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Erstes Kapitel.

Die Krönung.

Der achte September 1831 war ein Festtag für London. Wilhelm IV. empfing die Krone seiner Vorfahren in der gewaltigen Kirche, wo die Denkmale der Todten am eindringlichsten an die Nichtigkeit irdischen Prunkes erinnern; der Staub von Eroberern und Staatsmännern, von den weisen Häuptern und kräftigen Händen, welche einst die Throne abgeschiedener Könige schätzten, ruhte ringsum; und die großen Männer der Gegenwart umgaben huldigend den Monarchen, dem die Tapferkeit und die Freiheit von Generationen ein Reich geschenkt hatte, in dem die Sonne nie untergeht. In der Abtei – wenig an die Vergangenheit oder an die Zukunft denkend – sah die zahllose Menge mit gespannter Theilnahme dem prunkvollen Schauspiele zu, das nur einmal in diesem Abschnitt der Geschichte, in der Lebenszeit eines Königs, stattfindet Es war eine glänzende und imposante Versammlung. Die Gallerien glänzten von dem Schmuck der Frauen, die immer noch den Ruhm der Schönheit in Gestalt und Antlitz, der von ältester Zeit her die große englische Race auszeichnet, aufrecht erhielten. Unten im Hermelinmantel und die Adelskrone auf der Stirn, standen Männer, die weder im Senat noch auf dem Schlachtfeld sich ihrer Ahnen unwürdig gezeigt hatten. In Hoheit des Antlitzes und der Gestalt von Allen ausgezeichnet, bemerkte man die Brüder des Königs, während man, noch öfter von dem Blicke Aller aufgesucht, hier das Adlerprofil des greisen Helden von Waterloo und dort die majestätische Stirn des stolzen Staatsmanns gewahrte, der (während der letzte der Bourbonen, den Waterloo wieder auf den Thron gesetzt, Scepter und Purpur dem ihm so verhängnißvollen verwandten Hause überlassen mußte,) das Volk durch einen stürmischen und gefährlichen Uebergang zu einer unblutigen Revolution und einer neuen Verfassung führte.

In der ihnen zugewiesenen Abtheilung bewegten sich Reihe über Reihe die Mitglieder des Unterhauses; in ihrer Seele verband sich die Krönung des neuen Herrschers mit der großen Maßregel, die, noch unentschieden, ein Band zwischen dem Volk und dem König bildete; und gegen beide zwar nicht die wirkliche Aristokratie, aber doch das von der Verfassung als ihr Vertreter anerkannte Haus zusammenschaarte. Außerhalb war eine dichte Masse. Häuser waren Balkon an Balkon, – Fenster an Fenster angefüllt, wie ein ungeheures Theater. Die lange Straße hinauf nach Whitehall erblickte das Auge dieses Publikum – ein Volk; und der Blick war begrenzt von der Stelle, wo Karl I. aus dem Banketsaal auf das Schaffot geschritten war.

Die Feierlichkeit war vorüber; der Zug war langsam vorbeigeschritten; das letzte Hurra war verstorben. Die dichtgedrängte Menge, nachdem sie noch ein Weilchen den Redner Hunt, der das eiserne Gitter unweit der Westminsterhalle erklimmt hatte, um seine behäbige Person im Hofkleid zu präsentiren, angegafft hatte, entfloh dem Regen, der sich jetzt zur Unzeit ergoß, und theilte sich in große Massen oder langgestreckte Colonnen.

In dem Theile Londons, der gewissermaßen eine Grenze zwischen seiner alten und seiner neuen Welt bildet, durch den wir auf der einen Seite nach Westminster gelangen oder durch jene Oeffnung des Strand, die an endlosen Reihen von Läden, welche auf dem Platze der alten Paläste der Buckinghams und Southamptons, der Salisburys und der Exeters, vorbei in das Herz der City führt, während wir auf der andern Seite die Stadt der Aristokratie und Literatur, der Kunst und Mode erreichen, wo vordem der Jagdgrund von Marylebone und die binsenreichen Gewässer Pimlicos sich befanden – auf dieser Grenze (dem Uebergang vom Opernhaus am untern Ende von Haymarket nach dem Anfang von Charingcroß, stand eine Person, deren unzufriedenes Gesicht in seltsamem Widerspruch mit der allgemeinen Freude und Lebendigkeit des Tages stand. Diese Person, geneigte Leser – diese mürrische, brummende, unzufriedene Person – war auch ein König in seiner Weise! Niemand konnte das bestreiten. Er fürchtete keine Rebellen, ihm raubte keine Reform den Schlaf; er herrschte ohne Minister. Werkzeuge hatte er; aber wenn sie abgenutzt waren, ersetzte er sie ohne Pension und ohne Seufzer. Er lebte von Steuern, – aber sie waren freiwillig: und seine Civilliste wurde bewilligt, ohne die Bedingung, Mißbräuche abzuschaffen. Dennoch war diese Person zwar nicht abgesetzt, aber doch suspendirt von seiner Herrschaft für diesen Tag. Er war bei Seite geschoben; er war vergessen. Er zeichnete sich nicht unter der Menge aus. Wie Titus hatte er einen Tag verloren – er hatte umsonst gelebt. Diese Person war der Kehrmann des Uebergangs!

