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Nachmittags, am folgenden Tage, saß ein ältlicher Gentleman in einem Kaffeehaus zu Southampton und schrieb einen Brief, während der Kellner mit dem Drath einer Flasche beschäftigt war, der den stürmischen Geist des Schweppe'schen Sodawassers jetzt noch gefangen hielt. In dem ganzen Wesen, ja selbst in dem Tone des alten Herrn lag Etwas, das Achtung einflößte, und der Kellner hatte ihm schon von allen übrigen Tischen die neuesten Zeitungen ungebeten gebracht. Er war mit dem Paketboot erst eben von Havre eingetroffen, aber selbst die Zeitungen übten auf ihn nicht die Anziehungskraft aus, die sie sonst gewöhnlich für gerade in ihr Vaterland zurückkehrende Engländer besitzen, die dann oft zu ihrem Erstaunen finden, wie in diesem, trotz ihrer Abwesenheit, Alles beim Alten geblieben ist.
Wir machen von dem uns zustehenden Privilegium Gebrauch und sehen, während er schreibt, über seine Schulter.
»Hier bin ich wieder, in Southampton, meine theure Lady Marie, und nur eine kurze Strecke von der alten Halle entfernt. Eines von Galignanis Blättern Giovanni Antonio Galignani (1757-1821) war ein italienischer Zeitungsverleger. Nachdem er einige Zeit in London gelebt hatte, zog er nach Paris, wo er im Jahr 1800 eine englische Bibliothek und 1808 eine monatliche Publikation, das ›Repertorium der englischen Literatur‹, gründete. Im Jahr 1814 begann er mit der Herausgabe des Galignani's Messenger, einer englischsprachigen Tageszeitung. Nach seinem Tod 1821 setzten seine beiden Söhne die Herausgabe der Zeitung fort. Unter ihrer Leitung genoss sie ein hohes Ansehen wegen ihrer globale Berichterstattung und der Betonung fortschrittlicher Neuigkeiten., das ich zwischen Marseille und Paris fand, benachrichtete mich unter » fashionable movements,« daß sich Percival St. John, Esq. nach seinem Sitz in Laughton verfügt hätte. Meiner alten Taktik also gemäß, stets gegen das Hauptquartier vorzurücken, brach ich direkt nach Havre auf, anstatt von Calais aus über den Kanal zu gehen, und werde nun sehr wahrscheinlich unsern jungen Gentleman damit beschäftigt finden, Hasen und Hühner umzubringen. Sehen Sie– es ist ein ganz gutes Zeichen, daß er sich von London trennen kann. Seyn Sie aber auch guten Muths, meine theure Freundin! Sollte Percival wirklich düpirt und betrogen seyn – wie alle Mütter anzunehmen geneigt sind – so verlassen Sie sich auf einen alten Soldaten, daß er den Feind vertreibt oder die Kriegslist entdeckt; ist aber das Mädchen – wie er es beschreibt– unschuldig, natürlich und seiner Neigung werth – ei, dann schlage ich mich, mit Ihrem eigenen guten Herzen, auf seine Seite. Ich würde nie die Verantwortung auf mich laden mögen, eines Mannes ganze Laufbahn zu zerstören, indem ich mich seiner Neigung entgegenwürfe; sonst stimme ich aber ganz mit Ihnen überein.
In wenigen Stunden werde ich mich in Ihrer und unseres wackeren Knaben lieben Gesellschaft befinden, und sein ganzes Herz wird dann so ehrlich und offen vor uns liegen, als ob es noch unter seiner blauen Seecadetenuniform schlüge. – In ein oder zwei Tagen soll er mich auch zur Stadt bringen und dem ganzen Neste dort vorstellen. Das Uebrige werde ich dann rapportiren. Adieu bis dahin. Meine besten Grüße Ihrer armen Schwester. – Ich denke, wir werden einen milden Winter bekommen – Kein einziges Warnungszeichen bis jetzt vom alten Rheumatismus.
