Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel.

Nachrichten von Grabman.

Dieser Tag, der so bedeutungsvoll für Beck wurde, war nicht minder denkwürdig für andere und bedeutendere Personen dieser Geschichte.

Früh am Vormittag wurde Madame Dalibard ein Packet überbracht, welches Ardworths schon berühmtes Buch enthielt, ferner eine gute Anzahl von Auszügen darüber aus den Zeitungen und folgenden Brief von dem jungen Verfasser:

»Aus beifolgendem Packet werden Sie ersehen, daß Ihre Rathschläge bei mir von Gewicht gewesen sind. Ich bin abgewichen von meiner trägen Laufbahn. Ich habe, wie Sie wünschten, die Leute ›von mir reden gemacht‹. Welchen soliden Nutzen ich davon ernten werde, weiß ich nicht. Ich werde mich nicht öffentlich zu dem Buche bekennen. Solche Bekanntschaft kann mich in der Rechtskarriere nicht fördern. Aber, liberavi animam meam – entschuldigen Sie meine Pedanterie – ich habe meine Seele einen Augenblick frei gelassen – ich fange sie nun wieder ein, um ihr wieder Zaum und Sattel aufzulegen. Ich will Ihnen nicht sagen, wie Sie mich beunruhigt haben – wie Sie mich angestachelt haben, bei diesem vorzeitigen Stürzen unter die Menge – wie Sie, nachdem Sie mich des Namens und Vaters beraubt, mich zu diesem Experiment mit meinem eigenen Geiste getrieben haben, um zu sehen, ob ich mich selber täuschte, wenn ich mir selbst zurief: ›das Publikum soll dir einen Namen geben und die Fama soll deine Mutter seyn.‹ Ich bin mit dem Experiment zufrieden. Ich weiß nun besser, was in mir ist: und ich habe den Frieden meiner Seele wieder gewonnen. Wenn in dem Erfolge dieses flüchtigen Werkes Etwas ist, was das Interesse befriedigt, welches Sie so gütig an mir nehmen, so betrachten Sie diesen Erfolg als Ihren eigenen. Ihnen verdanke ich denselben, Ihren Lehren, Ihren Erinnerungen. Ich erwarte geduldig Ihre eigene Zeit zu ferneren Aufschlüssen; bis dahin muß das Rad weiter arbeiten und das Korn gemahlen seyn. Liebreiche und großmüthige Freundin, bis jetzt wollte ich Sie nicht durch Rückerstattung der Summe verletzen, die Sie mir sendeten – ja, ich wußte sogar, daß es Ihnen angenehm seyn würde, wenn ich einen Theil davon daran wagte, um diesen Versuch der Welt zu übergeben und somit sein gutes Glück doppelt zu Ihrem eigenen Werke zu machen. Jetzt, da der Buchhändler lächelt und die Leute im Laden sich verbeugen, wo ich das Anerkenntniß habe, eine Bank in meinem Gehirn zu besitzen – jetzt können Sie nicht mehr beleidigt seyn, die Summe zurückzuerhalten. Adieu. Wenn meine Seele wieder im Gang ist, und ich mich wieder festen Schrittes auf der alten dunkeln Straße fühle, werde ich Sie besuchen. Bis dahin, Ihr – welcher Name? öffnen Sie das biographische Wörterbuch aufs Gerathewohl und senden Sie mir einen.

Gray's Inn.«

Nicht über die edlen Gedanken und das tiefe Gefühl für die Menschheit, was das ganze Werk durchglühte, welches Lucretia jetzt zitternd durchflog, fühlte sie sich entzückt. Alles was sie wiedererkannte oder wiederzuerkennen wünschte, waren die Beweise für diejenige Geisteskraft, die sich ihren Weg durch die Welt bahnt und die sich, stark und unverkennbar, auf jeder Seite dieser kräftig logischen und schlagenden Schrift kund gab. Indem das Buch so gelesen wurde, war sie bald damit fertig; die Zeitungsauszüge gefielen ihr sogar mehr.

»Das,« sagte sie laut, in der Freiheit ihrer Einsamkeit, »das ist der Sohn, den ich wünschte – ein Sohn, mit welchem ich steigen kann – in welchem ich das Gefühl der niederdrückenden Schmach mit dem alten köstlichen Entzücken des Stolzes vertauschen kann! Könnt' ich für diesen Sohn zu viel thun? Nein, in Allem, was ich für ihn thun mag, kann, denk' ich, kein Vorwurf liegen! Und er nennt seinen Erfolg mein – mein!« Sie athmete stolz und richtete das Haupt empor.

