Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Fünfzehntes Kapitel.

Verschiedenes.

Indem wir das schuldige Paar seine Pläne schmieden und seinen furchtbaren Hoffnungen nachhängen lassen, begleiten wir Percival zu dem Häuschen, welches Becky Carruthers bewohnt.

Als er Beck in das Gemach folgte, ward Percival nicht wenig überrascht, auf dem einzigen sichtbaren Stuhl keine geringere Person, als die würdige Mrs. Mivers sitzen zu sehen. Die gute Dame erröthete tief, sich bei ihrem wohlthätigen Besuche betroffen zu sehen, und eilte, sich durch die Bemerkung zu entschuldigen, daß sie zu einer Gesellschaft von Frauen für »Verbesserung der Lage der Armen« gehöre, und daß sie, da sie so eben der Mrs. Becky schlimmen Zustand erfahren, hergekommen sey, um derselben einen – Ventilator zu empfehlen!

»Es ist wirklich erschrecklich zu sehen, wie wenig diese Armen auf die gehörige Lüftung ihrer Häuser achten. Kein Wunder dann, wenn so viel ›Typhus‹ herrscht!« sagte Mrs. Mivers. »Und für wenige Pence können wir doch einen Luftstrom einführen, welcher Alles mit wegnimmt, was er findet.«

»Ich danke Ihnen herzlich, Madame,« sagte das arme Lumpenbündel, welches den Namen Becky führte, während es sich, mühsam genug, anstrengte, in Gegenwart des wohlthätigen Gastes aufrecht zu stehen. »Aber ich fürchte nur, die Luft wird das Reißen noch schlimmer machen!«

»Im Gegentheil – im Gegentheil!« sagte Mrs. Mivers triumphirend, und sie begann wissenschaftlich auseinander zu setzen, daß alles Fieber, Kopfweh und alle physischen Schmerzen, welche die Armen heimsuchen, aus dem Mangel einer Luftklappe im Kamin und eines durchbrochenen Gitters in dem Fenster entstehen. Becky hörte geduldig zu; denn Mrs. Mivers war nur in ihren Worten gelehrt und hatte sich in ihren Handlungen ganz anders bewiesen, denn sie hatte fünf Schilling von freien Stücken hergegeben und einen Korb Lebensmittel nebst etwas gutem Wein versprochen, um damit den kalten Wind, den sie in das Gemach haben wollte, für den Magen unschädlich zu machen.

Percival ahmte Becky's Schweigen nach, deren Geist durch eine geplagte Existenz so niedergebeugt war, daß nicht einmal der Anblick ihres Pflegesohns ihre Aufmerksamkeit von dem einer höheren Person gebührenden Respekte abziehen konnte.

»Und ist dieser arme, so abgezehrt aussehende Mensch Ihr Sohn, Mrs. Becky?« sagte die Besucherin, als ihr endlich die Erscheinung des Exkehrers auffiel, der mit dem Hut in der Hand auf der Schwelle stand.

»Nein, das nicht, Madame,« antwortete Becky. »Ich sagte oft – oft sagt' ich, ja – ›Kind, Du bist der Sohn von Saint Poll's.«

Beck lächelte stolz.

»Es war bei der großen Kirche, Madame – aber das ist eine lange Geschichte. Mein armer guter Mann war noch nicht lange todt – ein recht braver Mann, Madame« (dabei trocknete Becky ihr Auge); »er fiel von einem Gerüst und schlug sich den Kopf entzwei – sonst wär' ich nicht in die Armenpflege gekommen, Madame – und das ist die Wahrheit an der Sache.«

»Nun gut, ich werde mir noch Alles erzählen lassen – gewiß, eine traurige Geschichte. Sehen Sie, Ihr Mann hätte in eine Sterbekasse treten sollen, dann würde er einen hübschen Sarg bekommen haben und die Wittwe hätte drei Pfund erhalten. Aber die Armen sind so unwissend in dergleichen Dingen. Nun, Sir, ich kann nicht errathen, was Sie hieher führte? doch das geht mich nichts an. Und, wie steht Alles in Brompton?« (Dabei nahm Mrs. Mivers eine unwillige Miene an.) »Es gab eine Zeit, wo Miß Mainwaring sehr gern kam, um mit mir und Mr. Mivers zu plaudern: aber jetzt hat sich das Blatt gedreht, wie das Sprichwort sagt. Nun freilich, es ist nicht ihre Schuld; das arme Geschöpf! Die stolze Tante ist schuld! Sie braucht nicht so hochmüthig zu seyn – Stolz und Armuth, meiner Treu!«

