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Achtundzwanzigstes Kapitel.

Das Schicksal geht ernst seine Bahn. In der englischen Originalausgabe lautet der Titel: »The Lots Vanish within the Urn.« (Die Lose in der Urne verschwinden.)

Wie anders – o wie anders dagegen die heilige Scene im gegenüber liegenden Zimmer. Als jenes Lachen durch die alten Hallen dröhnte, murmelte Helene, in einer süßen Ruhe ihres, für den Augenblick nachgelassenen Schmerzes – dem starken Sohn der Erde, der an ihrer Seite kniete, Trost und lächelnde, engelgleiche Hoffnung zu. Die fürchterliche Fröhlichkeit unterbrach ihre leisen Worte und erstarrte Ihr sanftes Lächeln.

»Es ist nur Deiner Tante Freudenruf!« sagte der junge Ardworth – »mein Vater hat ihr wahrscheinlich gerade den Sohn wiedergegeben.«

»Wie glücklich mich der Gedanke gemacht hat – Du hast mir aber Deine Nachricht nur so flüchtig mitgetheilt, daß ich gern mehr davon hören möchte. Aber ich fühle, meine Zeit ist gemessen. Wenigstens möchte ich meine Tante noch einmal sehen, ehe ich sterbe – oder– kann das nicht seyn– so sage ihr doch, daß ich, während meine Lippen ihre Stirn küßten, für sie gebetet habe – es war am letzten Abend – am letzten Abend – ach, in der That der letzte.«

»O sprich nicht so, Helene, Geliebte – sprich nicht so – Dein Schmerz ist vorüber – Du wirst Dich wieder erholen – Du wirst leben!«

Der Arzt näherte sich ihm, hielt warnend den Finger empor und flüsterte leise:

»Bezähmen Sie sich – sie muß ruhig gehalten werden.«

John Ardworth blickte auf – sah Helenen an und lächelte.

Der Arzt legte seine Hand auf Ardworths Schulter und gab ihm ein Zeichen sich zu entfernen.

»Noch nicht – noch jetzt nicht,« sagte Helene, »ein Wort noch – und das unter vier Augen.«

Der Doktor zog sich zögernd zum Fenster zurück.

»Cousin,« flüsterte sie dann, während sich ein leichtes Erröthen über ihr Antlitz stahl, das ihm den falschen Schein von Gesundheit und Jugendfrische gab – »tröste Percival – Du bist stark und weise – wache über ihn; vielleicht vereinigen wir uns in diesem Wachen.«

Damit preßte sie seine Hand und, die Augen nach oben gewendet, schmolzen ihre Gedanken in ein Gebet. Eine Freude aber – so traurig sie auch war, hatte doch das Schicksal noch für das Todtenbett der Dulderin – Percival kehrte zurück, ehe Alles vorüber war. In einem von jenen in letzter Zeit bei ihr so häufigen Träumen hatte sie seine Ankunft wohl eine volle Stunde, ehe er eintraf, geahnt. Als er in das Zimmer stürzte, öffnete sie die Arme und sagte:

»Nur deshalb habe ich noch geweilt!«

Und Percivals Hand war die letzte, die sie gefaßt hielt – Percivals Zügen galt ihr letztes Lächeln und an diesem treuen, braven Herzen, das kaum weniger rein als das ihre schlug, hauchte sie ohne Pein das junge Leben aus.


Varney kehrte an demselben Abend nach Hause zurück und hielt mit Greville und dem älteren Ardworth eine lange Konferenz. Er selbst stimmte jetzt für jede nur mögliche ärztliche Untersuchung und seine Worte, wie die Art, mit der er sich dabei benahm, brachten des sonst so scharfsinnigen Soldaten Glauben an Becks fürchterliche Entdeckung zum Wanken.

Bei der Untersuchung wurden keine Thatsachen außer natürlichen Ursachen entdeckt, die Helenens Tod beschleunigt haben konnten. Keine Spur von Gift ward gefunden, nicht einmal ein Zeuge konnte auftreten, der auch nur Varney oder Madame Dalibard zu beschuldigen vermochte, die gewöhnlichen Arzneimittel gereicht zu haben. Kapitän Greville hatte, als er an Beck die St. John Livree erkannte, seine Chaise (wie wir gesehen haben) halten lassen, um sich einfach zu erkundigen, ob Percival in der Halle wäre, und als er später, (da er jenen zu sich einsteigen ließ, um die Deutung der abgebrochenen fürchterlichen Sätze zu hören, mit denen der Unglückliche antwortete,) von Grausen über das erfüllt war, was er vernahm, so ließ ihm seine Aufregung gar keine Zeit, die Wahrheit des Mitgetheilten in Frage zu ziehen. Die so unzusammenhängend vorgestoßene Erzählung aber – so flüchtig aufgenommen und von einem Tode gefolgt, der ein zerrüttetes Hirn des Erzählenden verrieth – ward jetzt als unglaubbar bei Seite geworfen. Eine chirurgische Untersuchung Becks erkannte auch die Gehirnhaut und das Hirn selbst mit Blut überfüllt, wie das bei einem Delirium oder fieberischen Entzündungen dieses Organs der Fall ist; der kleine Punkt am Handgelenk, der, wie man glaubte, von irgend einem rostigen Nagel herrührte, erweckte bei einem, dessen Konstitution man für so durch und durch verderbt und ungesund hielt, ebenfalls keinen Verdacht, und wenn er selbst mit der ersten Ursache jenes tödtlichen Zufalls in Verbindung gestanden hätte. Das Erkenntniß über die beiden Todten fiel deshalb gerade so aus, wie es Varney gar nicht zu zuversichtlich gehofft hatte.