Er war ein Original! Er war jung, in der schönsten Blüthe der Jugend; aber das Gesicht eines alten Mannes saß auf den jungen Schultern. Sein Haar war lang, dünn und vor der Zeit mit Grau untermischt; sein Gesicht bleich und tief gefurcht; seine hohlen Augen glotzten kalt und dumm unter den tiefhängenden, dicken Brauen hervor. Von Gestalt war er schwächlich und ohne Anmuth und die schmalen Schultern waren beständig gebeugt. Es war eine Gestalt, die man einmal gesehen nicht leicht vergißt und an die man mit einem unbestimmten, peinlichen Gefühl zurückdenkt. Sein Benehmen war bescheiden, aber nicht sanft; die Stimme klagend, aber ohne Pathos. Sein Aussehen zeigte eine dürftige, leidenschaftslose Schläfrigkeit, obgleich es zuweilen zu einer Art gierigen Schlauheit aufblitzte. Keiner wußte, wie dieser Mann in die Welt gekommen war. Er war durch die Barmherzigkeit fremder Hände erzogen, und hatte in verstecktem Dunkel, Elend und Lumpen seine Kindheit verlebt, und war plötzlich als Nachfolger eines alten verstorbenen Negers an dem einträglichen Uebergang erschienen, wo er jetzt stand. Erziehung war ihm gänzlich unbekannt und auch die Liebe. In jenen festlichen Hallen in St. Giles, wo der, welcher Londons Leben kennen lernen will, oft den Knaben, der früh sein Pferd hielt, des Abends fröhlich mit seiner Erwählten tanzen sehen kann, war unser Kehrmann von so spartanischer Strenge, wie Karl XII.! Und der Arme hatte seine gute Seiten. Er hatte ein lebhaftes Gefühl für Freundlichkeit – er hatte wenig genug erfahren, um diese köstliche Sache wegen ihrer Seltenheit nur noch mehr zu schätzen! – und obgleich er das Geld liebte, konnte er es doch weggeben, (wir wollen nicht sagen gern, aber doch weggeben,) nicht für die einfache Armuth, (denn er hatte selbst zu sehr gedarbt, und war gegen das Darben selbst zu gleichgültig geworden, um die Empfindungsfähigkeit zu besitzen, die das Mitleid bedingt,) aber jedem seiner Bekannten, der ihm einen Dienst geleistet oder nur die trübe Nacht seines Herzens mit einem freundlichen Lächeln erhellt hatte; er war ehrlich – ehrlich wie Keiner. Man konnte ihm Gold ungezählt anvertrauen! Durch den schwerfälligen Erdenklos, den menschliche Pflege nicht geformt, Bücher nicht belehrt, des Priesters feierliches Wort nicht unterrichtet hatte, schimmerten doch schwache Strahlen aus der großen Vaterquelle der Gottheit Er hatte keinen bürgerlichen Namen; niemand wußte, ob jemals Pathen bei der heiligen Taufe für seine Sünden Bürgschaft geleistet. Aber er hatte sich selbst den seltsamen, heidnisch klingenden Vornamen »Beck« gegeben. So stand er da, anscheinend ohne Eltern und Verwandte, ein einsames, darbendes, blutloses Wesen, welches das große Ungeheuer London aus seinem Riesenschloß geboren zu haben schien – eins seiner siechen, elenden, skrophulösen Kinder, die es in Pflege giebt bei der Armuth, in die Schule schickt bei dem Hunger und ihnen zuletzt Steine gibt anstatt des Brodes, und die Wahl des Galgens oder des Düngerhaufens, wenn das verzweifelnde Kind von der Riesenmutter Unterhalt und Obdach fordert!

Und dieses Geschöpf liebte etwas – vielleicht ein Brudergeschöpf – davon später, wenn wir in die Geheimnisse seiner Häuslichkeit dringen. Unterdessen liebt er offen und frei seinen Uebergang; er war stolz auf seinen Uebergang; er war dankbar gegen seinen Uebergang. Gott helfe dir, Sohn der Straße – warum nicht! Er stand im doppelten Verhältniß mit ihm: er unterhielt den Uebergang, wenn der Uebergang ihn unterhielt. Er lächelte zuweilen vor sich hin, wenn er ihn schön und glänzend inmitten des Kothes ringsum vor sich liegen sah; er verlieh ihm das Gefühl eines Besitzes! Was ein Mann für ein schönes Gut fühlen kann, das fühlte Beck für diesen Isthmus der Gosse, der seinem Besen unterworfen war!

Die Krönung hatte einen Unzufriedenen gemacht, als sie den Kehrmann von seinem Uebergang wegdrängte.

Er stand halb unter den Säulenreihen des Opernhauses, als das Gewühl jetzt schnell abnahm und sich mehr zerstreute, und als der letzte einer langen Reihe Wagen vorüber war, brummte er hörbar vor sich hin:

»'s wird viel kosten, ihn wieder in Ordnung zu bringen!«

»Du bist heute da, Beck!« sagte ein zerlumpter Knabe, der, nachdem er sich durch die geputzte Menge gedrängt, jetzt stehen blieb und sich den Schweiß von der Stirn abwischte, während er den Kehrmann anblickte. »Wir gehen alle spazieren. Warum kommst du nicht mit? – Ungeheurer Spaß heute!«

Der Kehrmann sah den Buben grimmig an und antwortete nicht, sondern fing an sich eifrig mit seinem Uebergang zu beschäftigen.

