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Am nächsten Mittag stand Beck, neubekleidet mit seiner Würde, wieder an seinem Posten; Percival mühte sich vergebens ab, sich an der Unterhaltung von zwei oder drei jungen Leuten zu ergötzen, die ihm die Ehre erwiesen, bei ihm eine Cigarre zu rauchen, und John Ardworth saß in seiner dunkeln Zelle in Gray's Inn, mit einem Haufen juristischer Bücher auf dem Tische, und den Zeitungen des Tages auf einem Stoß von Hansard's Debatten Hansard's Parliamentary Debates, der offizielle Text der Parlamentsdebatten, seit 1803 archiviert. neben sich auf dem Boden, – eine bei den ärmeren und strebsameren Juristen, die oft ihre frühesten und vielleicht schönsten Honorare der Presse verdanken, nicht allzu seltene Kameradschaft Im Original: »combination«.. Mit der Kraft eines an Arbeit gewöhnten Geistes, und unterstützt von einer unverwüstlichen Gesundheit lag er immer des Tages seinen trockenen Studien mit Eifer ob, wenn gleich er fast die ganze Nacht in der Druckerei gearbeitet und seine Schlafzeit bis auf vier Stunden verkürzt hatte. Aber dafür war dieser Schlaf auch so fest und erquickend, wie bei dem Landmann. Indem er auf diese Weise die Nächte der Presse widmete, (er war bei der Redaktion einer Zeitung beschäftigt,) und die Vormittage der Jurisprudenz, hielt er die beiden verschiedenen Beschäftigungen mit einer strengen Zeiteintheilung auseinander, die allein schon die Kraft seiner Energie und die Festigkeit seines Willens verrieth. Früh gezwungen, selbst für sich zu sorgen und sich mit eigener Kraft durch die Welt zu schlagen, hatte er eine kleine Kollegiatu Im Original: »fellowship«, was auch als ›Stipendium‹ gedeutet werden kann. Kollegiatur bedeutet ›Teilhaberschaft am Lehrkörper‹; die anonyme Übersetzung, aaO. Bd. 2, S. 119, spricht hier von einer »Unterlehrerstelle«. in dem College bekommen, wo er seine akademische Laufbahn verlebt hatte. Schon vor seiner Ankunft in London hatte er sich durch Beiträge zu politischen Zeitungen und sein hohes Ansehen in dem rhetorischen Club in Cambridge, der einige der ausgezeichnetsten unter den Staatsmännern der Jetztzeit gebildet hat, einen Ruf erworben, der ihm sogleich Beschäftigung bei der Zeitungspresse verschaffte. Wie die meisten Jünglinge von einer praktischen Richtung des Geistes, war er ein eifriger Politiker. Die große Tagesfrage setzte seine Begeisterung in Flammen und erweckte in der Tiefe seiner Seele schöne, wenn auch übertriebene Hoffnungen auf den menschlichen Fortschritt. Er identifizirte sich mit dem Volke; sein männliches Herz schlug laut für seine Sache. Obgleich seinen Artikeln die Menschenkenntniß, der scharfsinnige Einblick in den wahren Stand der Parteien, die glückliche Mäßigung fehlte, Eigenschaften, welche die höchste Weisheit des Staatsmannes ausmachen, aber die sich nur durch Erfahrung erwerben lassen, so zogen sie doch durch ihre kräftige Beredsamkeit und scharfe Logik nicht wenig die Aufmerksamkeit auf sich. Sie paßten für die Zeit. Aber John Ardworth besaß die Gesundheit des Verstandes, die gewöhnlich mehr als Talent wirkt – die gewöhnlich das Genie begleitet. Dies prekäre und oft nicht gewürdigte Mühen auf dem Felde der polemischen Literatur sollte nicht das einzige Hilfsmittel zur Erlangung des Ruhmes seyn, nach dem er strebte. Geduldig arbeitete er sich durch die trockenen Formalitäten seiner Wissenschaft, indem er das Dunkle durch seinen scharfen Geist aufklärte und das verwickeltste Detail durch die Kraft eines an Abstrahiren gewöhnten Verstandes in ein System brachte, und lernte so selbst das Widerwärtigste durch das Gefühl, neue Schwierigkeiten überwunden und einen klaren Umblick erlangt zu haben, lieben. Was oberflächliche Leute Genie nennen, hatte John Ardworth in sehr geringem Grade. Er hatte einige Einbildungskraft, (denn einem echten Denker fehlt diese nie,) aber sehr wenig Phantasie. Er tändelte nicht mit den Musen; auf dem Granit seines Geistes konnten nur wenig Blumen blühen. Sein kräftiger, überzeugender Styl ließ zuweilen einen Humor blicken, der nicht ohne Tiefe war, aber selten zeigte sich darin Witz und, noch weniger Poesie. Und dennoch war Ardworth genial. Genialität war die betriebsame Energie, die so geduldig in der Bewältigung von Einzelheiten, so glücklich in der Erringung von Resultaten war. Genialität war das thätige Interesse für die Menschheit, die hartnäckige Entschlossenheit, vorwärts zu kommen, die klare Einsicht in die großen Angelegenheiten und Interessen der Welt; eine Genialität, die genährt war durch Studium, und sich so wie er mit Menschen in Berührung kam, in seinem Gedankenreichthum, seinem starken Gedächtniß und selbst in einem gewissen gebieterischen Wesen zeigte.
