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Zwölftes Kapitel.

Rasche Berühmtheit und geduldiges Hoffen.

Percival war an diesem Tage auf seinem Wege nach der Stadt ungewöhnlich düster und gedankenvoll, obwohl Varney sein Gefährte und ganz in der guten munteren Laune war, die er seiner unvergleichlichen physischen Organisation und der Abgestumpftheit seines Gewissens verdankte. Als er endlich sah, daß sich seine Heiterkeit Percival nicht mittheilte, schwieg er und blickte letzteren argwöhnisch an. Ein fallendes Blatt macht ein Pferd scheu und ein Schatten den verbrecherischen Menschen.

»Sie sind traurig, Percival?« sagte er forschend, »was hat Sie trübsinnig gemacht?«

»Es ist nichts – oder zum wenigsten würde es Ihnen nichts zu seyn scheinen.« antwortete Percival, indem er sich zum Lächeln zwang, »denn ich habe gehört, daß Sie die Lehre von den Ahnungen verlachen. Wir Seeleute sind abergläubischer.«

»Welche Ahnung können Sie möglicherweise nähren?« fragte Varney, viel besorgter als Percival vermuthen konnte.

»Ahnungen sind nicht so leicht zu beschreiben, Varney. Aber, in der That, die arme Helene hat mich angesteckt. Haben Sie nicht bemerkt, daß, so fröhlich sie auch gewöhnlich ist, doch oft ein Schatten über sie kommt, ohne daß man die Ursache errathen kann? Und heute hat sie gesprochen, wie ich zuvor nur einen habe sprechen hören, und das war ein armer junger Seekamerad, der das wahre Bild der Gesundheit zu seyn schien, und der sich überredet hatte, er würde an der Schwindsucht sterben. Wir pflegten über ihn zu lachen, allein drei Monate nach seiner Heimkehr sah ich in der Zeitung, daß er an jener Krankheit gestorben war.«

Varney sann. Es war vielleicht rathsam, den so aufgetauchten Gedanken zu nähren; vielleicht war es auch klug, nun Helenens Lebensversicherungen zu erwähnen; es mußte dies so natürlich erscheinen – es konnte hinterdrein verhüten, daß das allzu geheim Gehaltene Verdacht erweckte.

»Mein lieber Percival,« sagte er nach einer kurzen Pause, »was Sie sagen, überrascht mich nicht. Helene hat mir selbst jene seltsamen Ahnungen mitgetheilt. Ich sehe, so wenig wie Sie, eine Ursache für dieselben, obwohl es eine falsche Freundlichkeit seyn würde, Ihnen zu verbergen, daß ich Madame Dalibard habe sagen hören, daß ihre Mutter in dem nämlichen Alter durch Symptome der Auszehrung bedroht gewesen sey. – Aber sie hat darnach noch viele Jahre gelebt. Nein, nein, beruhigen Sie sich, Helenens Aussehen ist, trotz der außerordentlichen Reinheit ihrer Gesichtsfarbe, nicht von der Art, wie bei Jenen, die von der schrecklichen Krankheit unseres Klima's bedroht sind. Die jungen Leute werden häufig von dem Gedanken eines frühen Todes heimgesucht. Je älter wir werden, um so unangenehmer wird dieser Gedanke; in der Jugend schwelgt man gewissermaßen darin. Diesem traurigen Gedanken (den Sie, wie Sie sehen, so gut wie ich bemerkt haben,) müssen wir nicht allein Helenens romantische Ahnungen, sondern auch eine edelsinnige Voraussicht zuschreiben, und ich kann mir das Vergnügen nicht versagen, Ihnen dieselbe mitzutheilen, wenn auch Helenens Zartgefühl über meine Indiscretion zürnen möchte. Sie wissen, wie hilflos ihre Tante ist. Nun hat Helene, die, wenn sie volljährig wird, Anspruch auf ein mäßiges Vermögen hat, mich überredet, ihr Leben zu versichern und nöthigenfalls das Geld zum Vortheil meiner Stiefmutter zu erheben, so daß Madame Dalibard nicht in bedrängter Lage bleibt, wenn ihre Nichte vor dem einundzwanzigsten Jahre sterben sollte. Das sieht Helenen ähnlich! – nicht wahr?«

Percival war zu bewegt, um zu antworten.