»'s ist ja kein einziger Kehrmann auf der Straße heut', Beck. Seiner Majestät König Bills Krönung macht uns Alle so glücklich!«

»Sie hat ihn schrecklich schmutzig gemacht!« erwiederte Beck und wies auf den Uebergang, der sich kaum von der übrigen Straße unterscheiden ließ.

Der Andere lachte.

»Aber wir kriegen jetzt die Reform Gemeint ist der Reform Act von 1832, ein Gesetz, mit dem die überholte Wahlkreiseinteilung für die Wahl des britischen Parlaments zum ersten Mal seit fast 150 Jahren geändert wurde. Es erhöhte sich auch die Anzahl der Wahlberechtigten von 435.000 auf 652.000; davon profitieren konnten vor allem wohlhabende Stadtbewohner. Ferner erhielten viele Städte, die erst während der Industrialisierung entstanden und nicht im Parlament vertreten waren, das Recht, ihre eigenen Abgeordneten zu wählen. Dadurch verschob sich das politische Gewicht vom ländlichen, aristokratisch geprägten Süden zu den neuen Großstädten im Norden, obwohl die Gentry, der englische Landadel, die politisch maßgebliche Klasse blieb. Der Druck der Öffentlichkeit führte zu weiteren großen Veränderungen wie dem Reform Act 1867., Beck. Das Volk soll zu seinem Rechte und zu seiner Freiheit kommen, und die Lords werden abgeschafft und Beefsteaks sollen ein Penny das Pfund kosten, und –«

»Was wird das ihm nützen?«

»Aber denk doch, da wird das Ding umgedreht, und die Andern kehren den Uebergang und wir fahren in der Andern Kutschen mit vier Pferden – und warum? wir werden alle gleich seyn!«

»Gleich! Ich will dir was sagen, wenn du nicht aufhörst zu schwatzen, kriegst du Prügel, Joe – und warum? Ich bin der Stärkste!« war Becks Antwort.

Der lustige Joe lachte laut auf, schnippte mit den Fingern, warf seine zerlumpte Mütze mit einem Hurrah König Bill! in die Luft, und eilte jauchzend den Festlichkeiten zu, die Beck so grob verschmähte.

Die Zeit verstrich – es wurde allmälig Abend und Beck stand immer noch an seinem Uebergang, als ein jugendlicher Reiter, der nach dem Krönungszuge einen kleinen Spazierritt in die Vorstädte gemacht hatte, dicht am Uebergang anhielt, und wie er sich nach Jemandem, der sein Pferd halten konnte, umsah, keinen andern dieser Ehre Würdigern entdecken konnte, als den einsamen Beck. So jung war der Reiter, daß er fast noch als Knabe erschien. Auf seinem glatten Gesicht hatte Alles, was in früher Jugend am meisten einnimmt, seinen anmuthigen Stempel ausgeprägt. Ein fröhliches und liebliches Lächeln umspielte seine Lippen. Es lag ein eigener Reiz selbst in einem gewissen ungeduldigen Muthwillen in dem lebendigen Auge und den fast unmerklich zusammengezogenen zarten Brauen. Almaviva Hauptfigur der Komödie »Le Barbier de Séville ou La précaution inutile« (Der Barbier von Sevilla oder Die unnütze Vorsicht, 1775) von Pierre-Augustin Caron de Beaumarchais, die den Stoff für Gioachino Rossinis Erfolgs-Oper »Il barbiere di Siviglia« (1816) bildete. hätte auf einen solchen Pagen wohl eifersüchtig seyn dürfen! Er war das beau ideal Cherubins. Er winkte mit der Gerte dem Kehrmann. »Folgt mir,« sagte er mit einem Tone, der selbst das befehlende Wort sanft klingen machte, so fröhlich war das Spiel der Lippen und so silbern die Stimme; und ohne zu warten, galoppirte er langsam die Pallmall hinauf.

Der Kehrmann warf einen traurigen Blick auf sein ödes Gebiet. Aber er hatte heute wenig verdient, und die Gelegenheit war zu lockend, um nicht benutzt zu werden. Er seufzte, warf seinen Besen auf die Schulter, und indem er vor sich hinmurmelte, daß er vor dem Schlafengehen noch einmal kehren wolle, setzte er sich in den schlenkernden Trab, der diesen menschlichen Schakals eigen ist, die, wenn sie einmal einen Reiter ohne Bedienten entdeckt haben, ihn unermüdlich verfolgen und im Augenblick, wo er absteigt, erscheinen, wenn er es am wenigsten erwartet.

Bot einem der Clubhäuser in der St. Jamesstraße schwang sich der jugendliche Reiter leicht von seinem edlen, glatten Grauschimmel, klopfte des Pferdes Hals, warf dem Kehrmann den Zaum zu und trat pfeifend in das Haus – wenn nicht aus Mangel an Gedanken, jedenfalls aus Mangel an Sorgen.

Als er in den Club trat, nickten ihm von einem Tisch, wo sie speisten, zwei oder drei Herren, noch jung, aber dem Aussehen nach viel älter als er, freundlich zu.

»Ah, Perce,« sagte Einer, »wir haben uns eben erst gesetzt – hier ist ein Platz für Sie.«

Der Jüngling erröthete schüchtern, indem er die Einladung annahm, und die jungen Leute machten ihm mit einer freundlichen Bereitwilligkeit Platz, welche zeigte, daß diese Schüchternheit seiner Beliebtheit nicht hindernd in den Weg trat.