Noch immer Ihr alter, ergebener Freund und preux chevalier
St. Greville.«
Der Kapitän hatte seinen Brief beendet, schlürfte sein Sodawasser und siegelte eben das Couvert, als er eine Postkutsche draußen rollen hörte. Er glaubte erst, daß es die von ihm selbst bestellte sey und ging an das offene Fenster, es waren aber Fremde, die nur hier anhielten, um die Pferde zu wechseln. Zu seinem Erstaunen, ja vielleicht zu seinem Verdruß – denn der Kapitän hatte nicht darauf gerechnet, Fremde in der Halle zu finden – hörte er, wie sich Einer der Reisenden nach der Entfernung bis Laughton erkundigte. Die Züge des Fragenden waren ihm nicht bekannt. Indem wir aber den Kapitän verlassen, der sich ohne genügende Auskunft zu erhalten, bei dem Wirth nach den Reisenden erkundigte und dann seinen eigenen Wagen besorgte, begleiten wir indessen die Fremden auf ihrem Wege nach Laughton.
Es waren nur zwei – die gehörige Ladung für eine Postchaise und beides Männer; der Aeltere in mittlerem Alter etwa, dem jedoch seine Thätigkeit im Leben schon das Ansehen eines Mannes gegeben hatte, den man ältlich nennen konnte. In seinem schnellen, dunklen Auge lag aber noch genug Kraft, Regsamkeit und jene ewig junge Jugendfrische des Charakters. der in so manchen glücklichen Constitutionen Jahren und Sorgen zu trotzen scheint und sich selbst hier, in dem engen Umfang des Wagens, hinlänglich durch lebhaftes Mienenspiel und, freilich in dem Raume beschränkten Gesticulationen kund gab. Der Jüngere schien ernster und ruhiger und lehnte sich mit unterschlagenen Armen in seine Ecke zurück, wo er mit achtungsvoller Aufmerksamkeit den Worten seines Gefährten lauschte.
»Dr. Johnson Samuel Johnson (1709-1784), englischer Gelehrter, Lexikograph, Schriftsteller, Dichter und Kritiker. Er ist nach William Shakespeare der meistzitierte englische Autor und war im 18. Jh. die wichtigste Person im literarischen Leben. Er wurde wegen seiner Gelehrsamkeit meist Dr. Johnson genannt. Der Titel wurde ihm erst 1765 und 1775, beide Male ehrenhalber, zuerkannt. hat wahrhaftig recht – eine englische Postchaise – ordentlich gefahren – gewährt den größten Genuß, auf jeden Fall mehr als ein Palankin: › post equitem sedet atra cura;‹ – kann sich nur auf solche erbärmliche Kästen beziehen, die der alte Horaz kannte. Die schwarze Sorge sitzt sicherlich nicht hinter unseren fröhlichen englischen Postwägen; wie mein Junge?« Und während er dies sprach, hatte der alte Gentleman zweimal das Wagenfenster niedergelassen und auch zweimal wieder in die Höhe geschoben.
»Und dennoch,« fuhr er fort, ohne die kurze, gutlaunige Erwiederung seines Gefährten weiter zu beachten, »und dennoch ist das hier ein ängstliches Geschäft, das wir verfolgen. Mein Gewissen läßt mich gar nicht so recht ordentlich ruhen. Des armen Braddell's Vorschriften waren ganz bestimmt – und doch gehorche ich ihnen nicht. Es geschieht auf Deine Verantwortung – John!«
»Und ich nehme diese auch ohne Zögern auf mich; alle Beweggründe für solche strenge Trennung müssen jetzt geschwunden seyn; und ist es denn auch nicht Strafe genug, zu finden, daß der gehoffte Sohn –«
»Arme Frau.« unterbrach ihn der ältliche Herr, in dem wir jetzt anfangen, den soi-disant Mr. Tomkins zu erkennen – »wahr – wirklich – nur zu wahr. Wie deutlich erinnere ich mich noch des Eindrucks, den Lucretia Clavering zuerst auf mich machte – und wenn ich sie mir jetzt denken soll, so elend – so unglücklich – Beim Jupiter, Du hast recht, Sir – fahr' zu, Postillon– schnell – schnell.«
Ein kurzes Schweigen erfolgte.
Der ältliche Gentleman legte seine Hand plötzlich auf seines Gefährten Arm.