Varney fuhr fort – »Ich bitte Sie, gegen Helenen nichts davon zu erwähnen – es würde ihre Bescheidenheit kränken, wenn sie das Geheimniß ihrer guten Thaten durch Einen verrathen sähe, dem sie allein dieselben vertraute. Ich konnte ihren Bitten nicht widerstehen, obwohl es mir, entre-nous, nicht wenig zu schaffen macht, um die nöthigen Summen für die Prämien aufzutreiben. Apropos, dies führt mich auf einen Punkt, bei welchem ich mir gar nicht recht zu helfen weiß – wie überhaupt in solchen verwickelten Geldangelegenheiten. Aber Sie waren so gütig, mir die Fertigung einiger Gemälde für Laughton aufzutragen. Nun, wenn Sie mir einen Theil der Summe zukommen lassen wollten, sey es was es wolle, (denn ich mache Ihnen keinen Preis für meine Malerei,) so würden Sie mich sehr verpflichten.«

Percival wandte sein Gesicht ab, während er Varney's Hand drückte und sagte leise: »lassen Sie mich meinen Theil an Helenens göttlicher Fürsorge haben. Guter Gott! Sie, so jung, über das Grab hinaus zu sehen, und stets für Andre, für Andre!«

So verhärtet der Elende war, erfüllte Percival's Rührung und Anerbieten Varney doch mit einer Art von Gewissensangst. Er hatte sich des Liebhabers Gold aneignen wollen, wie es ihm nun angeboten ward; aber daß Percival es ihm nun selber anbieten mußte, blind für das Grab, zu welchem dieses Gold den Weg bahnte, das war ein Schreckniß, womit ihn seine wilde Gier und seine quälenden Befugnisse noch nicht vertraut gemacht hatten.

»Nein,« sagte er mit einem jener momentanen Scrupel, deren Einfluß sich die schwärzesten Verbrecher zuweilen überlassen – »nein. Ich habe Helenen versprochen, dies als ein Darlehen für sie zu betrachten, welches sie auch, wenn sie volljährig, zurückzahlen soll. Was Sie mir gewähren können, ist für die Gemälde. Das, was ich durch meine Arbeit erworben habe, kann ich nach Belieben verwenden. Und die Gegenstände der Gemälde – welche sollen es seyn?«

»Zu dem einen Gemälde wählen Sie Helenens Ausdruck und Stellung in dem Augenblicke, wo Sie zu uns in den Garten kamen und nennen Sie Ihren Gegenstand – ›die Ahnung‹.«

»Hm« sagte Varney zögernd. »Und der zweite Gegenstand?«

»Warten Sie auf diesen, bis das fröhliche Geläute der Glocken zu Laughton eine Braut begrüßt hat, und dann – und dann,« fügte Percival hinzu, mit einem Anflug seines natürlichen heitern Lächelns, »müssen Sie den Ausdruck wählen, den Sie finden können. Einmal unter meiner Obhut, und das eine Bild soll, geb' es der Himmel, lachen, das andere schelten!«

Während dieser Worte hielt das Cabriolet an Percival's Thür. Varney speiste an diesem Tage mit ihm, und wenn die Unterhaltung auch matt war, kehrte sie doch nicht zu dem Gegenstande zurück, welcher den heitern Sinn des Wirthes so verdüstert und die Heuchelei des Gastes so sehr auf die Probe gestellt hatte. Als Varney ging, was bald nach vollendeter Mahlzeit geschah, legte Percival schweigend eine Banknote von weit höherem Werthe in seine Hand, als Varney selbst von seiner Großmuth erwartet hätte.