Rauh war das Aeußere dieses Mannes, aber das Herz war sanft und gut. John Ardworth hatte nie den Grazien geopfert: Lord Chesterfield würde bei seinem Anblick einen Fieberanfall bekommen haben. Nicht etwa, daß er unanständig gewesen wäre, aber er sprach und lachte laut, wenn er Lust dazu hatte, oder rieb die Hände mit knabenhafter Freude, wenn er seinem Gegner eine Niederlage beibrachte. Manchmal auch saß er in Gedanken versunken und mürrisch da, und antwortete kurz und grob denen, die ihn störten. Junge Leute fürchteten ihn meistens, obgleich ihm blos der Ruhm fehlte, um einen Kreis von bewundernden Schülern um sich zu haben. Alte Leute tadelten seine Anmaßung und bebten vor der Neuheit seiner Ideen zurück. Nur Frauen würdigten und schätzten ihn, wie sie mit ihrem feinen Gefühl meistens Alles schätzen, was ehrlich und recht ist. Auch seine Schwächen hatte John Ardworth – einige der gewöhnlichen Launen und Widersprüche geistreicher Männer. Er lebte äußerst mäßig. Wochenlang trank er bloß Wasser, aß er bloß Brod und Schiffszwieback und ein paar Eier; hatte er aber dann eine bestimmte Arbeit vollendet, so erlaubte er sich eine Saturnalie, wie er es nannte, das heißt, er ging mit einigen alten Freunden aus dem College in ein Vorstadtwirthshaus, um einen Tag in »gottvoller Liederlichkeit«, wie er triumphirend sagte, zu verleben. Diese Schwelgerei war meistens unschuldig genug; sie bestand in kräftigen Späßen, einem Fischdiner und ein oder zwei Extraflaschen feurigem Portwein. Zuweilen wählte diese Fidelität, die immer laut und lärmend war, ihren Schauplatz in einem der Ciderkeller oder Nachtschenken, aber Ardworths Anstellung bei der Zeitung machte diese letztere Ausschweifung ausnehmend selten. Auf diese Tage der Lust folgte stets eine Zeit, wo sein Gesicht ungewöhnlich ernst, sein Benehmen ungewöhnlich schroff und rauh, sein Fleiß noch angestrengter und ausdauernder als gewöhnlich war. John Ardworth war nicht freundlich; aber er hatte das beste Herz von der Welt. Wie alle ehrgeizige Menschen beschäftigte er sich viel mit sich selbst, und dennoch wäre es lächerlich gewesen, ihn selbstsüchtig zu nennen. Selbst der Durst nach Ruhm, der ihn verzehrte, entsprang aus seinem guten Herzen – es war nur ein Verlangen, Gerechtigkeit zu fordern und seinen Brüdern zu dienen.
John Ardworth saß in seinen Büchern vertieft, als sein Schreiber geräuschlos hereintrat und einen Brief, den der Briefträger eben gebracht, auf den Tisch legte. Mit einem ungeduldigen Achselzucken warf er einen Blick auf die Aufschrift, aber seine Züge nahmen den Ausdruck gespannten Interesses an, als er die Hand erkannte. »Abermals!« murmelte er, »was ist dies für ein Geheimniß? Wer kann so oft Theil an meinem Schicksal nehmen?« Er erbrach den Brief und las Folgendes:
»Mißachten Sie meinen Rath, oder haben Sie begonnen, ihn zu befolgen? Begnügen Sie sich mit dem langsamen Fortschritt mechanischen Fleißes oder wollen Sie einen siegreichen Versuch machen, Ihre Lehrzeit abzukürzen und auf einmal zu Ruhm und Macht gelangen? Ich wiederhole Ihnen, daß Sie Ihre Gaben bei dieser Frohnarbeit einer Zeitung zersplittern und vergeuden. Treten Sie selbst hervor, benutzen Sie Ihre Kraft und Ihre Kenntniß zu einem Werk, dessen Verfasser die Welt kennt. Tag für Tag prüfe ich Ihre Bestimmung, und Tag für Tag wird es mir klarer, daß Sie unrecht thun, die Kräfte Ihrer Jugend in dieser langweiligen Plackerei zu verschwenden. Ich will Sie groß sehen, aber im Senat, nicht als erbärmlicher Sophist vor den Schranken. Treten Sie vor das Publikum als Person, nicht als einer der vielen namenlosen Schatten, welche die verachtete, weil gefürchtete Presse bilden. Schreiben Sie des Ruhmes wegen. Mischen Sie sich unter die Menschen, erwerben Sie sich Freunde. Mildern Sie Ihr rauhes Benehmen. Erheben Sie sich über die Heerde, welche Sie das Volk nennen. Wie, wenn Sie von edler Geburt wären? Ihre Laufbahn die eines Gentleman, nicht die eines Plebejers wäre? Geld soll Ihnen nicht fehlen. Verwenden Sie, was ich Ihnen sende, wie es sich für junge Leute von guter Geburt gebührt, oder benutzen Sie es wenigstens, um sich eine Rast von Ihren Arbeiten für das tägliche Brod zu gönnen, zur Stärkung in Ihrem Emporstreben aus dem Dunkel zum Ruhme.
Ihr unbekannter Freund.«
Eine Banknote von 100 Pfd. fiel aus dem Couvert, als Ardworth den Brief schweigend auf den Tisch legte.
Schon dreimal hatte er Briefe von derselben Hand und fast desselben Inhaltes empfangen, Einen weniger starken Geist hätten diese unbestimmten Anspielungen auf einen höhern Stand, auf eine Zukunft, die im Gegensatz stand zu seinem jetzigen arbeitsvollen Loose, leicht gefährlich werden können; aber nach einem einzigen Blicke auf seine in jeder Hinsicht einsame Stellung und wahrscheinlichen Erwartungen schüttelte Ardworth's nüchterner Geist die leichte Störung ab, die so nebelhafte Prophezeihungen in ihm hervorgebracht hatten. Die Familie seiner Mutter kannte er allerdings nicht – er wußte nicht einmal ihren Familiennamen. Aber gerade dies sprach für Hoffnungen von dieser Seite nicht günstig. Verwandte von Reichen und Hochgebornen bleiben selten im Dunkeln. Von seines Vaters Familie hatte er gar nichts zu erwarten. Größern Eindruck hatte auf ihn die Ermahnung gemacht, unter seinem Namen mit einem bedeutenden Originalwerk vor das lesende Publikum zu treten. Er hatte diesen Gedanken schon oft ohne Anregung von außen bei sich überlegt; aber theils hatte ihn die Nothwendigkeit mit den steten Anforderungen des Tages Schritt zu halten, theils die Ueberzeugung abgehalten, daß man sich selbst durch die glänzendste Leistung auf dem Gebiet der Literatur in der Advokatur wenig vorwärts bringt. Ihn freute das natürliche Streben des Genies in seiner Ruhelosigkeit; aber das Genie der Geduld (die vornehmere Kraft) hielt ihn zurück. So weit hatten jedoch die Einflüsterungen seines Korrespondenten gewirkt. Aber bis jetzt hatte er sich immer zu überreden gesucht, daß die ihm so seltsam aufgezwungenen Rathschläge auf nichtigen Beweggründen beruhten, auf einem Scherz eines alten Mitkollegiaten vielleicht, oder höchstens auf dem nichtigen Enthusiasmus eines leichtgläubigeren Bewunderers. Aber die Einlage in dem heutigen Briefe machte jede derartige Vermuthung zu Nichte. Wer von seinen Bekannten könnte sich einen so kostbaren Scherz oder eine so ausschweifende Huldigung erlauben? Er stand rathlos im Dunkeln und damit verband sich eine Art Furcht. In dem prosaischen, unromantischen Manne rief diese geheimnißvolle Einmischung in sein Schicksal, diese Anmaßung des Rechts ihn zu beobachten, zu berathen und zu beschenken, die Unbehaglichkeit hervor, die Geräusch im Dunkeln bei dem Muthigsten erweckt. Heute konnte er nicht mehr arbeiten – er konnte sich nicht mehr über seine Rechtsfälle setzen. Er ging zwei- oder dreimal unruhig in seinem rauchgeschwärzten Zimmer auf und ab, schloß den Brief mit seiner Einlage dann ein, nahm den Hut und ging ins Freie.