»Was Du doch für einen prächtigen Scharfsinn – für eine unverwüstliche Geduld in dieser Sache gezeigt hast; was hätt' ich in der ganzen Geschichte ohne Dich anfangen können? Wie oft hat diese geschwätzige Mrs. Mivers mich mit Becky Carruthers und der Koralle und St. Pauls ennuyirt und nicht eine Spur von Verdacht habe ich geschöpft – ein einziges Wort war für Dich genug. Und dann auch noch dieser herzlosen alten Joplin von Platz zu Platz nachzuspüren, bis Du sie bei Mr. Braddell selbst in Diensten fandest. – Wunderbar! Ah, Du wirst Deinem Stand und Deinem Vaterland einmal Ehre machen. Für welch' hartherzigen Burschen mußt Du mich nur halten, daß ich Dich so lange vernachlässigt habe!«
»Mein theurer Vater,« sagte John Ardworth zärtlich – »Ihre jetzige Liebe entschädigt mich für Alles; und sollte ich mich nicht überhaupt schon deshalb freuen, die Erzählung von einer Mutter Schande nicht eher gehört zu haben, bis ich sie an dem Herzen eines Vaters halb vergessen konnte?«
»John,« sagte der ältere Ardworth mit verstärkter Stimme – »ich sollte eigentlich Sackleinwand mein ganzes Lebenlang tragen, daß ich Dir eine solche Mutter gegeben habe. Wenn ich auch daran denke, was ich schon deshalb ausgestanden, in allen Geldangelegenheiten so leichtsinnig gewesen zu seyn, ( irritamenta malorum Die Anreize des Bösen. in der That.) so habe ich nur den einen Trost, daß mein braver, geduldiger Sohn frei von meinem Laster ist. Du glaubst aber gar nicht, was ich für ein rechtschaffener ehrbarer Bursche in Deinem Alter war, und dennoch hatte ich nur zu recht, wenn ich zu meinem armen Freund William Mainwaring eines Tages zu Laughton sagte (ich erinnere mich noch recht gut daran): ›Vertraue mir Alles in der Welt an, nur keine halbe Guinee.‹ Der Fehler war es auch, der mich in schlechte Gesellschaft und in Berührung mit der Wirthstochter zu Limerick brachte. Ich verliebte mich und ich heirathete (denn trotz allen meinen Fehlern war ich nie ein Verführer, John). Meine Heirath machte ich übrigens nicht bekannt, weshalb auch? meine Verwandten hatten sich längst von mir losgesagt. Da wurdest du geboren und ich – ein gehetzter, armer Teufel, wie ich war, vergaß Alles an Deiner Wiege.
Da, inmitten meiner Sorgen, verließ mich das undankbare Weib, da – da war es, wo mich der Verdacht erfaßte, daß es nicht mein eigner Sohn wäre, den ich geküßt und gesegnet. Ach, John, hätte ich Dich sonst so verlassen können? in Deiner Jugend sahst Du auch nur Deiner Mutter ähnlich. Später, als mich der Tod der Ehebrecherin wieder frei machte, Jahre später, als ich in Indien zum zweiten Male heirathete, – neue Banden knüpfte, wurde ich noch immer härter gegen Dich. Ich entschuldigte mich damals damit, daß Du auf jeden Fall gut versorgt seyst und einen bessern Erzieher hättest, als ich Dir je seyn konnte; als aber, durch so wunderbaren Zufall, derselbe Priester, bei dem Deine Mutter gebeichtet (sie war Katholikin), nach Indien kam und (denn er kannte mich von Limerick her) die Veränderung in meinen Zügen bemerkte, erfüllte er das der Sterbenden gegebene Versprechen und versicherte mich, daß Du mein Sohn wärest; oh, John, du kannst mir's glauben, da kehrte ich auf Flügeln der Reue nach England zurück. Ob ich Dich liebe, Junge? – in Madras habe ich drei junge und schöne Kinder zurückgelassen, deren Mutter – die jetzt im Himmel ist – stets brav und treu war, Du aber, John, bist mir, bei meiner Seele, lieber und theurer, als sie Alle mit einander.«
Des Vaters Haupt sank bei diesen Worten an die Brust des Sohnes; ein paar Thränen aber schnell aus den Augen streichend, fuhr er fort:
»Ach, warum ließ mich nicht Braddell, wie ich ihm vorschlug, denselben Erzieher für seinen Sohn wählen, als für den meinigen; jene Bigotterie saß ihm aber im Nacken; ein Prediger der hohen Kirche – das war schlimmer als ein Atheist. Mir blieb keine andere Wahl, als das Dach dieser Heuchlerin. Aber ich hätte nach England kommen und Gläubigern und Allem trotzen sollen, als ich von dem Verlust des Kindes hörte – doch ich verdiente Geld – ich verdiente Geld – um mein Geld verschwenden wieder gut zu machen und – und – Nun, Reue kommt zu spät und – da – wahrhaftig – da ist die alte Halle – der Park – die alten Bäume – Armer Sir Miles!«
Indeß war in Laughton Alles in größter Aufregung und Verwirrung. Früh am Morgen hatte eines der Mädchen Helenen in gänzlich bewußtlosem Zustande gefunden, und aus diesem erwachte sie nur mit krampfhaften Schmerzen in der Gegend des Herzens. Madame Dalibard bezeigte, als sie ihrer Nichte Unwohlseyn erfuhr, große Angst und Sorge. Varney selbst ritt fort, Dr. Simmons, den gewöhnlichen Arzt, aufzusuchen, dieser aber machte, als er endlich kam, gar kein Geheimniß aus seinen wirklich das Schlimmste kündenden Befürchtungen. Die Symptome waren unbezweifelt die der angina pectoris. Er wandte natürlich die gewöhnlichen Mittel an und bewirkte auch dadurch eine Linderung der Schmerzen, was kurze Hoffnung erweckte; noch vor Nachmittag aber kehrten diese krampfhaften Anfälle mit erneuter Heftigkeit zurück. Madame Dalibard besuchte im Anfang das Krankenzimmer nicht, nach kurzer, geheimer Berathung mit Varney aber, der ihr, wie man vermuthete, den gefährlichen Stand der Krankheit mittheilte, ließ sie sich in ihrem Stuhl an das Bett ihrer Nichte fahren, und ihr leichenblasses Antlitz mit dem starren Schweigen, was sie beobachtete und das nur dann und wann durch flüchtige, ängstlich vorgestoßene Fragen unterbrochen wurde, wenn ihr Auge in fieberhafter Aufregung den Bewegungen des Arztes folgte, ließ zu Zeiten die Umstehenden wohl glauben, daß sie ganz Theil an dem Schmerz und der Angst nähme, die Alle für die immer schwächer werdende Patientin empfanden.
Varney ging draußen im Corridor auf und ab und trat wohl dann und wann einen Augenblick in das Krankenzimmer, kehrte aber sehr bald wieder zu seinem schildwachenartigen Marsch zurück. Die Dienerschaft schlich durch Gallerie, Halle und Kammer und blieb hier und da, in Gruppen versammelt, flüsternd stehen; die ganze stattliche Wirthschaft des Hauses war desorganisirt, und Mitleiden für die arme Helene wie für den unglücklichen Percival ergriff selbst den niedrigsten Diener der Halle. Selbst die Küchenjungen versammelten sich oben an der Treppe, oder krochen bis zum Eingang des Corridors. Pferde standen gesattelt und Jockeys waren zum Aufbruch gerüstet, im Fall neuer Rath gesucht oder andere Medicinen geschafft werden sollten Indessen wanderte, mitten zwischen dieser Verwirrung, Beck, der am frühen Morgen nach einem andern Arzte (den er leider nicht zu Hause traf) gesandt war, durch den Corridor hin und her, oder blieb – selbst von Varney unbemerkt – neben der Kammerthür stehen. Endlich – spät Nachmittags – hielt Varney eins von den in das Krankenzimmer eilenden Mädchen auf und sagte:
»Bitten Sie die arme Madame Dalibard, einen Augenblick herauszukommen, die Scene greift sie zu sehr an. Mir ist gerade ein neues Mittel eingefallen – bitte, lassen Sie sie in ihr eigenes Zimmer zurückkehren; ich will dort mit ihr sprechen!«
Das Mädchen nickte mit dem Kopf und trat ein. Varney, der sich jetzt umdrehte, bemerkte zum ersten Mal Beck und sagte mürrisch:
»Was hast Du hier zu thun? warte unten, bis man nach Dir fragt.«
Beck zupfte an seiner Locke vorn und zog sich zurück, aber nicht in der Richtung der Haupttreppe, sondern nach der Hinterstiege zu, die gewöhnlich nur von der Dienerschaft benutzt wurde, und die er sich schon, mit rascher Ortskenntniß, gemerkt hatte. Auf dem Wege dorthin mußte er an Lucretia's Zimmer vorüber, dessen Thür angelehnt war.