Wenn übrigens auch noch in Greville's Herzen einige Zweifel zurückblieben, so übereilte er sich keineswegs, sie auszusprechen. Weshalb auch so nutzlos Percivals Verzweiflung mit diesem Entsetzen mischen, oder einen solchen Schandfleck auf den wackeren Namen der St. John schleudern, ohne selbst die Hoffnung dabei zu haben, vom Gericht Hülfe und Bestrafung der Schuldigen erlangen zu können.

Sobald die Aerzte ihr Gutachten über die Leichen ausgesprochen, nahm Varney formellen Abschied von Greville und schaffte die Gestalt Lucretia Dalibards aus dem Haus, – die Gestalt, denn der Geist war dahin. – Jener rastlose, fruchtbare, nimmer ruhende Geist, der seine Pläne mit der fast übernatürlichen Energie eines Teufels verfolgt hatte, war in Nacht und Chaos geschleudert. Fest und sicher gebunden– denn zu Zeiten wurden ihre Anfälle fürchterlich und nahmen ganz jenen zerstörenden, mörderischen Charakter an, der früher ihre Sinne beherrscht hatte – wurde sie in den Wagen gelegt, neben den scheu vor ihr zurückweichenden Gefährten in Verbrechen und Sünde. Wie die Pferde aus dem Thore stoben, schellte die Todtenglocke für ein doppeltes Begräbniß.

Lang schon, ehe er London erreichte, hatte sich Varney seiner fürchterlichen Reisegefährtin entledigt. Der Wagen mußte an den eisernen Gittern eines großen Gebäudes – etwas vom Hauptweg ab – halten, und die Thore der Irrenanstalt schlossen sich hinter Lucretia Dalibard.

Mit der ganzen Kühnheit seines Temperaments und auch vielleicht durch den verzweifelten Stand seiner eigenen Angelegenheiten, wie durch Alles, was er zu fürchten hatte, getrieben. ging Varney, sobald er London erreicht hatte, augenblicklich daran, die Summen zu erheben, die aus Helenens Leben versichert waren. Da Lucretia nämlich, zu deren Besten dies Depositum gemacht, durch ihren Wahnsinn unzurechnungsfähig geworden, so sprach das Gesetz den Genuß solcher Summen, auf die sie ein Recht hatte, denen zu, zu deren Gunsten sie, noch bei Verstande, ein Testament ausgestellt. Mit Grabmans Hülfe wurde solch ein Dokument zu Gunsten Varney's leicht hergestellt und bescheinigt, und Varney reklamirte jetzt die fälligen Summen. Die erste Office Bankinstitut. aber, an die er sich wandte, weigerte die Auszahlung. Es schienen starke und legale Zweifel zu herrschen, ob die Person, die sich hier der Lebensversicherung stellt, auch wirklich dem Leben Helenens so nahe gestanden habe, als die klugen Skrupel des Gesetzes verlangen. Schon das Anlegen so bedeutender Summen auf die Unwahrscheinlichkeit des Absterbens eines so jungen, kräftigen Wesens, mit dem der Versicherung so schnell folgenden Tode, erregte Verdacht; einzelne in und bei Laughton aufgelesene Gerüchte vereinigten sich dann mit dem Resultat der Nachforschungen über Varney's früheres Leben, ebenso wie die verdächtigen Umstände, die seines Oheims Tod begleiteten und die gar scharfsinnig ausgemittelt und verglichen wurden. – Das Alles veranlaßte die gesetzmäßigen Anwälte der Office, es bei diesen Ansprüchen auf eine Untersuchung ankommen zu lassen.

Indeß entschloß sich Varney – durch seine Schulden gedrängt, wie Tag und Nacht von Furcht gefoltert, seine Fälschung der englischen Bank entdeckt zu sehen – nach Frankreich zu gehen und dort den Lauf des Prozesses abzuwarten. Er traf deshalb die nöthigen Vorbereitungen, übertrug seine Sache an Grabman, dem er, da ihm die auf Becks Entdeckung gesetzte Belohnung entgangen war, Entschädigung aus den Geldern der Assekuranz versprach, und wollte eben an Bord des Bootes gehen, das ihn nach Boulogne führen sollte, als er ziemlich unsanft auf die Schulter geklopft wurde, während eine rauhe Stimme dazu sagte:

»Mr. Gabriel Varney, Sie sind mein Gefangener!«

»Weshalb? Für irgend eine erbärmliche Schuld?« rief Varney verächtlich.