»Wer ist der junge Mann?« sagte ein ältlicher Dandy zu einem Bekannten, mit dem er allein an einem Tische saß. »Man sollte solche Knaben nicht im Club zulassen.«

»Es ist der einzige noch lebende Sohn eines unserer alten Freunde,« erwiederte der Andere, und ließ sein Augenglas sinken, »der junge Percival St. John.«

»St. John, Was? Vernon St. Johns Sohn?.«

»Ja.«

»Er hat nicht seines Vaters gutes Aussehen. Diese jungen Bursche haben einen Ton – ein Etwas – einen Mangel an Selbstbewußtseyn, nicht?«

»Seht wahr; die Sache ist, daß Percival für die Marine bestimmt war, und sogar ein oder zwei Jahre als Seekadett diente. Er war damals ein jüngerer Sohn – der dritte glaub' ich. Die zwei ältern starben, und Master Percival kam zu dem Erbe. Ich glaube, er ist noch nicht einmal mündig.«

»Mündig! Er kann noch nicht siebzehn seyn!«

»O, er ist älter! Ich kann mich seiner in der Jacke in Laughton erinnern. Eine schöne Besitzung!«

»Ja, mich wundert's nicht, daß diese Bursche so höflich gegen ihn sind. Der Claret schmeckt nach dem Kork – 's ist Alles so schlecht in diesem verwünschten Club! – Kein Wunder, wenn man eine Heerde Knaben zuläßt! das genügt allein, einen Club zu ruiniren! – können Larose nicht von Lafitte unterscheiden, Kellner!«

Unterdessen war die Unterhaltung an dem Tische, wo Percival St. John saß, lebhaft, munter und mannichfaltig – die unbeschäftigten Jünglingen geläufigen Gegenstände berührend: Pferde, Kirchthurmrennen Im englischen Original: »steeplechases«, Hindernisrennen., Operntänzerinnen, herrschende Schönen, mit harmlosen Witzen über einander vermischt. In diesem ganzen Geplauder zeichnete sich Percival St. Johns Unterhaltung durch eine naive Frische aus, welche zeigte, daß das Leben noch für ihn den Reiz der Neuheit besaß. Er war unterrichteter über Pferde und Kirchthurmrennen, als über Tänzerinnen und die Chronique scandaleuse der Stadt. Das Gespräch über die letzten Gegenstände schien ihn nicht zu interessiren; im Gegentheil, es verletzte ihn fast. Schüchtern und verschämt wie ein Mädchen, erröthete er oder blickte abseits, wenn seine verhärtereren Freunde von Stelldicheins und Liebesabenteuern sprachen. Lebhaft, munter und männlich in allen männlichen Punkten, war doch die jungfräuliche Blüthe der Unschuld noch erkennbar in seinem offenen, fröhlichen Wesen. Häufig brach, aus Achtung vor seinem Zartgefühl der Lebemann seine Geschichte ab, oder blieb die Pointe seiner Anekdote schuldig; und doch war Percival in seiner Gutherzigkeit, seiner Naivität, seiner bereitwilligen Theilnahme an jeder unschuldigen Freude so liebenswürdig, daß sich seine Freunde des Zwanges, den er ihnen auferlegte, kaum bewußt waren. Diese lustigen, dunkeln Augen und dies muthwillige Lächeln reizte allein schon zu geselliger Fröhlichkeit an. Sie verbreiteten eine ansteckende Heiterkeit, die den Mangel an Verderbtheit ersetzt.

Die Nacht war angebrochen. St. Johns Gesellschafter waren allmälig nach Hause gegangen, und Percival stand auf den Thürstufen des Clubhauses, entschlossen, sich unter die Menschenhaufen zu mengen, die durch die Straßen strömten, um sich die Illumination anzusehen, als er Beck mit dem Pferde gewahr wurde, den er ganz vergessen hatte.

Mit einem Lächeln über sein schwaches Gedächtniß drückte Percival ein Silberstück in Becks Hand – mehr, als Beck jemals für eine ähnliche Dienstleistung erhalten – und sagte:

»Kann ich Euch wohl mein Pferd anvertrauen, um es nach Hause zu führen? – Nr. –, der Marstall hinter Curzonstreet. Das arme Thier! es verlangt nach seinem Abendbrod – und Ihr wahrscheinlich auch!«

Beck lächelte – es war ein trübes, hungriges Lächeln – und zupfte höflich an seiner Stirnlocke – »ich kann das Pferd wohl in Acht nehmen, Euer Ehren.«

»Nun, so führt es hin, und gute Nacht; aber setzt Euch nicht darauf, wenn Euch Euer Leben lieb ist«

»O nein, Sir; ich setze mich nie darauf; 's liegt nicht in meiner Art.«

Und Beck führte langsam das Pferd durch das Gedränge, bis es Percivals Augen entschwand.

In diesem Moment blieb ein Vorübergehender, als er den Jüngling auf den Stufen des Clubhauses erblickte, stehen, und sagte fröhlich: »Ah, wie geht's? Hübsche Gesichter in Unzahl gibt's heut' Nacht! Welchen Weg gehen Sie?«

»Das ist mehr, als ich selbst weiß, Mr. Varney. Ich bedachte eben, nach welcher Seite ich gehen sollte – rechts oder links.«

»So erlauben Sie mir Ihr Führer zu seyn,« und Varney bot ihm den Arm.