»Dies ist für vier, nicht für zwei Gemälde,« sagte er, das Haupt schüttelnd; und dann fügte er hinzu: »nun, einige Jahre später wird die Welt sie nicht für zu theuer bezahlt halten. Adieu, mein Medici; ein Dutzend solcher Männer, und die Kunst würde in England aufleben.«

Als er allein war, setzte sich Percival nieder und überließ sich, das Gesicht in beide Hände stützend, der Schwermuth, welche seine Männlichkeit und der mit ächter Liebe verbundene Zartsinn ihm geboten hatten, in der Gegenwart eines Andern niederzukämpfen. Nie hatte er Helena so geliebt, als in dieser Stunde; nie hatte er so innig und tief ihren unvergleichlichen Werth gefühlt. Das Bild ihrer uneigennützigen, stillen, melancholischen Rücksicht auf jene strenge, unfreundliche gefühllose Verwandte, unter deren Schatten ihr junges Herz hätte verblühen müssen, schien ihm mit einer heiligen Weihe umgeben. Und fast haßte er Varney, daß der cynische Maler mit einem so geschäftsmäßigen Phlegma davon hatte reden können. Der Abend dunkelte; die ruhige Straße ward ganz still; die Einsamkeit ward ihm drückend; er erhob sich plötzlich, ergriff seinen Hut und ging langsam und immer noch schweren Herzens, fort.

Er gelangte nach Piccadilly, dem Hause, welches nach einander vom Herzog von Queensbury und Lord Hertford bewohnt wurde, und welches nun in Gemächer für Solche abgetheilt ist, die für ein Zimmer den Zins eines mäßigen Hauses bezahlen können, – und auf den breiten Stufen dieses Gebäudes, welche so viele Fußtritte in müßiger Lust fröhlich betreten haben, fiel Percival's Auge auf ein elendes, kümmerliches, zerlumptes Geschöpf, welches zu dem letzten Grade abgespannter Verzweiflung gekommen seyn mochte, wo es aufgehört hatte zu betteln, nicht mehr nach Stehlen fragte, und nicht zu leben wünschte. Percival stand still und rührte den Elenden an.

»Wie steht's, mein armer Bursch? Nehmt Euch in Acht – die Polizei wird Euch hier nicht ruhen lassen. Kommt, erhebt Euch! Da ist etwas, um eine bessere Herberge zu finden.«

Das Silberstück fiel unbeachtet auf die Steine Das zerlumpte Wesen hob nicht einmal den Kopf empor, aber eine leise, gebrochene Stimme murmelte:

»Es ist zu spät nun – mögen sie mich in's Gefängniß bringen – mögen sie mich über's Meer nach Botany Die Botany Bay wurde 1770 Schauplatz der ersten Landung der Briten an der Ostküste Australiens durch James Cook. Die Anlandung deportierter britischer Strafgefangener, worauf im Text angespielt wird, erfolgte aber ab 1788 nicht in der Botany Bay, sondern in der nördlich gelegenen und später Port Jackson benannten Bucht. schicken – mögen sie mich hängen, wenn sie wollen. Jetzt bin jetzt so gut wie nichts, jetzt – nichts!«

So verändert die Stimme auch war, fiel sie Percival doch als bekannt auf. Er blickte nieder und erkannte das verfallene Gesicht.

»Steh' auf, Mensch, steh' auf!« sagte er fröhlich. »Sieh', die Vorsehung schickt Dir einen alten Freund in der Noth, um Dich zu lehren, daß Du nie wieder verzweifeln sollst.«

Der herzige Ton rührte und ermunterte das arme Geschöpf mehr als die Worte. Mechanisch erhob er sich, und ein mattes dankbares Lächeln schwebte über die verheerten Züge, als er St. John wieder erkannte.

»Nun, was soll das? Ich dachte immer, es sey heutzutage ein blühendes Geschäft, wenn man an einer Ecke steht.«

»Ich habe keine Ecke. Ich habe sie verkauft!« stöhnte Beck. »Ich tauge nun zu nichts mehr, als durch die Straßen zu schleichen, und zu stehlen und gehängt zu werden, wie die übrigen unseres Gleichen! Dank Ihnen freundlich, Sir,« (und Beck zerrte an seiner Stirnlocke,) »aber, erlauben Ihre Gnaden, es ist doch aus mit mir!«

»Ach, was! sagt' ich Dir nicht, wenn Du einen Freund brauchtest, solltest Du zu mir kommen? Warum zweifelst Du an mir, närrischer Kerl? Heb' diese Schillinge auf und verschaff' Dir ein Bett und ein Abendessen. Morgen, um neun Uhr, komm' zu mir; Du weißt, wo – dasselbe Haus in Curzonstreet; Du sollst mir dann Deine ganze Geschichte erzählen und es müßte schlimm stehen, wenn ich Dir nicht einen andern Posten kaufe oder sonst wie für Dich sorge.«

Der arme Beck schwankte einige Augenblicke auf seinen dürren Beinen wie ein Betrunkener, und dann fiel er plötzlich auf die Knie, küßte den Rand von seines Wohlthäters Rock und weinte. Diese Thränen erleichterten ihn; sie schienen die Verzweiflung aus seinem Herzen zu waschen.