Während sie sich so aussprach, hatte Mrs. Mivers ihren Mantel umgenommen, und war im Begriff Abschied zu nehmen. Als sie jetzt Becky zunickte und gehen wollte, trat Percival zu ihr und bot ihr mit seinem unwiderstehlichen Lächeln seinen Arm. Sehr überrascht und sehr geschmeichelt nahm ihn Mrs. Mivers an. Dabei hielt er sie sanft zurück und sagte zu Becky:

»Meine liebe Frau, ich habe Ihnen den armen Burschen gebracht, dem Sie eine Mutter gewesen sind, damit er Ihnen sagt, daß gute Thaten früher oder später ihren Lohn finden. Was ihn betrifft, so machen Sie sich keine Sorge mehr; er wird Sie von dem neuen Schritte, den er gethan hat, unterrichten: und was Sie betrifft, gute, freundliche Frau, danken Sie es dem Knaben, den Sie erzogen, wenn Ihre alten Tage ruhig und behaglich werden. Nun, Beck, närrischer Mensch, mach' und erzähle Deiner Pflegerin Alles. Nehmen Sie sich bei dieser Stufe in Acht, Mrs. Mivers.«

Als er auf der Straße war, gab Percival (welcher, so sehr ihn auch der Ventilator ergötzte, doch dabei die fünf Schilling in Becky's Hand hatte schimmern sehen, und der daher fühlte, daß unter dem flohfarbigen Mantel ein gutes Frauenherz schlug, das ihn verstand,) der Mrs. Mivers eine kurze Skizze von des armen Becks Geschichte und Mißgeschick und erweckte dadurch ihre Theilnahme für des Armen Pflegerin so sehr, daß sie gern versprach, Percival's Almosen zu bestellen, und seinen Auftrag auszuführen, nämlich das Innere von Becky's Wohnung zu verbessern und derselben wöchentlich die reichliche Gabe zu überbringen, welche er der alten Wittwe zudachte. Sie waren in der That ganz freundschaftlich und vertraut geworden, als sie die schmucke, spiegelfenstrige und mahagonifarbige Façade erreichten, hinter welcher das blühende Geschäft der Mrs. Mivers betrieben wurde. Und als sie an die Thür der Wohnung klopfte und diese rasch von einem citronenfarbigen Pagen geöffnet wurde, lud sie ihn ein, mit hinaufzukommen, und da das Gespräch gerade auf Helene gekommen war, so konnte es nicht fehlen) daß sich Percival einwilligend verbeugte und eintrat.

Während des ganzen Weges Trepp auf that Mrs. Mivers, indem sie sich auf jeder Stufe umdrehte, ihr Bestes, um ihren jungen Gast an die wichtige Thatsache zu erinnern, wie sie ihre häusliche Einrichtung ganz nach ihrer Bequemlichkeit eingerichtet hätten, und was die gute Dame von ihren Gütern und Schätzen sagte, bestätigte sich sichtbar in der Decke, womit die Teppiche der Treppe noch belegt waren, und in gewissen Papierstreifen, welche die Mahagony-Handleiste vor der Profanation unmittelbarer Berührung schützten. Und nichts ging über die Sorgfalt, welche auf das Gesellschaftszimmer verwendet war, in das man durch die geöffnete Thür einen Blick hineinwarf – weislich war dafür gesorgt, daß kein zudringlicher Sonnenstrahl, welcher sich etwa seinen Weg durch die nebelige Morgenluft in die Fenster bahnte, oder ebenso zudringliche Fliegen, den verschiedenen Geräthen und zwei Bildnissen des Mr. Mivers und seiner Gemahlin einen Schaden zufügen könne.