»Wegen Fälschung der Bank von England.«

Varney's Hand fuhr unter seine Weste, der Gerichtsdiener ergriff sie aber noch zur rechten Zeit und entrang ihm das Messer. Einmal eines Verbrechens bezichtigt, bei dem ihm kein Leugnen half, – und ob es das kleinste war, das sein Gewissen beschwerte – überließ sich jetzt Varney der wildesten, fürchterlichsten Verzweiflung. Hatte er auch oft, nicht allein gegen Andere, sondern sogar gegen sein eigenes stolzes Herz geprahlt, mit welcher Leichtigkeit er das Leben, sobald es ihm keinen Genuß mehr biete, selbst und durch eine Handlung seines freien Willens von sich schleudern konnte – obgleich er Lucretia's Giftring bei sich trug, und Tod – wenn auch fürchterlicher Tod in seiner Gewalt stand – so war doch Selbstmord der letzte Gedanke, der ihn beschlich. Die krankhafte Reizbarkeit der Einbildungskraft, die ihm, ob nun im Geist oder in der That, jene sonderbare Lust an allem Fürchterlichen eingeflößt, diente jetzt dazu, ihm den Tod in all' den gräßlichen Bildern und Gestalten vor das innere Auge zu führen, mit denen nur solche vertraut werden, die allein in das Grab selbst – auf Ratten und Würmer und die scheußlichen Fortschritte der Verwesung starren. Es war nicht die Verzweiflung des Gewissens, die ihn ergriff – es war das einzige Anklammern an das Leben – nicht die Reue der Seele, die schlief noch in ihm, ein zu edles Gefühl für solchen Verbrecher – sondern nur grobe physische Angst. Denn wie die Furcht des Tigers, einmal erweckt, in Verhältniß der sonstigen Natur des Thieres, das Furcht nicht kennt, überwältigender ist als die des Hirsches, so ging Varney's Keckheit, die nur aus der Vollkommenheit seiner Organisation der Nerven entsprang und durch kein einziges moralisches Gefühl unterstützt wurde– einmal übermannt, in die erbärmlichste Feigheit über.

Mit seiner Kühnheit wich aber auch seine List. Auf Anrathen seines Advokaten, sich schuldig zu bekennen, gehorchte er, und das Urtheil – lebenslängliche Deportation erleichterte im ersten Augenblick sein Herz; als sich aber seine Einbildungskraft in der Dunkelheit seiner Zelle alle die wirklichen Schrecken jener Strafe auszumalen begann – die vielleicht weniger Fürchterliches für den ungebildeten Sträfling der niederen Stände hatte, der an Arbeit und rohe Gemeinschaft gewöhnt, nicht so verzogen wie er selbst, in all' seinen weichlichen, fast weibischen Bedürfnissen war – das geschorene Haar, des Sträflings Tracht, die tausend Entbehrungen, die Sklavenarbeit, da erschien ihm Verbannung so schrecklich wie das Grab selbst. In diesem niedergedrückten Zustande, der bis zum Wahnsinn ging, schrieb er an das Ministerium des Innern, und erbot sich, Geheimnisse zu enthüllen, die mit bis dahin noch unentdeckten und dem Gericht entgangenen Verbrechen zusammenhingen, wenn man dafür sein eigenes Urtheil widerrufen oder es wenigstens in die mildere Form gewöhnlicher Deportation verwandeln wolle. Keine Antwort erfolgte hierauf. Als aber Andere, die seine List für sich gewonnen und die, wenn sie auch sein Vergehen mißbilligten, doch (mit jenen anderen Verbrechen unbekannt) einige Entschuldigung darin sahen – sich zu seinen Gunsten verwandten, erwiederte man ihnen: »Sollen wir einen Fälscher begnadigen, weil er sich selbst als den Mitschuldigen eines Mordes erklären will?«

Verschiedene Einzelheiten über sein früheres Leben, die jetzt durch die unermüdlichen Nachforschungen der Lebensversicherung, die er selbst durch seine Anforderungen veranlaßt hatte, an's Licht gebracht wurden, bestärkten das Ministerium noch in seiner Meinung über ihn. Nicht eine einzige Gunst, die ihn von dem verworfensten, mit ihm zugleich verbannten Verbrecher unterscheiden konnte, ward ihm gewährt.

Der Gedanke an den Galgen verlor alle seine Schrecken. Hier war ein Galgen für jede Stunde – keine Hoffnung – kein Entrinnen. Schon hatte sich ihm jene dunkle Zukunft, die das »auf ewig« in sich schließt, schwarz und bodenlos eröffnet. Das Stundenglas war zerbrochen, der Zeiger der Zeit in seinem Lauf gehemmt, das Jenseits dehnte sich in Unendlichkeit vor ihm aus – und es führte nur zu Vernichtung oder ewiger Verdammniß.


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