»Still, still! oder wir werden einen Auflauf um uns versammeln. Du wirst nicht vergessen, mein armer Freund, Nr. –, Curzonstreet – nenn Uhr Morgens. Mach' nun geschwind, nimm eine Mahlzeit und geh' zu Bett: Du scheinst dessen in der That zu bedürfen. Ach! wollte der Himmel, alle Armuth in dieser großen Stadt stünde hier in Deiner Person, und wir könnten ihr so leicht helfen, als ich Dir helfen kann!«

Bei diesen letzten Worten war Percival fortgegangen und als er sich umsah, hatte er die Freude zu sehen, daß ihm Beck langsam nachhinkte und der mürrischen Frage eines trotzigen Polizeimanns entgangen war, der vermuthlich seinen natürlichen Unwillen über die Kühnheit ausgedrückt hatte, daß ein so zerlumptes Skelett nicht daheim auf seinem Kirchhofe blieb.

Als er in einen der Clubs in St. James Street trat, fand Percival eine kleine Gruppe von Politikern in eifrigem Gespräche über ein neues Buch, welches nur seit ein Paar Tagen erschienen war, aber die öffentliche Aufmerksamkeit bereits in jener starken Weise gefesselt hatte, welche stets eine Aera in eines Schriftstellers Leben, bisweilen eine Epoche in der Literatur einer Nation bildet. Die Zeitungen waren voll von Auszügen aus dem Werke – hundert Vermuthungen sprach man aus über die Autorschaft. Wir brauchen kaum zu sagen, daß ein Buch, welches so viel Aufsehen macht, eine populäre Idee des Tages enthalten, ein populäres Bedürfniß befriedigen muß. Neun und neunzig unter hundert Mal ist der Inhalt einer solchen Schrift ebendeshalb politisch und so war es in dem gegenwärtigen Falle. Man muß sich erinnern, daß in diesem Jahre das Parlament während des größten Theiles des Monats October beisammen war, daß es dasselbe Jahr war, in welchem die Reformbill vom Oberhause verworfen wurde, und daß die öffentliche Meinung in unserer Zeit nie aufgeregter gewesen war. Jenes Werk erschien während des kurzen Zwischenraums zwischen der Verwerfung der Bill (8. October) und der Prorogation Bezogen auf das Parlament des Vereinigten Königreichs bedeutet die Prorogation (›Aufschub‹) den Abbruch der laufenden Session. Geschäfte, die in der laufenden Session nicht abgeschlossen wurden, verfallen. des Parlaments (20. Oktober). Und was dasselbe noch merkwürdiger machte, war der Umstand, daß seine kräftigen Perioden, während es das leidenschaftliche Gepräge der Zeit trug, doch ein so ruhiges und ernstes Räsonnement enthielten, daß dasselbe den Argumenten des Advokaten zugleich etwas von der Unparteilichkeit des Richters mittheilte. – Ungewöhnlich abstract und ungesellig, (denn trotz seiner Jugend und der früher erwähnten Blödigkeit, war er doch gewöhnlich aufmerksam genug auf alles, was um ihn her vorging,) schenkte Percival den Erörterungen, welche rings um ihn her die Runde machten, wenig Beachtung, bis ein Subalternbeamter, mit dem er oberflächlich bekannt war, ihm ein kleines Buch hinschob, und sagte:

»Sie haben das natürlich gesehen,St. John? Zehn gegen Eins: Sie errathen den Verfasser nicht. Gewiß ist es nicht B–m, obwohl der Lord-Kanzler Energie genug für so etwas besitzt. R– meint, es habe etwas vom Charakter S–r's.«

«Könnt' es wohl M–y geschrieben haben?« fragte schüchtern ein junges Parlamentsglied.

