckungen St. John vertrauen, oder ob er erst alle Wachsamkeit anstrengen sollte, um das Vermuthete zu bestätigen. Jene scharfblickende Schlauheit, welche die verachteten Armen, fast zur Selbstvertheidigung, erwerben, und welche durch die Unterdrückung edlerer Eigenschaften eher erhöht als vermindert wird, ließ Beck einiges Vertrauen zu dem Erfolge der Wache empfinden, die er zu halten beschloß, während sie ihm zugleich die Besorgniß eingab, daß eine voreilige Entdeckung bei einem so jungen Herrn nur seine eigene Niederlage, vielleicht seine Entlassung zur Folge haben konnte. Er beschloß daher, seine Zeit zu erwarten.
Die dankbare Neigung, die dieses armen Wesens Charakter schmückte, ließ ihn für den Augenblick so wenig an sich selbst denken, daß er rein vergessen hatte, was außerdem wohl seinen Muthmaßungen Stoff gegeben haben würde – nämlich den Brief, den St. John erhalten, und die seltsamen Fragen, die ihm sein Herr vorgelegt hatte; als er aber endlich in einen unruhigen Schlaf fiel, vermischten sich alle die Erscheinungen, die ihn wachend beunruhigt, verworren, wie zu einem düstern und entsetzlichen Gemälde. Er glaubte in seiner alten Kammer in St. Giles' zu seyn; der Leichenräuber rang mit Varney um seinen Körper, während er selber, kraftlos auf dem Lager liegend, träumte, er werde so lange sicher seyn, als er seine Kinderklapper, die er an's Herz gedrückt hielt, als Talisman bewahren könnte. – Plötzlich beugte sich in der formlosen schwarzen Hülle, in welcher er sie gesehen, Madame Dalibard über ihn mit ihrem ernsten, farblosen Gesicht und entrang ihm seinen Talisman. Darauf gab Varney, laut lachend, den Kampf mit dem schrecklichen Gegner auf, und der Leichenräuber ergriff ihn mit seinen tödtlichen Armen.