Percival nahm ihn und Beide schritten nach Piccadilly zu. Manch freundlicher Blick von den Grisetten und Dienstmädchen, welche die Illumination auf die Straße gelockt, wurde mit ziemlicher Unparteilichkeit bald St. John, bald seinem Gefährten zu Theil; aber sie verweilten länger auf dem letztern, denn hier waren sie wenigstens einer Erwiederung sicher. Varney, wenn auch nicht mehr in erster Jugendblüthe, stand in der Vollkraft des Lebens, und die Zeit hatte ihn so schonend behandelt, daß er noch alle persönlichen Vorzüge der Jugend besaß. Sein Teint war noch frisch und rein, und da nur die Oberlippe von einem schwachen, seidenweichen, gntgepflegten Bart bedeckt war, so vermehrten die runden Umrisse seines Antlitzes noch sein jugendliches Aussehen. Lockig rollte sein weiches Haar unter dem Hut hervor. Die gedrungene Gestalt, geschmeidig wie die eines Panthers, aber mit breiter Schulter und tiefer Brust Das »deep« im Original bedeutet in diesem Zusammenhang »stark«., verrieth die Zartheit und Gewandtheit des Jünglings neben der Muskelkraft der Mannes. Seine Tracht war etwas phantastisch – zu anspruchsvoll für den guten Geschmack, der dem englischen Gentleman eigen ist, und in seinem Gange ließ sich ein Anflug von Gespreiztheit entdecken, der einen Wunsch, Aufsehen zu machen, ein Bewußtseyn persönlicher Vorzüge verrieth; kurz, er war in Äußerem und Benehmen etwas ganz anderes, als Percivals gewöhnliche Gesellschafter; und doch würde selbst der Tadelsüchtigste unter ihnen nicht gewagt haben, Gabriel Varney »gemein« zu nennen. Viele sahen ihm nach: aber nicht weil ihnen seine Tracht oder das Anspruchsvolle seines Ganges auffiel: ein Ausdruck rücksichtsloser, drohender Energie in seinem Gesicht, eine Andeutung von Kraft und Entschlossenheit selbst in diesem Gange, so geckenhaft er bei Andern erschienen wäre, machte jede Bemerkung über das Aeußere an der Neugier verschwinden, wer dieser Mann wohl seyn möchte. Er mußte ein Mann von Bedeutung seyn, – nicht durch seinen conventionellen Rang, sondern durch die Kraft seiner eigenen Persönlichkeit, Vielleicht ein Künstler, ein Dichter, oder ein Offizier in ausländischen Diensten, aber jedenfalls ein Mann, den man sich als berühmt dachte. Aus der großen Masse der Menschen trat er stets als ein Besonderer deutlich und scharf hervor.

»Ich fühle mich zu Hause unter der Menge,« sagte Varney. »Verstehen Sie mich?«

»Ich glaube,« entgegnete Percival. »Wenn ich jemals berühmt werden sollte, würde auch ich mich unter der Menge heimisch fühlen.«

»Sie sind also ehrgeizig? Sie wollen berühmt werden?« frug Varney mit einem raschen, forschenden Blicke.

Ein lebhafteres, ernsteres Feuer glänzte bei dieser Frage Varney's in Percivals Augen und eine männlichere Glut auf seiner Wange. Aber er zögerte mit der Antwort; und als er endlich sprach, geschah es mit der gewöhnlichen Mischung von anmuthiger Verschämtheit und heiterem Freimuth.

»Unser Emporkommen hängt nicht immer von uns selbst ab. Wir sind nicht Alle groß geboren, doch wird uns Allen die Größe aufgedrängt. Shakespeare – Hm.«

»Mit Ihrem Vermögen kann man Alles werden, wenn man will,« sagte Varney mit einem Tone, aus dem der Neid klang.

»Was, ein Maler wie Sie! Ha, ha!«

»Gewiß,« sagte Varney, »würden Sie wenigstens, wenn Sie überhaupt malen könnten, das besitzen, was mir fehlt – Ansehen und Ruhm.«

Percival drückte aufmunternd Varney's Arm. »Muth! Es wird Ihnen eines Tages Gerechtigkeit werden!« sagte er.

Varney schüttelte den Kopf. »Bah! Was man Gerechtigkeit nennt, gibts gar nicht; Alle werden zu viel oder zu wenig gepriesen. Können Sie mir einen einzigen Mann nennen, den das Publikum nach seinem wahren Werthe schätzt? Und was die Popularität in der Gegenwart betrifft, so beruht sie auf zwei Eigenschaften, vereinigt oder getrennt – Feigheit und Charlatanerie; nämlich auf einem sklavischen Eingehen auf den Geschmack und die Stimmung des Augenblicks, oder auf marktschreierischem Haschen nach Originalität. Aber was langweile ich Sie mit solchen Sachen! Wir haben hier anziehende Gegenstände vor uns. Ein schöner Fuß, nicht? Sie verzeihen mir – aber es ist seltsam: Sie scheinen sich wenig für das weibliche Geschlecht zu interessiren?«

»O doch,« sagte Percival mit schalkhafter Ehrbarkeit. »Ich liebe um Beispiel sehr – meine Mutter.«

»Sehr lobenswerth und vortrefflich,« sagte Varney lachend; »und ist damit Ihre Liebe zu dem weiblichen Geschlecht zu Ende?«

»Nun ja, es kommt mir wahrhaftig so vor – ziemlich wenigstens. Sie wissen, daß meine Großmutter todt ist! Aber das ist wirklich des Sehens werth!« und Percival wies mit fast kindlicher Freude auf eine Illumination, die sich durch ihren Glanz vor anderen auszeichnete.