»M–y! – ganz ähnlich seinem unvergleichlichen Style, herrlich! Sie können nicht viel von M–y gelesen haben, scheint mir's,« sagte der Beamte mit dem ächten Hohnlächeln eines Beamten und eines Kritikers.

Das junge Parlamentsmitglied hätte in eine Nußschale kriechen können.

Percival blickte mit sehr flauer Theilnahme in das Buch. Aber trotz seiner Stimmung und trotz seiner geringen Neigung für politische Schriften, ergriff und packte ihn die Stelle, die er aufgeschlagen hatte, unwillkürlich. Obwohl der Hohn des Beamten gerecht, und der Styl nicht dem M–y's zu vergleichen war, (wessen Styl wäre dem auch zu vergleichen?) so zeigte doch der Strom kräftiger Worte, angepaßt kräftigen Gedanken, fast einer an den andern gefügt, die Ruhe des Genius und den Ernst des Denkens: – die Abwesenheit alles weibischen Flitters, das Kräftige und Markige, kam Percival bekannt vor. Er glaubte den tiefen Baß der ernsten Stimme John Ardworth's zu hören, wenn eine Wahrheit die Vertheidigung desselben, oder eine Falschheit seinen Zorn erregte. Verwirrt legte er das Buch nieder. Konnte es der obscure Rechtsgelehrte in Gray's Inn seyn, (der noch an diesem Morgen sein jugendliches Mitleid erregt,) welcher sich zu solchem Rufe erhob? Er belächelte seine eigene Leichtgläubigkeit. Aber mit mehr Aufmerksamkeit lauschte er den enthusiastischen Lobsprüchen ringsum, und den verschiedenen Muthmaßungen, von denen sie begleitet waren. Bald kehrte indeß seine frühere Schwermuth zurück – das verworrene Sprechen begann ihn zu erschöpfen und zu ermüden. Er stand auf und ging wieder in die freie Luft hinaus. Er streifte zwecklos draußen, gerieth aber unwillkürlich in die Straße, wo er Helenen zuerst gesehen hatte. Einige Augenblicke blieb er unter der Colonade stehen, welche sich bei Beck's altem verlassenem Posten befand. Sein Stillstehen lenkte die Aufmerksamkeit eines jener unglücklichen Wesen auf ihn, die wir unsere Straßen schänden, und in unsern Spitälern umkommen lassen. Sie näherte sich, und redete ihn an – ihn, dessen Herz so voll von Helenen war! Er schauderte und ging weiter. Endlich blieb er vor den Thürmen der Westminsterabtei stehen, auf denen der Mondenglanz feierlich ruhete; und auf diesem Platze theilte nur ein Mann seine Einsamkeit. Eine Gestalt mit untergeschlagenen Armen lehnte am Eisengeländer bei der Statue Cannings George Canning (1770-1827), britischer Politiker, der als Außenminister und für kurze Zeit als Premierminister diente. Als Außenminister traf er fünf Jahre lang wegweisende Richtungsentscheidungen prägte und Großbritanniens außenpolitischen Kurs auch für die nachfolgenden Jahrzehnte nachhaltig., und ihr Blick überschaute zugleich die Mauern des Parlamentshauses, in welchem alle Leidenschaften ihren Krieg führen, und die herrliche Abtei, welche für die Großen eine Walhalla gewährt. Die tiefe Schweigsamkeit der Gestalt, die mit der Stille der Scene so sehr im Einklang stand, hatte mehr Wirkung auf Percival, als die lärmendste Menge auf ihn hervorgebracht haben würde. Neugierig sah er sich beim Vorübergehen um, und stieß einen Ausruf aus, als er John Ardworth erkannte.

»Sie, Percival!« sagte Ardworth – »ein seltsamer Ort der Zusammenkunft um diese Stunde! Was kann Sie hierher führen?«

»Nur Laune, denke ich – und Sie?« sagte Percival, während er seinen Arm in den Ardworths legte.

»Zwanzig Jahre später will ich Ihnen sagen, was mich hieher geführt hat!« antwortete Ardworth, während er langsam nach Whitehall zurückging.