Aber immer noch beschäftigte ihn der Brief. »Und wenn ich in einem höhern Range geboren wäre,« sagte er fast hörbar, »könnte ich ja auch ein Herz haben wie unbeschäftigte Menschen; und Helene – geliebte Helene!« er schwieg, seufzte und fügte dann, die vernachlässigten Locken seines Hauptes schüttelnd, hinzu: »Als ob ich selbst dann eines Mädchens Gunst gewinnen könnte! Die Achtung der Männer kann ich erzwingen, obgleich ich arm bin, aber – Bah! Bah! nicht jedes Holz taugt zu einem Merkur; und meiner Treu, aus dem Holze, aus dem ich bin, schnitzt man nimmermehr einen Liebhaber.«
Aber trotz solcher Gedanken wendete Ardworth mechanisch seine Schritte nach Brompton und blieb, halb beschämt über seine Schwäche, vor dem Hause stehen, wo Helene bei ihrer Tante wohnte. Es war ein Gebäude, welches isolirt von den Gartenhäusern und Villen dieser anmuthigen Vorstadt stand, fast am Ende eines schmalen Heckengangs und umschlossen von hohen finstern Mauern, in denen eine kleine Thür den seltenen Besuchern Zutritt gewährte. Eine Dienerin von mittlerem Alter und steifem puritanischem Aussehen öffnete auf sein lautes Klingeln die Thür, und Ardworth schien ein privilegirter Gast zu seyn, denn sie richtete keine Frage an ihn, als sie ihn mit einem leichten Kopfneigen und regungslosem, aber sonst hübschem Gesichte auf einem gepflasterten, theils mit Gras bewachsenen Pfade nach dem Hause führte. Das Haus selbst hatte etwas Düsteres und Trübseliges. Es war nicht alt, hatte aber durch Vernachlässigung und Verfall ein altes Aussehen. Die Reben, welche die rostigen Nägel entfesselt hatten, schlangen sich wild an der Mauer hin oder krochen in langen Ranken am Boden. Das Haus war einmal weiß angestrichen gewesen, aber die Farbe, an vielen Orten verschwunden oder von Feuchtigkeit fleckig geworden, ließ hier und da die mißfarbigen bestoßenen Ziegel darunter erkennen. Die Fenster waren zwar ganz und das Dach ließ wohl den Regen nicht durch, aber die Fenstergestelle waren halbvermodert und Hauslauch wucherte auf den Ziegeln des Daches. Das ganze Haus hatte jenes unheimliche Aussehen, welches in dem Besucher einen unerklärlichen Schauer des Unbehagens hervorruft. Auch Ardworth vergaß seinen gewöhnlichen sorglosen Gang und schlich fast schüchtern die knarrende Treppe hinauf. Als er in das Besuchzimmer trat, schien auf den ersten Blick Niemand darinnen zu seyn; aber bald regte sich etwas in der Vertiefung eines großen Lehnstuhls neben dem von keinem Feuer erhellten Kamin, Und aus einer Masse von Decken erhob sich ein bleiches Gesicht, und eine magere Hand winkte dem Besuch ein Willkommen zu.
Ardworth trat näher, drückte die Hand und schob einen Stuhl neben die Kranke.
»Sie befinden sich hoffentlich besser,« sagte er herzlich, aber mit achtungsvollerem Tone als gewöhnlich in seiner Stimme lag.
»Ich bin immer dieselbe,« war die gelassene Antwort; »rücken Sie näher. Ihr Besuch erheitert mich.«
Als Madame Dalibard diese letzten Worte sagte, erhob sie sich ein wenig und musterte lange Ardworths energisches Gesicht und gedankenvolle Stirn. »Sie überarbeiten sich, mein armer Vetter,« sagte sie mit einer gewissen Zärtlichkeit: »Sie sehen schon zu alt für Ihre jungen Jahre aus.«
»Das ist kein Nachtheil in der Advokatur.«
»Ist die Advokatur Ihnen Mittel oder Zweck?«
»Frau Dalibard, es ist meine Bestimmung.«
»Nein, Ihre Bestimmung ist, emporzukommen, John Ardworth!« und die leise Stimme wurde lauter, »Sie sind kühn, fähig und strebsam – deßwegen liebe ich Sie – liebe Sie fast – fast wie eine Mutter. Ihr Schicksal,« fuhr sie aufgeregter fort, »interessirt mich, Ihre Energie flößt mir Bewunderung ein; oft sitze ich stundenlang hier und denke über Ihre Zukunft nach, so daß ich zuweilen fast sagen kann: ich lebe in Ihrem Leben.«
Ardworth machte ein verlegenes Gesicht und erwiederte zögernd: »Ich müßte eingebildet erscheinen, wenn ich glauben könnte –«
»Sagen Sie,« unterbrach ihn Frau Dalibard, »wir haben manche Unterhaltung über ernste und verwickelte Gegenstände gehabt; wir haben über die geheimnißvollen Wunder der Menschenseele gestritten; wir haben unsere Erfahrungen über das äußere Leben und das Bewegen und Treiben der menschlichen Gesellschaft ausgetauscht– sagen Sie mir jetzt, aber offen, was denken Sie von mir? Betrachten Sie mich blos, wie Ihr Geschlecht gern die Frau, die sich dem Mann gleichzustellen strebt, betrachtet, als ein Geschöpf geborgter Phrasen und unsolider Gedanken, zu schwach zum Führer und zu ungeschickt zum Lehrer? Oder erkennen Sie in diesem elenden Körper einen kräftigen Geist, der des Ihrigen nicht unwerth ist, und der von einer reifern Erfahrung, als Ihre ist, geleitet wird?«
»Ich halte Sie,« antwortete Ardworth freimüthig, »für die merkwürdigste Frau, die ich bis jetzt kennen gelernt habe. Aber zürnen Sie mir nicht, ich gebe nicht gern dein Einflusse nach, den Sie auf mich ausüben, wenn wir zusammenkommen. – Er stört meine Ueberzeugungen, beunruhigt meinen Verstand und ich finde mich nicht so leicht in meinem alten Leben zurecht, nachdem Ihr Athem darüber hinweggegangen ist.«
»Und doch,« sagte Lucretia mit trüber Feierlichkeit, »ist dieser Einfluß nur die natürliche Macht, welche das kältere Alter über die heißblütige Jugend ausübt. Gerade mein trauriger Vorzug vor Ihnen scheucht Sie aus Ihrer glücklichen Ruhe auf. Meine Erfahrung nimmt Ihnen das Vertrauen in die Trugschlüsse, welche Sie Ihre Ueberzeugungen nennen. Doch genug davon. Ich wollte Ihr Urtheil über mich wissen, weil ich Sie mit der ganzen Lebenserfahrung, die ich besitze, unterstützen möchte. In dem Maße, wie Sie mich achten, werden Sie meine Rathschläge annehmen oder verwerfen.«
»Ich habe bereits von Ihnen Vortheil gezogen. Der Ton, den Sie mir anzunehmen riethen, hat mir in den Augen des alten Pedanten, dessen Blatt ich redigire und dessen Prinzipien ich verletze, eine Wichtigkeit gegeben, die ich früher nicht hatte; Ihrer Kritik verdanke ich die praktischere Richtung meiner Aufsätze und den größern Einfluß, den sie auf das Publikum gewonnen haben.«
»Das sind Kleinigkeiten,« sagte Frau Dalibard mit einem leichten Lächeln. »Möge Sie das wenigstens bewegen, mich anzuhören, wenn ich Ihnen zeige, wie Sie Ihren Weg angenehmer und zugleich schneller vollenden können.«
Ardworth zog die Stirn in Falten und sein Gesicht nahm einen Ausdruck des Zweifels und der Neugier an. Er erwiederte jedoch nur mit einem freimüthigen Lachen: –
»Sie sind fürwahr weise, wenn Sie eine Heerstraße zur Berühmtheit entdeckt haben!