Varney drehte ihm den Rücken zu; Beck athmete schwer aus – sah sich um und – kroch hinein. Im nächsten Augenblick hatte er sich hinter den Falten der hängenden Tapete verborgen. Bald darauf wurde der Stuhl, in dem Madame Dalibard (ungewöhnlich aufrecht und mit festem, entschlossenem Ausdruck in den Zügen) saß, durch Varney von selbst in das Zimmer gezogen.
Nachdem er die Thür zugemacht und den Schlüssel im Schlosse umgedreht hatte, sagte Gabriel mit leiser Stimme und augenscheinlich unterdrückter Leidenschaft:
»Ist Ihr Muth dahin? ist Ihr Geist irre? ich habe Sie in entsetzlicheren Prüfungen gesehen als die jetzige – bei Fällen, wo weniger zu gewinnen war, als gerade hier, und nie – nie haben Sie sich so gezeigt.«
Lucretia's Lippen bewegten sich, und sie hob die Hand mit zitternden Fingern an die Stirn, als ob sie einen Flecken von dort abwischen wollte – dann murmelte sie –
»Es ist der Kuß hier – der Kuß brennt –«
Dann aber, sich selbst bezwingend und während sie einen Theil ihrer alten Ruhe und Besonnenheit wieder erlangte, fuhr sie fort:
»Was klagst Du? die Arbeit ist gethan – sie küßte mich gestern Abend, aber ich las ihres Vaters Erklärung von Glauben und Liebe wieder – ich las noch einmal den Brief, der die Entdeckung meines Sohnes ankündigt und mischte das Gift mit fester Hand. Ich stahl mich hinein – das Licht kam von Gottes Himmel – es war Gottes Auge. Und der Hund heulte, als ob sich ein Bewohner des Grabes – ein Feind einer andern Welt nahe. Und sie fuhr aus ihrem Schlafe auf – und – doch was thut's! – heute Nacht wird sie gesunder schlafen.«
»Ermuntern Sie sich – Ermuntern Sie sich!« rief Varney und erfaßte mit Heftigkeit ihren Arm – »Bedenken Sie, wie viel uns noch zu thun bleibt – auf was wir uns Alles vorbereiten müssen. Percival's Rückkehr – vielleicht die Rückkehr dieses Greville ebenfalls – Percival, geben Sie mir für ihn den Stoff! Den Schlüssel – den Schlüssel!« –
»Genug des Mordes für einen Tag!«
»Dann ist der Mord so unnütz für Sie, wie für mich geschehen. Versäumen wir die erste Gelegenheit von des Knaben plötzlichem Gram und Schmerz, welche andere wird sich dann so schnell bieten, die seinen Tod wahrscheinlich machte? Wollen Sie Ihren Sohn, den Sie bald in Ihre Arme schließen können – als Bettler oder als Lord von Laughton begrüßen?«
Lucretia erhob sich bei diesen Worten rasch von ihrem Sitze – schritt zu dem Sekretär – schloß ihn auf – zog das verhängnißvolle Kästchen vor, öffnete es – kehrte zu dem Tisch zurück, setzte sich ruhig wieder und bedeutete dann Varney ebenfalls neben ihr Platz zu nehmen. Hiernach bogen sie sich eine kurze Zeit schweigend über den Inhalt.
Als ihre Wahl getroffen war und Varney das, was er bedurfte, an seinem Körper verborgen hatte, näherte er sich dem im Kamin lodernden Feuer und blies die Holzkohlen zu neuen Flammen an.