»Wenn Sie majorenn werden, lassen Sie gewiß alle Cedern in Laughton mit bunten Lampen behängen. Wahrhaftig, Sie möchten mich einmal dorthin einladen. Ich sähe gern den Ort wieder.«

»Wenn ich nicht irre, sagten Sie mir, daß Sie während der Lebenszeit meines Vaters nie dort gewesen sind?«

»Nie.«

»Aber Sie kannten ihn?«

»Nur wenig.«

»Und Sie haben nie meine Mutter gesehen?«

»Nein; aber sie scheint einen solchen Einfluß auf Sie auszuüben, daß sie gewiß eine sehr ausgezeichnete Dame ist – etwas stolz, nicht?«

»Stolz – nein! Das heißt nicht gerade stolz, denn sie ist sehr sauft und leutselig. Aber doch –«

»Aber doch – Sie stocken – würde sie Sie nicht gern mit Gabriel Varney, dem natürlichen Sohne von Sir Miles Bibliothekar, Gabriel Varney dem Maler, Gabriel Varney dem Abenteurer, Arm in Arm durch Piccadilly gehen sehen?«

»So lange Gabriel Varney ein Mann von unbeflecktem Charakter und unbefleckter Ehre ist, würde sich meine Mutter nur freuen, daß ich einen geschickten und talentvollen Mann kenne, und nicht nach seinen Eltern und seiner Herkunft fragen. Aber meine Mutter würde trauern, wenn sie mich vertraut fände mit einem Bourbon und einem Rafael, dem ersten in Rang und dem ersten an Genie, wenn der Prinz und der Künstler sein adelig Schild geschändet hätte. Mit einem Wort, sie legt den größten Werth auf Ehre und Gewissen – alles Andere beachtet sie wenig.«

»Hm!« Varney sah zu Boden, als ob er seine Stiefeln mustere, und sagte leichthin: »Es ist doch nicht möglich über die Straße zu gehen, und sich die Stiefeln nicht zu beschmutzen! Nun also – Sie stimmen mit Ihrer Mutter überein?«

»Es wäre seltsam, wenn ichs nicht thäte. Als ich kaum vier Jahr alt war, führte mich mein Vater durch die lange Ahnengallerie in Laughton und sprach: Geh durchs Leben, als ob diese Ehrenmänner auf Dich herabsähen. Und,« fügte St. John mit seinem franken Lächeln hinzu, »dann sagte wohl meine Mutter noch: Und diese fleckenlose Frauen, Percival!«

Es lag etwas Edles und Rührendes in dem leisen Tone, mit dem der Jüngling dies sprach; es war dies die Erklärung seiner ungewöhnlichen Züchtigkeit und der offenen gefunden Unschuld seines Charakters.

Der Teufel auf Varney's Lippe zuckte höhnisch.

»Mein junger Freund, Sie haben noch nicht geliebt. Meinen Sie, daß es einmal geschehen wird?«

»Ich habe geträumt, daß ich einmal lieben könnte. Aber ich kann warten.«

Varney wollte eben antworten, als ihn drei Herren von dem auffälligen Wesen in Benehmen und Charakter, das man in der Londoner Vulgärsprache gewöhnlich mit »tigerhaft« bezeichnet, anredeten. Jeder dieser Drei hatte eine Cigarre im Munde – alle schienen geröthet von Wein zu seyn. Der Eine trug große messingene Sporen und einen ungeheuren Schnurrbart; ein Anderer zeichnete sich durch eine ungeheure schwarzatlassene Halsbinde aus, über die als Pactolus In der griechischen Mythologie wird dem Fluss Paktolos die Eigenschaft zugeschrieben, Goldstaub mit sich zu führen. eine große goldene Kette sich wand: ein Dritter hatte einen Rock à la Polonaise, Beinkleider, die seine pralle Wade eng umschlossen, und ein Glas in das rechte Auge geklemmt.

»Ah, Gabriel! ah, Varney! Willkommen, fidelster aller Kameraden! Du ißt mit uns bei der kleinen Celeste – wir wollten Dich eben abholen.«

»Wer ist Dein Freund – Einer der Unsern?« flüsterte ein Zweiter.

Und der Dritte schob seinen Arm zärtlich unter den Varney's.

Trotz seiner gewöhnlichen Sicherheit fühlte sich Gabriel für einen Augenblick beschämt, und hätte sich gern Freundschaftsbezeugungen entzogen, die ihm jetzt gar nicht gelegen kamen; aber er sah, daß seine Freunde des süßen Weines bereits zu voll waren, um sich leicht abweisen zu lassen, und es war für ihn ein wahrer Trost, als Percival, nachdem er einen unzufriedenen Blick auf die Drei geworfen, zu ihm sagte: »Ich will Sie nicht länger aufhalten – ich komme nächstens in Ihr Atelier,« und ohne eine Antwort zu erwarten, im Gedränge verschwunden war.