›O, wer spricht's aus, wie schwer der steile Fels,
Drauf stolz des Ruhmes Tempel prangt, zu klimmen ist!‹
Aus: The Minstrel; or, The Progress of Genius (1771), I,++1, von dem schottischen Gelehrten und Schriftsteller James Beattie (1735-1803).
Ein gescheidterer Spruch, als die Dichter gewöhnlich nach ihren sentimentalen Ach! und O's! folgen lassen.«
»Was wir sind, ist Nichts,« fuhr Frau Dalibard fort; »was wir scheinen, ist Alles.«
Ardworth schob die Hände in die Taschen und schüttelte den Kopf. Sie aber fuhr fort, ohne sein Nichtbeistimmen zu beachten:
»Alles, was Sie schätzen gelernt haben, hat ein Scheinbild, und dieses Scheinbild hält die Welt hoch. Nehmen Sie einen armen zerlumpten Mann von der Straße, was fängt die Welt mit ihm an? Sie schickt ihn in's Versorgungshaus oder gar in den Kerker. Lassen Sie von einem großen Maler diesen Mann mit seinen Lumpen und seinem Schmutze malen, und Könige werden um den Besitz dieses Bildes wetteifern. Dem Manne weist man die Thür, das Bild hängt man in Palästen auf. Eben so ist es mit Eigenschaften, die Nachbildung ist mehr werth als die Wirklichkeit. Was ist die Tugend ohne guten Ruf? Aber ein Mann ohne Tugend kann von seinem guten Rufe leben! Was ist Genie ohne Erfolg? Aber wie oft beugt man sich vor dem Erfolg ohne Genie! John Ardworth, bemächtigen Sie sich der Nachbildung – erwerben Sie sich den Ruf – streben Sie nach dem Erfolge!«
»Madame,« rief Ardworth barsch aus, »das ist scheußlich!«
»Scheußlich mag es seyn,« erwiederte Frau Dalibard gelassen und vielleicht gewahrend, daß sie zu weit gegangen war; »aber die Welt denkt so. Verbinden Sie also den Schein mit dem Sein. Sie sind tugendhaft, glaube ich. Gut, hüllen Sie sich in Ihre Tugend – zu Hause. Gehen Sie in die Welt hinaus und erwerben Sie sich Ruf. Wenn Sie Genialität besitzen, so erquicken Sie sich daran. Mischen Sie sich unter die Menge und streben Sie nach Erfolg.«
»Halt!« rief Ardworth; »ich erkenne Sie. Wie konnte ich so blind seyn! Sie haben also an mich geschrieben und in demselben Sinne! Sie, eine arme Kranke, haben sich selbst beraubt, um diese kräftigen Hände mit Ueberfluß zu überschütten. Und warum? Was bin ich Ihnen?«
Ein Ausdruck ächter Zuneigung erhellte Lucretia's Gesicht, als sie u ihm aufblickte und antwortete: »Ich will Ihnen später sagen, was Sie mir sind. Zuerst gestehe ich ein, daß ich es bin, deren Briefe Sie verwirrt, vielleicht verletzt haben. Das Geld, das ich Ihnen schickte, kann ich missen. Es steht und wird Ihnen stets mehr zu Diensten stehen, also sorgen Sie nicht. Ja, ich wünsche, daß Sie in der Welt auftreten sollen, aber nicht abhängig von den Günstlingen der Welt, sondern gleich mit ihnen. Ich möchte, daß Sie Menschen besser kennen lernen, als es aus bloßen Büchern möglich ist. Ich möchte Sie genannt hören, ich möchte einen Kreis um Sie versammelt sehen, der von dem jungen Ardworth spricht. – Dieser Ruf würde dann denen zu Ohren kommen, die Sie vorwärts bringen können. Schon der bloße Besitz von Geld gibt in gewissen Verhältnissen dem Benehmen Sicherheit, dem Ansuchen Einfluß.«
»Aber,« sagte Ardworth, »Alles dies ist ganz schön für einen durch Geburt und Vermögen Begünstigten; aber für mich – doch sprechen Sie sich offen aus, Sie deuten an, ich sey etwas, was ich nicht wüßte; ein Individuum, das weniger von der Kraft seines Körpers und Geistes leben muß, als der simple John Ardworth Was meinen Sie damit?«
Madame Dalibard hatte das Gesicht auf ihre Brust sinken lassen und wiegte sich in ihrem Stuhl. So schien sie sich einige Minuten zu besinnen, ehe sie antwortete.
»Als ich vor einigen Monaten nach England zurückkehrte, wünschte ich natürlich ausführliche Auskunft über meine Familie und meine Verwandten, die mir durch lange Abwesenheit im Auslande fremd geworden waren. John Walter Ardworth war mit meiner Halbschwester verwandt, von mir war er nur ein Bekannter. Dennoch wußte ich etwas von seinen Verhältnissen, aber nicht, daß er einen Sohn hatte. Kurz vor meiner Ankunft in England hörte ich, daß ein vermeintlicher Sohn von ihm bei Mr. Fielden erzogen worden und Mr. Fielden hat mich seitdem von all den Gründen für den Glauben, durch den Sie den Namen Ardworth tragen, unterrichtet.«
Lucretia schwieg einen Augenblick und fuhr dann nach einem Blick auf das ungeduldige, gespannte Gesicht ihres Zuhörers fort.