»Und nun,« sagte er mit seinem eisigen, ironischen Lächeln, »nun können wir uns vielleicht für immer dieser nützlichen Instrumente entledigen. Walter Ardworth, indem er selbst Ihren Sohn in Ihre Arme führt, macht uns freilich von eben dieser Liebe abhängig und ich mag daher vielleicht wenig oder gar nichts durch eine Erbfolge gewinnen, wegen der ich schon mein Leben gewagt und selbst jetzt noch im Begriff bin, es wieder zu wagen; dennoch vertraue ich dem Einflusse, den Sie bis jetzt nie verfehlten, über Andere zu gewinnen. Ich halte es für gewiß, daß wir, sobald diese Hallen erst einmal Vincent Braddell's Eigenthum sind, auch keines Geldes, noch dieser bleichen Stoffe mehr bedürfen. So fahret denn hin, Ihr stummen Zeugen unserer Thaten – Ihr Elemente, die wir unserem Willen gebeugt haben. Kein Gift soll in unseren Händen gefunden werden. Feuer vernichte Euch – Ihr Kinder der Vernichtung!«
Und während er sprach, warf er den Inhalt des Kästchens in's Kamin und setzte seinen Haken auf die Scheite. Eine bläuliche Flamme schoß empor – zerstob in tausend Funken und verlöschte dann. Lucretia beobachtete, ohne ein Wort zu äußern, jede seiner Bewegungen.
Als er zu dem Tische zurückkam, fühlte Varney unter seinem Fuße etwas Hartes, bückte sich und hob den Ring auf, der schon früher, als zu den fürchterlichen Schätzen des Kästchens gehörig, beschrieben ist, und der, als er den Inhalt des Kästchens in die Flamme leerte, fast bis zu Lucretiens Füßen gerollt war.
»Der wird uns wenigstens nicht verrathen,« sagte er, – »es wäre auch Schade darum, ein solches für uns unersetzliches Meisterstück der Kunst zu zerstören.«
»Ja ja,« erwiederte Lucretia zerstreut – »und – sollten wir entdeckt werden, so– könnte er von dem Galgen retten. Gib mir den Ring.«
»Eure Rettung, die fürchterlicher als Entdeckung selber wäre,« sagte Varney – »hüten Sie sich vor solchen Gedanken!« – und Lucretia nahm den Ring aus seiner Hand und steckte ihn an ihren Finger.
»Jetzt will ich Sie auf kurze Zeit verlassen, daß Sie sich sammeln – daß Ihre Züge wieder die gewöhnliche Ruhe annehmen können. Ich selbst werde in Helenens Zimmer zurückkehren und dort betreiben, daß noch ein anderer Arzt von Southampton geholt werde.«
Lucretia – die Augen fest auf den Boden geheftet – achtete seiner nicht, als er das Zimmer verließ. So still und regungslos war ihre ganze Gestalt, so leise selbst ihr Athmen, daß der unsichtbare Zeuge hinter dem Vorhange, der theils erstarrt über das Ungeheuere, was er gehört und dessen allgemeinen Inhalt er unmöglich mißverstehen konnte, theils selbst ängstlich zu entfliehen und seinen lieben Herrn vor dem seiner harrenden Schicksal zu bewahren es wagte, an der Wand hin bis zur Schwelle zu schleichen. Dort schob er sachte die Falten zurück und blickte heraus – sah, wie sie noch mit niedergeschlagenen Augen da saß, trat vor, und legte seine Hand auf die Klinke.
In dem Moment erblickte ihn Lucretia – sie hatte bemerkt, wie er die Tapete verließ – ihre Augen begegneten sich – die seinigen hafteten fest an den ihren, wie die des von der Schlange bezauberten Vogels. Jetzt kehrte aber auch ihre ganze Kraft, ihre ganze Geistesgegenwart zurück – mit Gedankenschnelle erkannte sie die Gefahr, in der sie sich befand. Ehe er nur eine Ahnung davon hatte, stand sie an seiner Seite – ihre Hand auf der seinen – ihre Stimme in seinem Ohr.
»Thue keinen Schritt – wage keinen Laut – oder Du bist –«
Beck ließ sie nicht ausreden; mit einer Gewalt, die mehr der Furcht als dem Muthe entsprang, schlug er sie zu Boden, aber sie ließ nicht von ihm und wenn auch für den Augenblick durch die Stärke des Schlags der Sprache beraubt, so gewann doch der Ausdruck ihrer Züge eine unbeschreibliche Wildheit und Grausamkeit Er versuchte mit aller Kraft sie abzuschütteln, als es ihm aber gelang, berührte sie mit der anderen Hand leise den Arm, der sie geschlagen, und er fühlte einen scharfen Schmerz, als ob sie ihre Nägel in sein Fleisch gegraben. Das reizte ihn zu neuer Wuth; er entrang sich ihrem Griffe, zugleich aber zuckte um ihre Lippen ein höhnisch triumphirendes Lächeln, und Beck, der sie von der Schwelle, vor der sie lag, zurückstieß, öffnete die Thür, eilte hinaus und entsprang. Sein einzig Streben ging nun dahin, das Haus des Pelops Nach dem griechischen Mythos verfluchte Myrtilos, von Pelops ins Meer gestürzt, im Sterben seinen Mörder und dessen gesamte Nachkommenschaft. Von dieser Freveltat her schreibt sich der Fluch, der fortan auf dem Haus des Pelops ruhte. – dieser menschlichen Teufel, die selbst den Mord in das eigene Lager tragen, zu fliehen, um seinen Herrn zu suchen und ihn zu warnen und zu schützen – das war der einzige Gedanke, der ihm das wirre, entsetzte Hirn durchzuckte.