Aber Percival's Aussicht nach dem Innern wurde sehr beeinträchtigt durch seine stattliche Führerin, die, mit einem Ausruf der Ueberraschung, auf der Schwelle regungslos stehen blieb, als sie bemerkte, wie Mr. Mivers in eifrigem Gespräch mit einem Herrn am Kamin saß, den sie noch nie gesehen hatte. Um diese Stunde pflegte sich Mr. Mivers so äußerst selten in diesem Zimmer finden zu lassen und eben so selten pflegte er einen seiner Ehegenossin fremden Freund zu haben, daß man Mrs. Mivers wohl entschuldigen kann, wenn sie St. John vor der Thür stehen ließ, bis sie sich von ihrem Staunen erholt hatte.

Inzwischen erhob sich Mr. Mivers etwas verlegen und war anscheinend im Begriff, seinen Gast vorzustellen, als dieser Herr hustete und seinen Wirth bedeutsam an den Arm stieß. Mr. Mivers hustete ebenfalls und stammelte: »Ein Herr, liebe Frau – ein Freund – der ein Paar Tage bei uns bleibt. – Sehr geehrt – hm!«

Mrs. Mivers blickte staunend, verbeugte sich und blickte nieder. Aber es lag ein so offenes gutmüthiges Lächeln auf dem Gesicht des Gastes, während er vortrat und ihre Hand ergriff, daß ihr gutes Herz schnell gewonnen werden mußte. Da sie sah, daß dies kein Augenblick für weitere Erklärung sey, ließ sie sich auf einem Sopha nieder und sagte:

»Gott schütz' und behüt' uns! ich lasse Sie so da stehen, Mr. St. John!«

»St. John!« wiederholte der Gast mit einer Heftigkeit, über die Mrs. Mivers erschrack.

»Ihr Name ist St. John, Sir – ein Verwandter der St. Johns von Laughton?«

»So ist es,« antwortete Percival mit seinem schlauen, schüchternen Lächeln; »Laughton hat gegenwärtig keinen würdigern Besitzer als mich.«

Der Herr verbeugte sich zweimal vor Percival und schüttelte ihm herzlich die Hand

»Das ist mir höchst angenehm!« rief er. »Sie entschuldigen meine Freiheit; aber ich kannte den armen alten Sir Miles sehr gut, und mein Herz erwärmt sich beim Anblick seines Nachfolgers.«

Percival betrachtete seinen neuen Bekannten und fühlte sich im Ganzen zu seinen Gunsten gestimmt. Er schien noch nicht über die Fünfzig hinaus zu seyn und sein schön gebräuntes Gesicht beurkundete einen langen Aufenthalt unter dem orientalischen Himmel. Tiefe Runzeln in der Nähe der Augen und ein dunkler Rand um dieselben sprachen von Sorgen und Anstrengungen und vielleicht von einem wilden Leben. Aber offenbar besaß er eine so kräftige Constitution, daß er Alles leicht ertragen hatte; sein Körperbau war kräftig, sein Auge hell und voll Leben; und es lag in seinen Bewegungen und seinem Benehmen eine gewisse unstete, quecksilberige Rastlosigkeit, wie sie dem Manne eigen zu seyn pflegt, den sein sanguinisches Temperament antreibt, dem Impuls des Augenblicks nachzugeben, und dessen Segen oder Fluch die Ueberfülle von Thatkraft ist, je nachdem diese zweideutige Gabe von Umständen begünstigt oder von vernünftigem Urtheil geleitet wird.

Percival sprach einige geeignete Worte, um seinen Dank für die Herzlichkeit auszudrücken, mit welcher man sich Sir Miles' erinnerte, den er selber nie gesehen hatte; dann ließ er sich nieder, während er leicht erröthete, da er jenen festen, freundlichen und forschenden Blick auf sich gerichtet sah.

Um nur irgend etwas zu sagen, fragte Percival die Mrs. Mivers, ob sie John Ardworth kürzlich gesehen hätte?

Der Gast, der sich so eben wieder gesetzt hatte, wandte seinen Stuhl bei dieser Frage so lebhaft um, daß Mrs. Mivers denselben knacken hörte. Auf solche Behandlung waren ihre Stühle nicht vorbereitet. Ein Schatten zog über ihr rosiges Antlitz, während sie antwortete:

»Nein, wirklich nicht; (erlauben Sie, Sir, die Stühle sind schwach gebaut!) nein, – er ist, wie Madame, in Brompton und läßt sich selten herab, uns zu beehren. Am letzten Sonntag baten wir ihn zu Tisch. Aber er kümmert sich nicht um unser Roastbeef und unsern Pudding!«

Hier wurde Mr. Mivers von einem so heftigen Husten befallen, daß seine Gattin aufmerksam wurde. Sie sprach die Besorgniß aus, er möge sich erkältet haben.