»Ihr angeblicher Vater führte, wie Sie wohl wissen werden, ein leichtsinniges und ausschweifendes Leben. Mein Onkel hatte ihm ein Offizierspatent verschafft und er betrat diese Laufbahn mit der ganzen Sorglosigkeit seiner sanguinischen Natur. Ich erinnere mich jener Tage – jenes Tages! Doch – wo war ich stehen geblieben? Walter Ardworth war Thor genug, in der Politik sehr extreme Meinungen zu haben. Er wollte Soldat seyn und überredete sich doch Republikaner zu seyn. Seine in seinem Stande so gehaßten Meinungen wurden ruchbar; er verhehlte nichts; er vernachläßigte die Porträts der Wirklichkeit – den Schein. Er machte sich seinem kommandirenden Offizier verhaßt, politische Meinungen säeten damals fast noch mehr als jetzt häufig Zwietracht aus – eine Gelegenheit fand sich; während des kurzen Friedens von Amiens war er nach England zurückberufen worden. Er hatte, ich glaube in Irland, bei einem Auflaufs eine Abtheilung Soldaten anzuführen; er feuerte nicht auf den Pöbel, wie ihm befohlen worden – so behauptete man wenigstens; John Walter Ardworth wurde vor ein Kriegsgericht gestellt und kassirt. Aber Sie wissen vielleicht das Alles schon!«
»Mein armer Vater! Nur zum Theil; ich wußte, daß er aus dem Dienste entlassen worden – ich glaubte ungerechterweise. Er war Soldat und wagte doch selbst zu denken und Mensch zu seyn!«
»Aber mein Oheim hatte ihm ein Legat vermacht – es brachte ihm keinen Segen – wie überhaupt des alten Mannes Gold nirgends. Wo sind sie jetzt Alle? Dalibard, Susanne und ihr blonder Gatte! Wo? Vernon ist todt – nur ein einziger Sohn von vielen noch am Leben! Gabriel Varney lebt allerdings! – und ich! Aber dies Gold – ja, in unseren Händen lag ein Fluch darauf! Walter Ardworth bekam sein Legat – er war von leichtsinnigem Charakter; obgleich schmachvoll entlassen, fand er doch Leute, die ihn bedauerten und priesen – Parteimenschen wie er. Er lebte flott hin, trank oder spielte, oder lieh und borgte, er gerieth in Schulden und führte zuletzt ein elendes, unstetes Leben, ernährte sich wie er konnte und war beständig von den Bailliffs Der Übersetzer beließ es beim englischen Wort; »bailiff«: Gerichtsvollzieher. verfolgt. Damals sahen wir uns wieder.«
Lucretias Stirne wurde finster wie die Nacht, wie sie die letzten Worte mit leiser Stimme sprach. Sie schauerte zusammen und fuhr erst nach einer Pause wieder fort.
»Während er so unstet lebte, erschien Walter Ardworth eines Abends mit einem Kinde bei Mr. Fielden. Er schien, wie Mr. Fielden sagte, krank und erschöpft zu seyn. Er gab keine Aufklärungen weiter über das Kind und ging sogleich schlafen. Was nun folgt, hat Mr. Fielden auf meine Bitte niedergeschrieben, Lesen Sie selbst, welchen Anspruch Sie auf die ehrenvolle Verwandtschaft, mit der man Sie beschenkt hat, haben.«
Mit diesen Worten schloß Frau Dalibard ein Kästchen auf ihrem Tisch auf, nahm ein Papier von Fieldens Hand heraus und übergab Es Ardworth. Nach einigen einleitenden Worten über des Verfassers vertraute Bekanntschaft mit dem älteren Ardworth, und einer Darstellung des von Frau Dalibard eben Erzählten, fuhr die Schrift folgendermaßen fort:
»Am nächsten Tage, als mein armer Gast noch im Bette lag, meldete mir meine Magd Hannah, daß draußen zwei Leute wären, die mich zu sprechen verlangten. Wie gewöhnlich ließ ich sie eintreten. Als sie ins Zimmer kamen (es waren ein paar bäurisch aussehende Leute und ich glaubte, sie wollten meinen kleinen Acker pachten), bat ich sie leise zu sprechen, da gerade über uns ein kranker Herr läge. Kaum hatte ich dies gesagt, so stürzten die beiden Fremden wieder hinaus und ließen mich in stummem Staunen zurück; kurz darauf vernahm ich oben laute Stimmen und ein Gebalg. Ich kam wieder zur Besinnung und rief, in der Meinung, Räuber seyen in mein friedliches Haus gebrochen, laut um Hülfe; darauf kam Hannah und wir Beide faßten uns ein Herz und gingen hinauf, wo wir den armen Walter in der Gewalt dieser vermeintlichen Räuber, die aber Bailiffs waren, fanden. Sie wollten ihn keine Sekunde aus den Augen lassen. Er war jedoch ruhiger, als ich für möglich gehalten hätte; bat mich leise für das Kind zu sorgen, und versprach mir, Weiteres von sich hören zu lassen. In weniger als einer Stunde war er fort. Zwei Tage später erhielt ich einen in großer Eile geschriebenen Brief ohne Adresse, den ich hier mittheile:
›Lieber Freund, ich bin den Bailiffs entwischt und hier sitze ich in Sicherheit, in einer kleinen Schenke am Meer! Das Vaterland hat mich wie ein Rabenvater behandelt. Ich werde meine Ueberfahrt auf einem Schiffe als Matrose nehmen, und wenn ich meine Gesundheit wieder erlangen kann, (die Seeluft ist stärkend!) hoffe ich, immer noch mein Brod auf irgend eine Weise ehrlich zu verdienen. Wenn ich einmal meine Schulden bezahlen kann, komme ich zurück Aber was werden Sie, mein lieber alter Lehrer, unterdessen von mir denken? Sie, dem ich als einzigen Dank für so viele vergeblich aufgewendete Mühe einen Mund mehr zu füttern gab! Und kein Geld, um die Kost zu bezahlen? Aber Sie werden dem Kinde keinen Platz an Ihrem Tische verweigern? Nein, und auch nicht die gute sparsame Mrs. Fielden. – Gott segne die gute, wirthschaftliche Seele! Sie kennen mich gut genug, um überzeugt zu seyn, daß ich Sie entweder bald von dem Kinde befreien oder Ihnen etwas schicken werde, damit es Ihnen nicht zur Last falle. Ich würde sagen, schenken Sie dem Kinde Liebe und Mitleid um meinetwillen. Aber ich gestehe, daß ich – aber bei Gott, ich muß fort – ich höre das erste Signal von dem Schiffe, das – der Ihrige in Eile. J. W. A.‹«
Der junge Ardworth unterbrach seine Lektüre und seufzte schwer. Dieser Brief schien ihm Schlimmeres als falschen Humor zu verrathen – eine gewisse Frivolität, die seine eigenen strengen Grundsätze schmerzhaft verletzte. Und der Mangel an Liebe zu dem Kinde war offenbar – kein einziges Wort von Liebkosung. Er las mit bekümmerter und entmuthigter Aufmerksamkeit weiter.