»Wenn wir dann noch leben!«

»Wir leben, bis unsere Bestimmung hienieden erfüllt ist; bis wir das Unsere in dieser Sphäre genützt haben, und aufsteigen, um einer andern zu nützen. Denn die Seele ist wie eine Sonne, nur mit einem edlen Unterschied; die Sonne ist auf ihre Bahn beschränkt; Tag um Tag besucht sie die nämlichen Länder, vergoldet dieselben Planeten, oder steht vielmehr, wie die Astronomen sagen, als regungsloser Mittelpunkt bewegter Welten; die Seele dagegen, wenn sie scheinbar in die dunkle Tiefe sinkt, steigt neuen Bestimmungen, frischen, vorher unbesuchten Regionen entgegen. Was wir Ewigkeit nennen, ist vielleicht nur eine endlose Reihe solcher Uebergänge, welche die Menschen Tod nennen, das Verlassen einer Heimath nach der andern, immer zu schöneren Scenen und erhabeneren Höhen. Zeitalter um Zeitalter kann der Geist, der herrliche Nomade, sein Zelt aufstecken, nicht verdammt, in dem düstern Elysium der Heiden zu ruhen, sondern allüberall seine Elemente – Schaffen und Sehnen – mit sich führend. Warum sollte die Seele jemals ruhen? Gott, ihr Urgrund, ruht nimmer. Während wir sprechen, entzünden sich neue Welten – werfen Sonnen ihre Dunstkreise ab – und verdichten sich Dunstkreise zu Welten. Der Allmächtige bekundet sein Daseyn durch Schaffen. Glauben Sie, daß Plato ruhe und daß Shakespeare jemals auf einer Sonnenwelt müßig liege? Arbeit ist das wahre Wesen des Geistes wie der Gottheit; Arbeit ist das Fegefeuer der Irrenden: sie kann die Hölle der Schlechten werden, aber nicht minder ist Arbeit der Himmel der Guten!«

Ardworth sprach ungewöhnlich eifrig und leidenschaftlich; und seine Ansicht von der Zukunft war bezeichnend für seine eigene thätige Natur: denn einem Jeden von uns ist es weislich anheimgegeben, mitten im undurchdringlichen Nebel sein eigenes Ideal vom künftigen Seyn zu gestalten. Der kriegerische Sohn des kalten Nordens verlegte feine Hela unter den Schnee, und seinen Himmel in die Festmahle nach siegreichem Kriege. Der vom glühenden Sommer versengte Sohn des Ostens dachte seine Hölle im Feuer, und sein Elysium bei kühlen Bächen; der müde Landmann seufzt sein Lebelang nach Ruhe, und Ruhe lassen ihn seine Träume jenseit des Grabes erwarten; der geniale Arbeiter – stets jugendlich – stets glühend – rühmt die Mühe als die herrliche Entwickelung des Seyns, und springt erfrischt über den Abgrund des Grabes, um von Stern zu Stern den Fortschritt fortzusetzen, der ihm zugleich als höchstes Glück und als nothwendiges Gesetz erscheint. So mit der Phantasie eines Jeden! Weisheit, die unfehlbar ist, und Liebe, die nie schlummert, wacht über der Dunkelheit – und läßt Dunkelheit walten, damit wir träumen können!

»Ach!« sagte der junge Zuhörer – »welchen Vorwurf sprechen Sie nicht gegen Diejenigen aus, die gleich mir, der Kraft bar, welche jede Mühe mit Erfolg krönt, wenig im Leben übrig haben, außer ein müßiges Hinleben. Nicht Alle haben das Talent, zu schreiben, oder zu reden, oder zu spekuliren, oder –«