Der Fremde zog eine große Schnupftabacksdose hervor, nahm eine starke Priese, und sagte zu St. John:

»Jener Mr. John Ardworth ist gewiß ein recht lockerer Windbeutel, vermuth' ich – ein Stück von Rechtsgelehrtem, nicht?«

»Sir,« sagte Percival ernst, »John Ardworth ist mein besonderer Freund. Es ist offenbar, daß Sie wenig von ihm wissen.«

»Allerdings,« sagte der Fremde, »allerdings, das ist wahr. Aber ich denke, er gleicht allen Rechtsgelehrten – schlau und voll Kniffe, voll Trug und Arglist, voll Vorurtheil und Wortschwall, und ein Tory obendrein – o, ich kenne die Leute, Sir, ich kenne sie!«

»Nun,« antwortete St. John, halb heiter und halb böse, »Ihre allgemeine Erfahrung dient Ihnen hier schlecht. Denn Ardworth ist gerade das Gegentheil von Ihrer Beschreibung.«

»Auch in der Politik?«

»Nun, ich fürchte, er ist halb ein Radikaler – gewiß mehr, als ein Whig,« antwortete St. John beinahe traurig; denn seine eigenen Ansichten waren entgegengesetzte, trotzdem daß er sie unpatriotisch vergaß, indem er Ardworth's Eintritt ins Parlament fördern wollte.

»Es freut mich sehr, das zu hören,« sagte der Fremde, indem er wieder eine Priese nahm. »Und jene Madame zu Brompton – vielleicht kenn' ich sie etwas besser, als ich den jungen Ardworth – die Mrs. Brad– ich meine Madame Dalibard!« dabei blickte der Fremde Mr. Mivers an, der sich langsam von einigen heftigen Schlägen auf den Rücken erholte, die ihm seine Frau, als Mittel gegen den Reiz zum Husten, ertheilt hatte. »Ist es wahr, daß sie den Gebrauch ihrer Glieder verloren hat?«

Percival nickte.

»Und daß sie die arme Helene Mainwaring, die Waise, erhält? Gut! Das sieht recht liebenswürdig aus. Ich werde sehen – ich werde sehen!«

»Wen werd' ich Madame Dalibard nennen, wenn ich ihr sage. daß man sich nach ihr erkundigte?«

»Wen! O, Mr. Tomkins. Freilich wird sie sich seiner nicht erinnern« – und der Fremde lachte, und Mr. Mivers lachte, und Mrs. Mivers, die in der That stets lachte, wenn andere Leute lachten, lachte desgleichen. Daher glaubte Percival, er müßte der Gesellschaft wegen auch mit lachen, und so lachten Alle mit einander, während er aufstand und Abschied nahm.

Er war indeß noch nicht weit nach seinem Cabriolet, das er bei Temple Bar gelassen, von dem Hause weggegangen, als er zu seinem Staunen Mr. Tomkins an seiner Seite fand.

»Ich bitt' um Verzeihung, Mr. St. John, aber ich bin so eben erst nach England zurückgekehrt, und unter solchen Umständen darf man wohl neugierig erscheinen. Ich sprach von jenem jungen Rechtsgelehrten. Der alte Ardworth (ein Stück von Taugenichts!) war so zu sagen mein Freund – nicht eigentlich Freund zwar, denn wahrlich, er hat sich mir als schlimmerer Freund bewiesen, denn irgend Jemand; – aber ich unterhielt gleichwohl eine närrische Theilnahme für ihn, und es würde mich freuen, etwas mehr, als mir jener kleine possirliche Leinwandhändler sagen kann, über Jemand zu hören, der seinen Namen trägt. Sind Sie wirklich vertraut mit dem jungen Ardworth, wie?«

»Vertraut! der arme Bursch, er mag keinen zu seinem Vertrauten machen. Er arbeitet zu viel, um gesellig zu seyn. Aber ich liebe ihn aufrichtig, und ich bewundere ihn über die Maßen.«