Vier oder fünf Minuten mochten es gewesen seyn, die Lucretia halb betäubt – halb bewußtlos auf der Diele lag, denn nicht allein der heftige Schlag, wie die Anstrengung des Ringens, sondern auch die jetzt durch das erst kürzlich verübte Verbrechen gereizten Nerven und die so plötzlich aufsteigende Furcht vor Entdeckung hatten ihren sonst so starken Geist und Körper erstarrt – da trat Varney wieder ein.
»Die Krämpfe haben nachgelassen,« sagte er mit hohler Stimme und bemerkte noch nicht einmal die zu seinen Füßen ausgestreckte Gestalt. Varney's Schritt, Varney's Stimme aber hatte auch schon Lucretia's Sinne wieder zu dem vollen Bewußtseyn und dem Gefühl ihrer Gefahr erweckt. Indem sie, wenn auch mit Anstrengung, aufstand, erzählte sie schnell, was vorgegangen.
»Fliege! fliege!« stöhnte sie, als sie geendet hatte »fliege und suche ihn nur wenigstens die nächsten Stunden aufzuhalten, ihn irgendwo zu verbergen. Bewahre nur bis dann sein Schweigen, das Uebrige habe ich selbst schon gethan –« und ihr Finger deutete auf den fürchterlichen Ring.
Varney wartete auf keine weiteren Worte – er eilte hinaus, und ohne weiteres Zögern nach den Ställen hinunter. Sein Scharfsinn ließ ihn augenblicklich vermuthen, Beck würde das, was er entdeckt, an einen andern Ort tragen. Der Stallknecht war schon fort und – (wie sein Kamerad meinte) ohne ein Wort zu sagen, hatte aber die Richtung nach der Southampton-Straße zu genommen. Varney sprang auf eines der Pferde, die seit dem Morgen dort gesattelt standen.
»Auch ich muß nach Southampton – die arme junge Dame – ich muß Eueren Herrn vorbereiten – er ist auf dem. Weg hierher zu uns« – und das letzte Wort war kaum über seine Lippen, als auch schon die Funken unter den Hufen seines Rosses vorstiebten und er aus dem Hofraum sprengte.
Während er so durch den Park dahinraste, eilten die Gedanken des Verbrechers der Schnelle seines Pferdes noch voraus – sie flogen von Furcht zu Hoffnung, von Hoffnung zum freudigen Gefühle der Sicherheit. Auch angenommen, daß der Horcher seine – an sich schon unglaubliche Geschichte erzählte – wer hätte sie geglaubt? – wie leicht war es da, ihr gerade eine andere entgegenzusetzen. Der Mann mußte auf jeden Fall eingestehen, daß er hinter der Tapete verborgen gewesen wäre; weshalb anders, als in der, gerade im Hause herrschenden Verwirrung, zu stehlen? Durch Madame Dalibard entdeckt – ersann er diese elende Lüge. Eine Untersuchung der Todten konnte nachher verlangt werden, diese aber, die auf keinen Fall auch nur das geringste Zeichen von Gift verrieth, mußte an sich selbst schon die Anklage vernichten. Der Spion konnte ja auch überhaupt den Tag nicht überleben; er trug den Tod mit sich, während er ritt – er beschleunigte ihn noch durch diese Eile, und die Wirkung des Giftes selbst war – Wahnsinn. Ha – seine Geschichte war zuletzt nur noch das tolle Hirngespinnst eines Rasenden. Dennoch blieb es gut, ihm, wohin er floh, zu folgen und ihn wo möglich aufzuhalten; Varney's Sporen trafen deshalb mit immer wieder erneuter Heftigkeit die blutenden Flanken des armen Thieres, das mit verzweifelter Anstrengung weiter stürmte.