»Dies war Alles, was ich von dem armen Walter drei Jahre hindurch hörte, aber ich wußte, daß sein Herz trotz seiner Thorheiten im Grunde gut war (des Sohnes Auge erhellte sich, und er küßte das Papier), und das Kind war uns keine Last – wir liebten es, nicht nur um Ardworths willen, sondern auch seiner selbst, und der Barmherzigkeit und Christus willen. Ardworths zweiter Brief lautete wie folgt:
› En iterum Crispinus! – Ich bin noch am Leben und komme vorwärts in der Welt – ja, und ehrlich – ich verschwende nicht mehr leichtsinnig; ich spare für meine Gläubiger, und wenn ich leben bleibe, hoffe ich jeden Pfennig zu bezahlen. Vor allen Dingen meine Schuld an Sie – ich überschicke Ihnen eine Anweisung, nicht unter meinem Namen, aber vollkommen gültig, auf das Haus Drummond auf 250 Pfd. St. Nehmen Sie davon, was Ihnen der Knabe gekostet hat. Lassen Sie ihn erziehen, daß er sich selbst sein Brod erwerben kann – ist er gescheidt, zum Gelehrten und Juristen – ist er ohne Anlagen zum Gewerbsmann. Wie sich auch meine Verhältnisse wenden mögen, jedenfalls muß er sich selbst erhalten. Ich sollte Ihnen die Geschichte seiner Geburt erzählen, aber es ist eine Geschichte des Schmerzes und der Schuld, und wenn ich es recht überlege, so fühle ich, daß ich kein Recht habe, auf seine Jugend einen Schandfleck zu bringen, an dem er unschuldig ist. Wenn ich je nach England zurückkehren sollte, so sollen Sie Alles erfahren und ich will dann Ihrem Rathe folgen. Ich grüße Ihre ganze glückliche Familie. Ihr dankbarer Freund und Schüler.‹
Dieser Brief ließ mich argwöhnen, daß das arme Kind wahrscheinlich außer der Ehe geboren sey und daß Ardworths Schweigen eine Folge seiner Gewissensbisse sey. Ich hielt es für das Beste, diesen Argwohn den Sohn nie merken zu lassen. Warum sollte ich ihn durch einen Zweifel betrüben, den sein Vater nicht heben wollte und der vielleicht nur eine Folge meiner unerfahrenen und lieblosen Auslegung einiger vieldeutigen Worte war? Als John 14 Jahr alt war, empfing ich abermals von Drummonds 500 Pfd. St., aber ohne eine einzige Zeile von Ardworth und nur mit der Erklärung, daß die Herren Drummond von einem ihrer Korrespondenten in Calcutta beauftragt wären, mir diese Summe zur Deckung der Erziehungskosten des mir von John Walter Ardworth übergebenen Kindes auszuzahlen. Mein junger Pflegling war zwei Jahre auf der Universität, als ich einen Brief folgenden Inhalts erhielt:
›Wie gehts Ihnen? – immer noch wohl – immer noch glücklich? – lassen Sie mich das hoffen! Ich habe Ihnen nicht geschrieben, theurer alter Freund, aber ich habe Sie nicht vergessen – ich habe mich nach Ihnen bei meinem Korrespondenten erkundigt, und habe von Zeit zu Zeit Berichte von Ihnen gehört, die meine dankbare Zuneigung zufrieden stellten. Ich finde, daß Sie dem Knaben meinen Namen gegeben haben. So mag er ihn behalten – es ist nicht viel damit zu prahlen, nach dem Rufe, den ich ihm gegeben habe; aber merken Sie sich, ich erkenne Ihn nicht als meinen Sohn an. Ich wünschte, daß er sich für elternlos halte, ohne andere Unterstützung in seiner Laufbahn, als ihm sein eigener Fleiß und seine Talente gewähren – wenn er Talente hat. Lassen Sie ihn die stärkende Prüfung der Arbeit durchmachen – lassen Sie ihn sein Auskommen suchen und finden. Bis er mündig ist, werden vierteljährlich 150 Pfd. für ihn bei den Herren Drummond auf Ihren Namen bezahlt werden. Wenn er dann, um sich zu etabliren, Geld braucht, so schreiben Sie mir die Summe unter der Adresse A. B. Calcutta, durch Vermittlung der Herren Drummond, dies wird zu mir gelangen und mich geneigt finden, Ihrer Forderung zu genügen. Aber nach dieser Zeit hören alle Zuschüsse auf. Glauben Sie nicht, weil ich dies aus Ostindien schreibe, daß ich in Rupien wühle; Alles was ich zu erreichen hoffe, ist ein mäßiges Auskommen. Dieser Knabe ist nicht der einzige, der Ansprüche hat, es zu theilen. Daher habe ich, selbst wenn ich wünschte ihm die verschwenderischen Lebensgewohnheiten zu geben, die mich zu Grunde gerichtet haben, nicht einmal die Mittel dazu. Ja! er mag auf eigene Kraft sich stützen. In Ihrem Briefe schreiben Sie mir ja ausführlich von Ihrer Familie, Ihren Söhnen; schreiben Sie wie an einen Mann, der Sie vielleicht in der Welt vorwärts bringen kann, der sich zu glücklich schätzen wird, einigermaßen das Viele, was er Ihnen schuldet, zu entgelten. Sie würden billigend lächeln, wenn Sie mich jetzt sähen – ein solider, betriebsamer Mann, aber immer noch der Ihrige.