»Der Bursch ist also fleißig: nun, das ist gut. Und macht er auch Schulden, wie der Schuft, der alte Ardworth?«

»Ja der That, Sir, ich muß sagen, dieser Ton mit Bezug auf Mr. Ardworth's Vater« –

»Was Teufel, Sir! nehmen Sie auch des Vaters Partei wie die des Sohnes?«

»Ich weiß nichts von dem ältern Mr. Ardworth,« sagte Percival; »aber ich weiß, daß mein Freund nicht dulden würde, daß irgend Jemand in seiner Gegenwart übel von seinem Vater spräche; und ich bitte Sie, Sir, zu erwägen, daß Alles, was ihn beleidigen würde, auch mich beleidigen muß.«

»Nun wahrlich, das ist der glücklichste junge Taugenichts, solch' einen Freund zu haben! Sir, ich wünsch' Ihnen einen recht angenehmen Tag.«

Mr. Tomkins zog seinen Hut, verbeugte sich, und indem er rasch von Percival wegging, war er bald unter der Menge verschwunden. Da wir aber nun mehr mit ihm, als mit Percival zu thun haben, so lassen wir den letztern sein Cabriolet besteigen, und folgen Mr. Mivers beweglichem Gaste auf seinem excentrischen Wege durch das Menschengewühl.

Es gab sich ein seltsames Gemisch gedankenvoller Abgezogenheit und geübter Beobachtungsgabe in dem Selbstgespräch kund, welches der Herr führte, während er munter dahin wandelte.

»Ein hübsches junges Bürschchen, dieser St. John! Etwas vom Vater, aber hübscher, und weniger affectirt. Ich mag ihn leiden. Ein hübscher Laden – recht hübsch! Was sich London verbessert hat! – Das alles recht gute Nachrichten über den armen Jungen, wirklich! Am Ende ist er nicht zu tadeln, mochte seine Mutter noch so verdammenswerth seyn – ich muß sobald als möglich selber nachsehen und urtheilen. Kann Andern nicht trauen. – Was ist das für ein häßlicher Kerl, der mir nachsieht– gewiß ein Polizeibeamter, hol' ihn der Henker! was frag' ich nach Polizeileuten! hm – hm!« Und der Herr steckte seine Hände in seine Taschen und lachte, als er darin bei all' dem Straßenlärm die Münze klimpern hörte. »Nun, ich muß mich schnell entschließen, denn ich habe wirklich ein recht mühsames Stück Arbeit vor mir. Die Pest auf sie – was kann aus dem Weibe geworden seyn? Ich werde einen tüchtigen Anwalt auftreiben müssen. Aber John ist ja selber Advokat. Nun, seines Gleichen war tüchtig genug, als es mich zu hetzen galt! Was ist das für ein großer Zettel an der Wand? ›Nieder mit den Lords.‹ Pah, pah! Master John Bull, dazu hast Du die Lords doch gar zu lieb. Ein artiges Mädchen. Englische Frauen sehen wirklich recht gut aus. Diese Lucretia – was soll ich thun, wenn – doch, Zeit genug um an sie zu denken, sobald ich über das gewaltig harte wenn weggekommen bin!«

Unter solchen Gedanken und Bemerkungen ging unser Wanderer eine Zeitlang fort, bis er sich in Piccadilly befand. Dort zog ein Buchladen (und er hatte den scharfen Blick für Läden, welcher in London den Fremden verräth), mit seinen am Fenster ausgestellten neuen Werken, seine Aufmerksamkeit auf sich. Sehr sichtbar unter den übrigen war das Titelblatt eines Buches, unter welchem ein Zettel mit den lockenden Worten befestigt war: Vierte Auflage, so eben fertig. Der Titel des Buchs fesselte seine erregbare Phantasie; er trat in den Laden, ließ sich den Band reichen, und murmelte, während er den Inhalt überblickte: »Gut – trefflich! ah, das erinnert mich an Horne Tooke John Horne Tooke (1736-1812), britischer Schriftsteller und Politiker, der sich durch radikale und subversive politische Schriften hervortat.! Was kostet es? sehr theuer – muß es dennoch haben.« – Während er so die Blätter umwandte, und sie mit dem Finger aufriß, ohne des Messers zu achten, welches ihm der Commis hinhielt, fragte ein Herr, der an ihn unsanft genug anstieß, ob der Verleger daheim sey; und als der Commis sich sehr tief verbeugend, »ja« antwortete, stürzte der neue Ankömmling in ein kleines Cabinet hinter dem Laden. Mr. Tomkins, der sehr unwillig aufblickte, als er sich so unhöflich behandelt sah, staunte und wechselte die Farbe, als er das Gesicht des Beleidigers erblickte. »Ihr Heiligen im Himmels« murmelte er fast hörbar; »welche Aehnlichkeit mit jenem Weibe! und doch – nein – es ist vorbei!«