Er hatte jetzt die Straße erreicht – eine Chaise fuhr an ihm vorbei – er hörte die Stimme nicht, die »Varney« rief – er sah nicht das erstaunte Gesicht John Ardworth's, über die wehende Mähne gebogen war er taub und blind für Alles um ihn her. Ein Meilenstein schwindet an ihm vorbei – ein zweiter – ein dritter. Ha – seine Augen können wieder sehen – der Gegenstand, den er verfolgt, ist vor ihm – deutlich erkennt er auf dem Gipfel jenes Hügels Pferd und Reiter– in voller Flucht wie er selbst. Sie sprengen den Hügel hinab und entschwinden seinem Blick – die Höhe hinauf treibt der Verfolger. Er erreicht den Gipfel – er sieht den Flüchtigen vor sich – er kann fast seine Stimme hören. Beck hat etwas eingezügelt – er schwankt im Sattel hin und her. Hoho – der gewaffnete Ring beginnt in seinen Adern zu wirken! Varney blickt umher – keine Seele ist weiter zu sehen – ein dichter Wald begrenzt die Straße. Platz und Zeit scheinen günstig zu seyn. Beck hat sein Pferd eingezügelt – er biegt sich über den Sattel hinüber und sieht aus, als ob er im Begriff wäre zu stürzen. Varney stößt einen nur halb unterdrückten Triumphruf aus, preßt die Flanken seines Thieres und sprengt weiter. Da – (bis jetzt durch die Biegung der Straße seinen Blicken entzogen) erscheint eine zweite Chaise auf dem Schauplatz und gerade dort, wo Beck ermattet nicht weiter konnte. Sie hält – Varney greift in die Zügel und hält sich nach dem Holz hinüber – Irgend Jemand im Wagen spricht mit dem Flüchtigen, – konnte dies nicht St. John selbst seyn? Zu seiner Wuth und seinem Entsetzen sieht er, wie Beck mühsam vom Pferde gleitet – sieht, wie er zum Schlage der Chaise taumelt – sieht, wie ein Diener vom Bock springt und ihm hinaufhilft – sieht, wie er einsteigt. Das muß Percival auf seiner Rückreise seyn – Percival, dem er jetzt die Erzählung all' des Schrecklichen bringt.
Varney's thierischer Muth verließ ihn – sein Herz war erstarrt. In dem ersten panischen Schreck, der eben diesem, wenn nur thierischen Muth, eigen ist – behielt seine Seele allein noch einen einzigen Gedanken und der hieß – Flucht. Er wandte seines Pferdes Kopf der Einfriedigung zu, brach sich verzweiflungsvoll seine Bahn – erreichte den Wald und saß da, zitternd und lauschend, bis er in der nächsten Minute den Wagen vorbeirollen – die Pferde schnell hügelab dem Parke zu galoppiren hörte.
Der Herbstwind strich durch die Bäume – er rauschte in den Zweigen der hohen Esche, die über den Mörder hinaushingen. Welcher Beobachter der Natur kennt nicht den Laut, den die vom Wind durchzogene Esche von sich gibt – es ist nicht jenes feierliche Stöhnen der Eiche – nicht das hohle Murmeln der Buche, sondern ein scharfer Klagelaut – ein Schrei, wie von einer menschlichen Stimme im Schmerz ausgestoßen. Varney schauderte, als ob er den Todesschrei seines Opfers gehört hätte. Durch Dornen und Dickichte, von den scharfen Stacheln gerissen, von den Zweigen gepeitscht, warf er sich tiefer und tiefer in den Wald – erreichte endlich den hindurchgeschlagenen Hauptpfad – kreuzte ihn, fand sich in einen andern Weg und ritt weiter – immer weiter – sorglos, welche Richtung er verfolge, bis er endlich eine kleine Stadt, etwa zehn Meilen von Laughton, erreichte, wo er zu bleiben beschloß, bis seine Nerven ihre Stärke wieder erlangt hätten und er ruhig überlegen konnte, was ihn am wahrscheinlichsten erwarte, Sicherheit oder – der Galgen.