P. S. Lassen Sie den Knaben nicht an mich schreiben, und geben Sie ihm auch nicht diese Spur meiner Adresse.‹
Bei Empfang dieses Briefes schrieb ich ausführlich an Ardworth über die schönen Anlagen und die vortreffliche Ausführung seines armen, vernachläßigten Sohnes. Ich schrieb ihm, daß er in der That ein Sohn sey, auf den jeder Vater stolz seyn könne, und machte ihm Vorwürfe über den tadelnswerthen Ton, in dem er von ihm sprach. Jemandes Sohn bleibt sein Sohn, wie großes Unrecht auch der Vater der Mutter gethan haben mag. Auf diesen Brief erhielt ich keine Antwort. Als John mündig geworden, und durch eine Collegiatur der Noth entrückt war, sprach ich mit ihm über seine Zukunft. Ich sagte ihm, daß sein Vater, obgleich er im Auslande, und aus gewissen Gründen in Verborgenheit lebte, doch bis jetzt reichlich für seinen Unterhalt gesorgt habe, und willens sey, zu geben, was er zur Begründung seiner Laufbahn, oder zum Ankauf eines Offzierpatents brauche; daß es aber sein Vater lieber sehen möchte, wenn er Liebe zur Unabhängigkeit zeigte, und sich fortan selbst erhielte. Ich kannte den Knaben, zu dem ich so sprach. – John dachte wie ich; ich verlangte von dem ältern Ardworth nichts weiter; die Zuschüsse hörten auf; John hat seitdem auf eigene Faust gelebt. Ich habe von seinem Vater nichts weiter vernommen, obgleich ich oft unter der mir angegebenen Adresse geschrieben habe. Ich fürchte fast, daß er todt ist. Ich ging einmal nach London, und suchte einen der Chefs des Hauses Drummond auf – ein sehr höflicher Herr, der mir aber nur sagen konnte, daß er nach den Instruktionen eines Correspondenten in Calcutta, eines gewissen Macfarren, handle, worauf ich an Mr. Macfarren schrieb, und ihn – sehr dringend meiner Meinung nach – um Nachrichten über den ältern Ardworth ersuchte. Er antwortete mir ziemlich kurz, daß er eine Person dieses Namens gar nicht kenne, und daß A. B. ein französischer Kaufmann in Calcutta gewesen, der vor länger als zwei Jahren gestorben sey. Ich gab jetzt alle Hoffnungen aus, mehr zu erfahren, und war mehr als je überzeugt, daß ich recht gethan hatte, indem ich John meinen Briefwechsel mit seinem Vater verheimlicht hatte. Der Knabe hatte natürlich geforscht, aber als ich ihm sagte, daß ich es für meine Pflicht gegen seinen Vater halte, zu schweigen, drang er nicht weiter in mich. Ich habe nur noch hinzuzufügen, erstens, daß es nach allen Nachforschungen, die ich bei den noch lebenden Verwandten von Walter Ardworth machte, deren fester Glaube zu seyn schien, daß er nie verheirathet gewesen, und daraus fürchte ich, müssen wir schließen, daß er keine ehelichen Kinder hatte, was die Vernachläßigung seines Sohnes erklärt, aber nicht entschuldigt; und zweitens hinsichtlich der für John empfangenen Summen, daß ich sie sämmtlich – Kapital und Interessen, in seinem Namen bei den Herren Drummond in den Dreiprocents angelegt habe, bloß nach Abzug seines ersten Jahres in Cambridge, welches ich, ohne meine eigenen Kinder zu benachtheiligen, nicht bezahlen konnte. Daß ich ihm davon nichts gesagt habe, geschah aus den Rath meiner lieben Frau, denn sie sagte sehr verständig (und sie war in Geldsachen eine kluge Frau!): ›Wenn er weiß, daß ihm eine so große Summe zu Gebote steht, so wird er vielleicht faul und liederlich, und bringt Alles auf einmal durch, wie sein Vater vor ihm; während ihm, wenn er einmal heirathen will, oder sonst das Geld braucht, eine schöne Hilfe damit gewählt wird.‹
Da Sie, verehrte Frau, jedoch die Welt besser als ich kennen, so mögen Sie es jetzt halten, wie Sie für gut befinden und John sowohl alle hierin enthaltene Aufklärung über seinen Vater geben, als ihn auch von der großen Summe, deren Besitzer er ist, unterrichten.
Matthew Fielden.«
»P. S. Zur Rechtfertigung John Ardworth's und um zu zeigen, daß er, welche Grille er sich immer in Bezug auf sein eigenes Kind in den Kopf gesetzt hatte, doch gutherzig genug war, um an meine Kinder zu denken, obgleich ich in meinen Briefen nichts von ihnen gesagt hatte, muß ich noch erwähnen, daß meinem ältesten Sohn eine vortreffliche Stelle in einem Handlungshause in Westindien angeboten wurde, wo er jetzt Buchhalter ist, und mein zweiter Sohn von einem Herrn, der ihm ganz unbekannt war, eine Pfründe von 117 Pfund jährlich erhielt. Obgleich ich diese Wohlthaten Ardworth nie beweisen konnte, wem sollte ich sie sonst verdanken?«
Ardworth legte das Papier aus der Hand, ohne ein Wort zu sprechen, und Lucretia, die ihn während des Lesens beobachtet hatte, erstaunte über die Selbstbeherrschung, welche er zeigte, als er mit der Schrift zu Ende war. Sie legte jetzt ihre Hand auf die seinige und sprach:
»Muth! – Sie haben nichts verloren!«
»Nichts!« sagte Ardworth mit einem bittern Lächeln. »Eines Vaters Namen und eines Vaters Liebe – nichts!«
»Aber.« rief Lucretia aus, »ist dieser Mann Ihr Vater? Spricht Vaterliebe aus einem einzigen dieser harten Worte? Nein, nein; mir scheint es möglich, ja, fast gewiß zu seyn, daß« – sie hielt inne und setzte weniger aufgeregt hinzu: – »daß Sie mir nahe verwandt sind. Ich bin jetzt in England, in London, um diese Spur zu verfolgen. Verwirklicht sich meine Hoffnung, so – so –« Frau Dalibard hielt plötzlich inne, und selbst in dem frohlockenden Ausdruck ihres Gesichts lag etwas Schreckliches. Sie holte tief Athem und sagte mit offenbarer Anstrengung, ihre Aufregung zu bemeistern: »Wenn dem so ist, so habe ich ein Recht, mich für Sie zu interessiren. Erlauben Sie mir, Ihnen den Grund meiner Vermuthung noch zu verschweigen und – und – lieben Sie mich ein wenig bis dahin!«
Ihre Stimme zitterte wie von unterdrückten Thränen bei diesen letzten Worten, und in dem Tone, mit dem dieselbe sprach, und der Bewegung der gefalteten Hände, die sie ihm entgegenhielt, sprach sich fast krampfhafte Erschütterung aus.