»Wer ist jener Herr?« fragte er kurz, als er sein Buch bezahlte.

Der Commis lächelte, antwortete jedoch, »ich weiß nicht, Sir.«

»Das ist eine Lüge! – Vor einem Manne, den Sie nicht kennen, würden Sie sich nicht so tief verbeugen.«

Der Commis lächelte wieder. »Nun, Sir, es kommen in dies Haus Viele, welche nicht wünschen, daß wir sie kennen.«

»Ach, ich verstehe; Sie sind politische Buchhändler – mit Schmähschriften beschäftigt, kann ich wohl sagen. Immer dasselbe Wesen in diesem verwünschten Lande, und dann sagt man uns auch noch, wir wären frei! Vermuthlich hat dieser Herr also etwas geschrieben, was William Pitt nicht gefällt. Aber, William Pitt – ha – er ist todt! ja wohl, so ist's! Sir, dies Büchlein scheint vortrefflich; aber zu meiner Zeit wär' ein Mann, der's gedruckt hätte, nach Newgate Das Newgate-Gefängnis in London galt als eine der berüchtigtsten Haftanstalten der englischen Geschichte (1188-1902). gekommen.«

Während er so sprach, war Mr. Tomkins sehr dicht an das Kabinet gekommen, in welchem der spätere Ankömmling verschwunden war; und dort fuhr er, auf einem Sessel sitzend, fort zu lesen und zugleich zu reden, während jedoch sein Auge und sein Ohr fortwährend nach dem Kabinet gerichtet waren.

Der Commis, der nicht argwöhnte, daß er in einem so excentrischem zerstreuten Manne einen Spion den Geheimnissen des Hauses zu nahe kommen lasse, war fortwährend mit dem neuen Werke beschäftigt, welches den Kunden so bezaubert hatte, und sprach zugleich von der ungeheueren Sensation, welche das Buch gemacht hatte. Inzwischen hatte der Kunde bereits genug von der leisen Unterredung im Kabinet vernommen, um zu wissen, daß der Verfasser des Buches derselbe Mann sey, der seine Neugier so sehr erregt hatte.

Nicht eher, als bis dieser Herr, dem der höfliche Buchhändler bis zur Thür folgte, den Laden verlassen hatte, steckte Mr. Tomkins sein Buch in die Tasche und ging selber, dem Commis freundlich zunickend.

Kaum war er auf der Straße, als er sah, wie Percival St. John, aus seinem Cabriolet herausgebeugt, mit dem Verfasser sprach, den er entdeckt hatte. Unentschlossen blieb er einen Moment stehen, aber der junge Mann, in welchem der Leser John Ardworth erkennt, lehnte St. Johns Einladung, ihn nach Brompton zu begleiten, ab, und nahm seinen Weg wieder durch das Gewühl der Straße. Das Cabriolet fuhr fort, und Mr. Tomkins setzte, obwohl mit ernsterer Miene und festerem Schritt, seine Streifzüge fort. Inzwischen begab sich John Ardworth schwermüthig wieder nach seinem einsamen Zimmer zurück.