»Freund,« unterbrach ihn Ardworth gelassen, »belügen Sie sich nicht selbst. Kein Mensch lebt auf Erden (abgesehen von Wahnsinnigen,) der nicht die Kraft in sich hat, Gutes zu thun. Was können Schreiber, Redner, Spekulanten mehr thun? Haben Sie je eine Bauernhütte betreten – reisten Sie je in einem Postwagen – sprachen Sie je mit einem Bauern im Felde, oder standen bei einem Handwerker am Webstuhl, ohne zu finden, daß all' diese Leute ein Talent hatten, welches ihnen abging, etwas wußten, was ihnen unbekannt war? Das unnützeste Geschöpf, das je in einem Club gähnte oder unter Calabriens Sonne das Ungeziefer seiner Lumpen zählte, darf Mangel an Geisteskraft nicht zu seiner Entschuldigung anführen. Was die Menschen entbehren, ist nicht Talent, sondern Vorsatz – mit andern Worten, nicht die Kraft zum Erwerben, sondern der Willen zur Arbeit. Sie, Percival St. John, Sie affektiren Niedergeschlagenheit, daß Sie nicht Ihren Nutzen haben sollten; Sie, mit dem frischen warmen Herzen, Sie mit dem reinen Enthusiasmus für alles Frische und Gute – Sie, der selbst Varney bewundern kann, weil Sie bei all' dem Flitterwesen des Mannes, doch Kunst und Talent erkennen, obwohl es auf der Leinwand verschwendet wird; Sie, der Sie nur nach Ihrem Gefühl zu leben brauchen, um ringsum Segen auszustreuen – Pfui, thörichter Knabe! – Sie werden Ihren Irrthum eingestehen, wenn ich Ihnen sage, warum ich aus meinen Gemächern in Gray's Inn komme, um die Mauern zu sehen, in denen Hampden, ein schlichter Landsquire gleich Ihnen, mit schlichten Worten die Tyrannei von acht Jahrhunderten erschütterte.«

»Ardworth, ich will nicht abwarten, bis Sie mir sagen, was Sie hieher führte. Ich habe ein Geheimniß durchschaut, welches Sie, unfreundlich genug, vor mir hatten. Diesen Morgen standen Sie auf und fanden sich berühmt; diesen Abend sind Sie gekommen, um die Scene der Laufbahn zu betrachten, auf welche Ihr Ruf Sie schneller führen wird« –

»Und auf das Grabmal, womit sich der stolzeste Ehrgeiz, den ich nähren kann, auf Erden am Ende begnügen muß! Ein armseliger Schluß, wenn hier alles zu Ende ginge!«

»Indeß hab' ich recht,« sagte Percival mit jugendlicher Freude. »Sie sind es, dessen Lob mein Ohr erfüllt hat. Sie, lieber – theurer Ardworth! Wie freu' ich mich darüber!«

Ardworth drückte herzlich die ihm dargebotene Hand. »Ich würde Ihnen morgen mein Geheimniß vertraut haben, Percival; da Sie's kennen, so bewahren Sie es für jetzt. Ein Wunsch meines Wesens ist befriedigt worden, ein Schmerz hat Zerstreuung gefunden; im Uebrigen kann jedes Kind, welches mit aller Kraft einen Stein in's Wasser wirft, ein Geplätscher hervorbringen; ein Thor aber wäre das Kind, wenn es wähnte, das Geplätscher sey ein Zeichen, daß der Lauf eines Stroms verändert worden«

Hier brach Ardworth kurz ab und Percival, den ein klarer Gedanke erfüllte, der ihm plötzlich gekommen, rief:

»Ardworth – Ihr Verlangen, Ihr Ehrgeiz ist, in's Parlament zu kommen; es muß bald eine Auflösung stattfinden – der Erfolg Ihres Buches wird Sie manchem populären Wähler empfehlen. Alles was Ihnen fehlen kann, ist die Summe für die nothwendigen Ausgaben. Borgen Sie diese Summe von mir – zahlen Sie sie zurück, wenn Sie ein Kabinets- oder Staatsanwalt sind. So sey es!«

Ein Glanz, daß selbst bei dem matten Lampenlicht das Glühen der Wange, das Leuchten des Auges sichtbar war, überstrahlte Ardworth's Gesicht. Er empfand in diesem Augenblick, was ein Ehrgeiziger kaum fühlen muß, wenn das Ziel, welches er dämmernd und fern sah, plötzlich vor ihn gerückt ist. Aber seine Vernunft hielt selbst gegen diese starke Versuchung Stand.