Sehr gerührt über das Benehmen und die Stimme der Sprechenden, beugte sich Ardworth nieder und küßte ihre Hände. Dann stand er rasch auf, ging im Zimmer auf und ab, sprach halblaut mit sich selbst, trat an ein Fenster und öffnete es, wie um frische Luft zu schöpfen, und athmete schwer auf. Als er sich jedoch wieder umdrehte, besaß er seine ganze Fassung wieder, und indem er rasch die Arme über die Brust verschränkte, sagte er laut, aber mehr zu sich selbst, als zu der Dame:
»Was thut's am Ende, welche Namen die Leute unsern Vätern geben? Wir sind selbst unseres Schicksals Schmied! Bastard oder adelig, mir ist es gleich. Gebt mir Ahnen, ich werde mich ihrer würdig machen; streicht mir selbst den Namen eines Vaters aus, und meine Söhne sollen einen Ahn in mir haben!«
Wie er so sprach lag eine rauhe Größe in den harten Zügen seines Gesichts und der kräftigen Ruhe seiner hohen Gestalt. Und während er so dastand, ging die Thür auf und Varney trat herein.
Diese beiden Leute hatten sich dann und wann bei Frau Dalibard getroffen, sich aber einander nicht genähert. Varney war kalt und förmlich gegen Ardworth und Ardworth fühlte eine Abneigung gegen Varney. Mit dem Instinkt gesunder, tüchtiger und solider Naturen entdeckte er augenblicklich, daß etwas Theatralisches, Falsches und Hohles in Gabriel Varney's Rede und Benehmen – selbst in seinem Gange und dem Schnitt seiner Kleider – lag, das ihm aus dem Grund seiner Seele zuwider war. Und Ardworth ermangelte wieder des knabenhaften und schönen Enthusiasmus von Percival's Natur, die leicht einnahm und eingenommen ward, und von Bewunderung für alle Talente und alle Vortrefflichkeit glühte. Um Kunst, wenn sie nicht von der höchsten Art war, kümmerte sich Ardworth nicht im mindesten; ihm war es gleichgültig, daß Varney malte und komponirte, mit gewandten Phrasen über Literatur zu glänzen wußte, oder mit unbefriedigender Metaphysik paradirte. Er sah nur den Charlatan und hatte noch nicht aus Erfahrung gelernt, wie stark und gefährlich die Boa ist, die ihre Farben in der Sonne glänzen läßt und sich mit dem sinnlichen Muthwillen ihres Charakters von Zweig zu Zweig windet.
Varney blieb in der Mitte des Zimmers stehen, wie sein Auge zuerst auf Ardworth fiel, und sah dann Frau Dalibard an. Aber Ardworth, in seinen Träumen und seinen Entschlüssen von dem Klang einer Stimme gestört, die ihm stets widerwärtig war, und vorzüglich in seiner jetzigen Stimmung, erwiederte kaum Varney's Gruß, knüpfte den Rock zu, nahm den Hut und ging, unterwegs zwei Stühle umwerfend und einen runden Tisch in nicht unbedeutendes Schwanken versetzend, auf Mrs. Dalibard zu. Er drückte ihr die Hand, flüsterte ihr zu: »Ich werde Sie bald wiedersehen!« und verschwand aus dem Zimmer.
Sein Haar mit den reichberingten Fingern glättend, sank Varney in den Stuhl neben Frau Dalibard, wo Ardworth eben gesessen hatte, und sagte: »Wäre ich eine Clytemnestra, so würde ich einen Orestes in einem solchen Sohne fürchten!«
Frau Dalibard warf auf den Sprechenden einen jener mißtrauischen Seitenblicke, die früher Lucretia charakterisirt hatten, und erwiederte:
»Clytemnestra war glücklich! Die Furien ahndeten ihr Verbrechen nicht und verfolgten bloß den Rächer.«
»Still!« sagte Varney.
Die Thür ging auf und Ardworth trat wieder ein.
»Ich vergaß ganz, weßwegen ich zum Theil hergekommen war. – Was macht Helene? Ist sie sicher nach Hause zurückgekehrt?«
»Sicher – ja!«
»Das liebe Mädchen – es freut mich, dies zu hören! Wo ist sie? Doch nicht wieder bei diesen Mivers! Ich bin kein Aristokrat, aber ich begreife nicht, warum man feine Bildung und Gemeinheit zusammenbringen kann?«
»Mr. Ardworth,« sagte Frau Dalibard mit stolzer Kälte, »meine Nichte ist unter meiner Obhut, und Sie werden mir erlauben, selbst zu beurtheilen. inwiefern ich meinen Pflichten nachkomme. Mr. Mivers ist mit ihr verwandt – näher sogar als Sie.«
Ganz und gar nicht beschämt von dieser Zurechtweisung, sagte Ardworth gleichgiltig: »Nun, ich werde mit Ihnen darüber weiter sprechen. Unterdessen bitte ich Sie, sie von mir freundschaftlich zu grüßen – Helenen meine ich.«
Frau Dalibard erhob sich halb in ihrem Stuhle, sank aber wieder zurück, indem sie Ardworth heranwinkte. Varney stand auf und trat an's Fenster, als ob er fühle, daß etwas gesagt werden sollte, was nicht für sein Ohr bestimmt war.
Als Ardworth dicht vor ihr stand, erfaßte Frau Dalibard seine Hand mit einer Kraft, die ihn in Verwunderung setzte, und flüsterte ihm zu, indem sie ihn dicht an sich zog:
»Ich will Ihren Gruß ausrichten, wenn Sie Helenen mit den Augen eines Vetters oder, wenn Sie wollen, eines Bruders betrachten. Fühlen Sie eine wärmere Liebe für sie? Antworten Sie, Sir!« und schnell zurückweichend sah sie ihm mit strenger und drohender Miene und festgeschlossenen Lippen starr in's Gesicht.
Obgleich ein wenig erschrocken und halb ärgerlich, antwortete Ardworth doch mit dem leisen, ironischen Lächeln, das man manchmal von ihm hörte: »Ha, Frauen sind geneigt, uns Männer für größere Narren zu halten, als wir sind. Ein prozeßloser Advokat ist nicht sehr entzündlich. Ja, ich liebe sie wie ein Vetter – das ist genug. Arme Helene! es ist Zeit genug da, ihr andere Begriffe in den Kopf zu setzen; und dann – wird sie einen Schatz haben, heiter und schön wie sie selbst!«
»Ja,« sagte Frau Dalibard mit einem kaum merklichen Lächeln, »ich bin zufriedengestellt. Kommen Sie bald.
Ardworth nickte und eilte die Treppe hinab. Wie er die Thür erreichte, erblickte er in der Ferne Helenen, die sich über ein Blumenbeet in dem vernachläßigten Garten bückte.
Unentschlossen blieb er stehen. »Nein,« sagte er halblaut zu sich selbst: »nein, ich bin blos für mich selbst geeignete Gesellschaft! Ein langer Spaziergang in's Freie und dann – fort mit diesen Nebeln um Vergangenheit und Zukunft; die Gegenwart ist wenigstens mein!«