Varney folgte seinen neugefundenen Freunden, ohne in dem ersten Momente auf ihre frivolen Reden und vertraulichen Scherze zu achten. Endlich raffte er sich aus seiner Zerstreuung auf und ging auf die rohe Heiterkeit seiner Gefährten ein, so daß er sie bald durch die Frechheit seiner Sprache und die höhnende Verderbtheit seiner Anträge Im englischen Original: »sentiments«, Empfindungen, Anschauungen. weit hinter sich ließ; denn hier spielte er nicht mehr eine Rolle, legte seinen thierischen Trieben keinen Zaum mehr an. Diese unbeschränkte Herrschaft der Sinnlichkeit, der er sich schon in der Kindheit hingegeben, fand einen unterthänigen Sklaven in dem Mann. Selbst seine Talente entwickelten sich durch seine Hinneigung zum Sinnlichen. Sein Auge, auf das Aeußerliche gerichtet, machte ihn zum Maler, sein feines und geübtes Ohr zum Musiker. Seine wilde üppige Phantasie schwelgte in jeder Aufregung und schenkte ihm vielseitige Einsicht in die Laster und Schwächen, die sie mit veränderlicher Laune benutzte. Menschen, welche die mit den Sinnen in nächster Verbindung stehenden Künste übertrieben kultiviren, werden leicht, wenn ihnen das nöthige Gegengewicht in einem klaren und kräftigen Verstande fehlt, ein ausschweifendes Leben führen. Dies findet man häufig bei Musikern, Sängern und Malern, weniger bei Dichtern, weil der, welcher es mit Worten und nicht mit Zeichen oder Tönen zu thun hat, beständig die Eindrücke seiner Sinne mit den Idealen vergleichen muß, von denen die Sinne blos den Abglanz erblicken. Aber die wahren Genies, obgleich sie nur von den Sinnen genährt werden, die meisten wirklich großen Maler, Sänger und Musiker sind zwar leicht durch den Versucher zu verlocken, aber der fruchtbare Boden ihres Gemüthes ist reich an guten Eigenschaften, die dem Bösen entgegenwirken – sie sind gewöhnlich weichherzig, edel, theilnahmvoll. Daß Varney solche Schönheiten der Seele und des Temperamentes fehlten, brauchen wir nicht erst zu sagen – hauptsächlich, das ist wahr, in Folge seiner Erziehung und des väterlichen Beispiels, und der gänzlich verderbten Umgebung, in der er seine Jugend verlebt – aber auch weil er kein ächtes Genie war; es war eine falsche Erscheinung des göttlichen Geistes, ein Erzeugniß seiner körperlichen Vollkommenheit (die alle seine Sinne so kräftig und scharf machte) und seiner schwelgerischen Phantasie und seiner Energie, die zuweilen großen Fleißes fähig war, aber nie gehörige Ausdauer und ein bestimmtes Ziel zu finden wußte. Alles an ihm war schimmernd und hohl. Ihm fehlte die angeborene Schärfe und Tiefe des Geistes, die seinen schrecklichen Vater ausgezeichnet. Das Blut der Operntänzerin hatte das Blut des Gelehrten überwältigt; ohne alle Methode und Ordnung, ohne die Geduld und den mathematischen, berechnenden Verstand Dalibards, tändelte er leichtsinnig mit der grausenhaften und scheußlichen Lasterhaftigkeit, die Olivier zu einem ernsten Studium gemacht hatte. Ausschweifend und verschwenderisch, gab er das Geld so schnell aus, als er es verdiente; er vernichtete mit kecker Hand alle Aussichten auf Emporkommen oder eine Laufbahn. Mitten in den verbrecherischen Plänen oder dem energischesten Studium seiner Kunst konnte ihn die armseligste Zerstreuung abziehen. Sein Herz war mit Falrie im Stall, seine Phantasie mit Aladdin im Palast. Aufsehen zu machen, lag ihm am meisten am Herzen; er liebte es, durch seine Person, seine Worte, seine Kleidung oder seine Talente einen Effekt hervorzubringen. Er, der von der Hand in den Mund lebte, war schon durch Verbrechen, die wir hier nicht erwähnen dürfen, heute reich geworden, um morgen wieder durch seine Laster arm zu werden. Was er »das Glück« oder »seinen Stern« nannte, war ihm hold gewesen – er war nicht gehängt worden! – er lebte; und da er den größten Theil seiner verbrecherischen Laufbahn im Auslande und unter fremdem Namen vollbracht hatte, so haftete auf ihm, obgleich ein Etwas an ihm, etwas Unbeschreibliches und Verdacht Erregendes eine unbestimmte Unruhe bei den Scharfsichtigen hervorrief, keine positive Beschuldigung; und die Zügellosigkeit seines Lebens war außerhalb des Kreises seiner Vertrauten nur wenig bekannt. Daher besaß er das vermessenste Selbstvertrauen, das aus seinem Muthe entstand, und von seiner Erfahrung bestätigt wurde. Sein Gewissen war so gänzlich abgestumpft, daß er wie ein Mann ohne alles Gewissen erschien. Konrad »wußte, daß er ein Verbrecher war;« er aber sah in sich blos einen ungewöhnlich gescheidten Kerl ohne Vorurtheile und Aberglauben. Daß er bei allen seinen Gaben nicht weiter vorwärts gekommen war, gab er, ohne sich zu besinnen, der überlegenen Weisheit seiner Philosophie schuld. Er hätte sich besser befinden können, wenn er das Leben weniger genossen hätte – aber war Genießen nicht der einzige Inhalt und das einzige Ziel dieses armseligen Lebens? Viel öfter warf er in Anfällen bitteren Neides die Schuld auf die Welt. Wie groß hätte er seyn können, wenn er reich und hoch geboren wurde! O, er war geschaffen zum Verschwenden, nicht zum Sparen; zum Befehlen, nicht zum Schmeicheln! Er war nicht der Mann, der mit der beschränkten Mittelmäßigkeit des Lebens zufrieden seyn konnte: er mußte Alles oder Nichts haben! Nicht Herrschaft über sich selbst ließ jetzt Varney gewisse tiefe Pläne auf Percival St. John vergessen und auf die rohe Lust seiner drei Gefährten eingehen – er folgte hier blos am meisten seiner eigenen Natur. Und als der Strahl des Morgensterns die Nacht endigte, die er mit gemeinen Wüstlingen und feilen Dirnen verlebt, als über zerbrochenen Gefäßen und leeren Flaschen auf dem Tisch der Tag anbrach, und ihn in der ganzen Herrlichkeit seiner Kraft, und dem ganzen Heroismus seines überlegten Lasters erblickte; – das einzige frische und blühende Gesicht von all den trüben Augen, weinrothen Wangen und wankenden Gestalten! scheußlich lachend über das wüste Schauspiel, das er selbst angerichtet, und mit teuflischem Hohn die auf dem Boden liegende Gestalt seines Lieblings, der an seiner Brust geruht, von sich stoßend, als er allein mit festem Schritte über die Schwelle in die frische, gesunde Morgenluft hinaus ging, da freute sich Gabriel Varney des Triumphs seiner höllischen Eitelkeit und schwelgte in dem Bewußtseyn der Ueberlegenheit und Macht.