Dort warf er sich auf den alten Stuhl vor dem überhäuften Schreibtisch, barg sein Gesicht in den Händen und empfand einige Minuten jene tiefe Abspannung, die denen eigenthümlich ist, welche Ruhm gewonnen haben, und dem düstern Buche der Erfahrung auch die Ueberzeugung von des Ruhmes Richtigkeit beizufügen. Einige Minuten empfand er einen unedeln und undankbaren Neid gegen St. John – so schön, so leichtherzig, so vom Glück begünstigt, so reich an Freunden – im Besitz der Liebe einer Mutter, und Helenen so gut wie verlobt! Und er dagegen von Geburt an der geselligen Bande der Blutsverwandtschaft beraubt – ohne den Kuß einer Mutter, um den Fleiß der Kindheit zu belohnen oder die kindischen Spiele zu würzen – ohne das aufmunternde Wort eines Vaters zur Begleitung auf dem mühsamen Pfade des Mannes! Und Helene, deren willen er sich so oft, wenn sein Herz müde wurde, wieder zur Arbeit angefeuert hatte, indem er sagte: Laßt mich reich, laßt mich groß seyn, und dann will ich wägen, Helenen zu gestehen, daß ich sie liebe! – Helene lächelte einem Andern, ohne seinen Schmerz zu kennen! Welche Vergütung konnte ihm der Ruhm gewähren? Was lag daran, daß Fremde Lob spendeten und daß der plaudernde Strom der Welt einen Augenblick den Kiesel in seinem Wege bespülte? In der Bitterkeit seiner Stimmung war er ungerecht gegen seinen Nebenbuhler. Den ganzen köstlichen, aber verborgenen Schatz der Phantasie und des Denkens, der unter der Oberfläche von Helenens freundlichem Lächeln ruhte, glaubte er allein – er, der Begabte, – entdecken und würdigen zu können. In dem Stolze, welcher sich bei der herrschsüchtigsten aller Aristokratien, bei den Fürsten der Intelligenz, nicht selten findet, vergaß er die Hoheit, welche die Eigenschaften des Herzens umgibt, vergaß er, daß in den Schranken der Liebe das Herz dem Geiste mindestens gleichsteht. In der Reaktion, welche großer Aufregung folgt, hatte Ardworth heute schmerzlich seine gänzliche Verlassenheit und Einsamkeit empfunden – er hatte sie in den Straßen, durch welche er ging, gefühlt, in der Wohnung, zu welcher er zurückgekehrt war; – die glühenden Thränen drangen, zum ersten Male seit seiner Kindheit vergossen, durch seine verschlungenen Finger. Endlich erhob er sich, indem er mit heftiger Anstrengung sich selbst bemeisterte – er verachtete seine Schwäche und warf sich seinen undankbaren Neid vor. Er las die schmutzigen Manuscripte und Correkturen seines Buchs zusammen und warf sie auf den düstern Rost seines Kamins; dann öffnete er seinen Schreibtisch, nahm ein kleines Packet heraus, entfaltete mit zitternden Fingern ein Papier nach dem andern und blickte mit feuchten Augen auf die Reliquien, die er bis dahin bewahrt, – in der Andacht des einzigen Gefühles, womit Eros je seine eiserne Natur gesänftigt hatte; – es waren das zwei Andenken von Helene – einige Veilchen, die sie ihm einst gegeben, und eine kleine Börse, die sie für ihn gestrickt hatte, (begleitet von einer freundlichen Prophezeihung künftiger Schätze,) als er das Pfarrhaus verlassen hatte. Tadelt ihn nicht, die Ihr, mit mehr natürlich romantischem Sinn und mit fruchtbarerer Phantasie begabt, die zartesten Erinnerungen mit den ernstesten Pflichten zu versöhnen vermögt, wenn er bei all' seiner Kraft fühlte, daß die mit jenen Andenken verknüpften Gedanken nur seine Vorsätze lähmen und seine Entsagung verbittern könnten. Ihr könnt die Größe des Opfers, die Bitterkeit des Schmerzes nicht ahnen, als er mit abgewandtem Gesicht jene Reliquien auf den Herd fallen ließ. Die Zeugnisse trügerischen Ehrgeizes, die Zeichen geträumter Liebe – beide verzehrte die nämliche Flamme! Es war als bestattete er seine Jugend auf dem Scheiterhaufen!

»So!« sagte er zu sich selbst, »laßt alles, was mich von den wahren Zwecken meines Lebens abwenden kann, verzehren! – die Arbeit erhält ihren Sohn wieder.«

Eine Stunde später fand der heimkehrende Schreiber Ardworth so ruhig wie gewöhnlich bei seinen Akten beschäftigt.


 << zurück weiter >>