Er umschlang mit seinem Arme den schlanken Jüngling und zog ihn mit dankbarer Rührung an sein Herz, indem er sagte:

»Und was könnte ich, wenn ich nun im Parlament wäre, meine Carriere aufgegeben und keine regelmäßigen Subsistenzmittel hätte – was könnte ich weiter seyn, außer ein käuflicher Abenteurer? Ich würde nur einen gefährlichen Krieg zwischen meinen Bedürfnissen und meinem Gewissen führen können. Während ich dem Rufe, dem Schatten, nachjagte, würde ich das Wesentliche, die Unabhängigkeit verlieren – und der Gedanke allein würde meine Zunge lähmen. Nein, nein – mein großmüthiger Freund. Wie Arbeit des Menschen erste Erheberin ist, so ist Geduld das Wesen der Arbeit. Zuerst lassen Sie mich den Grund legen, dann will ich die Höhe des Thurmes berechnen. Lassen Sie mich zuerst von den Großen unabhängig seyn – dann will ich der Vertreter der Niederen werden. Still! versuchen Sie mich nicht mehr – bringen Sie mich nicht um meine Selbstachtung! Und nun, Percival,« fuhr Ardworth mit dem Tone eines Menschen fort, welcher auf einen ganz neuen Gedanken ablenken will, »lassen Sie uns für jetzt diese ernsten Dinge vergessen, und ganz fröhlich und menschlich seyn. › Nemo Mortalium omnibus horis sapit.‹ › Neque semper arcum tendit Apollo.»Kein Sterblicher ist jederzeit klug.« (Nach Plinius dem Älteren, Naturalis historia VII, 131.) »Apollon spannt nicht immer seinen Bogen.« (Horaz Carmina II, 10, 19f.) D. h. der Gott sendet nicht immer tödliche Pfeile, sondern greift auch bisweilen zur Kithara. Wollen wir nicht eine Zigarre rauchen?«

Percival staunte. Er war noch nicht mit den excentrischen Launen seines Freundes vertraut. »Heißen Negus Punsch bzw. Glühwein. und eine Cigarre!« wiederholte Ardworth, während ein Lächeln von Scherz und Humor um seine Lippen spielte und aus seinen tiefliegenden Augen hervorglänzte

»Sprechen Sie ernsthaft?«

»Nicht ernsthaft – ich bin ernsthaft genug gewesen,« (dabei seufzte Ardworth,) »während der letzten drei Wochen. Wer geht nach Korinth Korinth galt unter den altgriechischen Städten mit Athen und Theben als die reichste. Sie war zudem einer der wichtigsten Orte des Aphroditekults. Laut einigen Quellen gab es beim Tempel der Aphrodite mehr als eintausend Tempeldienerinnen (›Tempelprostitution‹). Korinth war auch Gastgeber der Isthmischen Spiele. – ›Weisheit‹ hingegen war eher das Attribut Athens., um weise, oder nach dem Weinkeller, um ernsthaft zu seyn?«

»Nun, dann unterschreibe ich Negus und Cigarre,« sagte Percival lächelnd; und er hatte keine Ursache, seine Nachgiebigkeit zu bereuen, da er Ardworth nach einem der Orte begleitete, welche von diesem seltsamen Manne in seinen seltenen Stunden der Abspannung besucht wurden

Dann an seinem Lieblingstisch sitzend, der, zum Glück leer war, das Haupt behaglich zurückgelehnt, den dampfenden Negus vor sich, fuhr John Ardworth fort, bis die Glocke drei schlug, Witz auf Witz, Scherz auf Scherz und Spaß auf Spaß von sich zu geben, ohne je zu erlahmen, ohne Unterbrechung, so vielseitig, reichlich, rasch und unwiderstehlich, daß sich Percival von aller Melancholie befreit fühlte, während er zum ersten Mal in seinem Leben die überströmende Heiterkeit eines ernsten, plötzlich entfesselten Gemüthes genoß, dessen ganze Geisteskraft im Witz aufleuchtete, dessen ganze Leidenschaft im Humor dahinströmte. Und das war der Mann, den er bemitleidet hatte! – dem er keine Sonnenseite des Lebens zutraute! Wie viel größer würde sein Mitgefühl und sein Staunen gewesen seyn, hätte er Alles gekannt, was in den wenigen Wochen durch diese schwermüthige, aber schweigende Brust gezogen war, welche gerade durch ihre Fröhlichkeit bewies, wie tief ihre Trauer seyn mußte!


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