Indessen war der junge Percival, wie ihm die Laune eingab, durch die Straßen geschlendert. Haymarket hinab gelangte er an die Colonnade des Opernhauses. Das Gedräng war hier so groß, daß er nicht weiter konnte und er sich an eine Säule lehnte, um die verschiedenen Gruppen von Licht und Glanz in ihrer Nähe zu betrachten. Gerade vor ihm schimmerten die rivalisirenden Sterne des United Service-Clubs und des Athenäums Clubs für höhere Offiziere bzw. Gelehrte.; – links die originelle Devise an Northumberland-House Die Londoner Residenz der Familie Percy, die als Grafen und später Herzöge von Northumberland jahrhundertelang zu den reichsten und prominentesten Adelsgeschlechtern Englands gehörte.; rechts die Anker, Kanonen und Bomben, die strahlenden Embleme des Feldzeugmeisteramts.

In diesem Augenblicke befanden sich drei Mithandelnde unserer Geschichte nur wenige Schritte von einander, von der Menge ausgezeichnet D.h. von der Masse sich unterscheidend. durch die Gefühle, mit der Jeder von ihnen das glänzende Schauspiel und das Gewühl ringsum betrachtete. Percival St. John, dem die sinnende Lust an Genuß noch lebhaft und ungesättigt war, nahm von dem Schauspiel nur die physische Heiterkeit auf, die ihn selbst fröhlicher stimmte. Wenn in einem noch so unentwickelten Charakter – dem die starken Leidenschaften und ernsten Zwecke des Lebens noch unbekannt waren – sich tiefere und sinnigere Gedanken und Gefühle regten, die dem Lächeln auf seinen rosigen Lippen und dem Feuer seiner muntern Augen mehr Ernst aufprägten, so würde er sich selbst diese dunkle Empfindung, dies unbestimmte Verlangen nicht haben erklären können.

Von einer andern Säule gegen das Gedränge geschützt sah ein Mann – nur wenige Jahre älter der Zeit nach, aber viel älter an Charakter, (mit wie ruhelosen Gedanken, mit wie brennendem Ehrgeiz!) auf das dichte Gewühl, welches die Straße bedeckte, so weit der Blick reichte. Er hätte nicht mit Varney sagen können, daß er sich in diesem Gewühl zu Hause fühle. Denn ein Menschengewühl erfüllte ihn nicht mit dem Bewußtseyn seiner eigenen persönlichen Bedeutung, sondern zog ihn an seine mächtige Brust mit den tausend Banden einer gemeinsamen Bestimmung. Wer soll die hohen, und ruhelosen, und verwickelten Empfindungen erklären, mit denen ein edles und inbrünstiges Ruhmesstreben die Ehrfurcht gebietende Masse betrachtet, in welcher und für welche es lebt und arbeitet – das Volk? Diesem in Gedanken versunkenen, einsamen Manne waren die Illumination, die Festlichkeit, die Neugier, der Feiertag nichts, oder nur flüchtige Phantome und eitler Schein. Mit dem Auge seines Geistes sah er nur vor sich das Volk, den Schatten eines ewig sich erneuenden Publikums – Publikum zugleich und Richter.

Und unmittelbar neben ihm stand der zerlumpte Kehrmann, der vergeblich zurückgekehrt war, um seinem geliebten Pflegling für heute den letzten Dienst zu leisten. Von dem Gewühl aufgehalten, blickte er freudlos die schimmernden Lampen an, gefühllos wie die Steine unter seiner Obhut gegen die jugendliche Lebhaftigkeit des Einen und die erhabenen Träume des Andern. So waren, o London, inmitten dieses, dem König und dem Pöbel gemeinsamen Festtags in diesen drei Geistern die Elemente lebendig, die gehörig gemischt und verwendet, dein Laster und deine Tugend ausmachen – deinen Ruhm und deine Schmach deine Arbeit und deinen Luxus; die in dem Palast und in den Straßen – im Siechhaus und im Kerker heimisch sind. Genuß, der die Freude, Energie, welche die That, und Geistesstumpfheit, die den Mangel gebiert.


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