Mitten in dieser Freude fand sie Varney, und bevor er das Anliegen, welches ihn herführte, nennen konnte, mußte er anhören, was er mit dem geheimen fressenden Neide that, den ihm jedes Andern Glück verursachte, wie sie sich selbst stolze Glückwünschungen sagte.

Als sie innehielt, gleichsam um seine Theilnahme zu fordern, konnte er nicht umhin, höhnisch zu sagen:

»Alles dies ist sehr schön, belle mère, und doch hätte ich kaum gedacht, daß dieses hartzügige, ungeschlachte Rechtsgeschöpf, das sich selten bewegt, ohne einen Stuhl umzustoßen, selten lacht, ohne daß die Fensterscheiben klirren – kaum hätte ich gedacht, daß gerade er die Person sey, um Ihren Stolz zu befriedigen, oder dem Familienideal von einem Gentleman und einem St. John zu entsprechen.«

»Gabriel! sagte Lucretia ernst, »Sie haben eine beißende Zunge und es ist Thorheit von mir, mich über jene Vorrechte zu beklagen, die Ihnen unsere fürchterliche Verbindung gibt. Aber, diese Spötterei –«!

»Nun, nun – ich hatte Unrecht – verzeihen Sie!« unterbrach sie Varney, der, sonst nichts fürchtend, doch den Unwillen seiner Stiefmutter sehr fürchtete.

»Es ist verziehen,« sagte Lucretia kalt und mit einer leichten Handbewegung, worauf sie mit Ruhe hinzufügte:

»Schon längst – noch während ich Erbin von Laughton war – gab ich den leeren Stolz in dem bloßen Scheine von Vornehmheit auf. Hätte ich das nicht gethan, würde ich mich dann zu William Mainwaring herabgelassen haben? Was ich damals achtete, achte ich bei allen Erniedrigungen, die ich erfuhr, noch: Talente, Ehrgeiz, Verstand und Willen. Glauben Sie, daß ich diese an einem Sohne vertauschen möchte mit der Anmuth, die ihm ein Tanzmeister verkaufen kann? Gewiß nicht! Fügen wir zu dieser Geistesfähigkeit nun Reichthum, und die Welt wird nichts Plumpes an den Schritten sehen, die zu ihren höchsten Stellen führen, und keinen Mißklang in dem Lachen finden, welches über Narren triumphirt! Aber Sie haben mir Neuigkeiten mitzutheilen, oder einen Vorschlag zu machen.«

»Ich habe Beides,« sagte Varney. »Erstens habe ich einen Brief von Grabman!«

Lucretiens Augen funkelten, und gierig griff sie nach dem Briefe, den ihr Stiefsohn ihr reichte.

» Liverpool, Oktober1831.

Jason – ich glaube, ich bin nicht auf der Straße zum Ziel. Nachdem ich mich zuerst von der im Kirchenbuche ausgezeichneten Thatsache der Geburt und Taufe von Alfred Braddells Sohn überzeugt, denn wir müssen regelrecht in diesen Dingen verfahren, strengte ich zunächst meinen Witz an, um dieses Sohnes Ausgang aus dem väterlichen Hause zu erforschen. Ich habe eine alte Magd, Jane Prior, aufgetrieben, die bei Braddells wohnte. Sie ist jetzt Wäscherin, eine eifrige Puritanerin und arbeitet für die Frommen. Anfangs war sie sehr zurückhaltend in ihren Mittheilungen, aber mit Hilfe ihrer Vorurtheile und Launen und unter Beistand des ehrw. Mr. Graves (von ihrem eigenen Glauben), habe ich sie dahin gebracht, ihre Lippen zu öffnen. Es scheint, daß diese Braddells sehr unglücklich lebten – der Gatte, ein frommer Dissenter, hatte eine Dame von sehr verschiedenem Glauben und Handeln geheirathet. Jane Prior beklagte ihren Herrn und verabscheute ihre Gebieterin. Einige Umstände in dem Benehmen der Mrs. Braddell brachten den Gemahl, der damals von seiner letzten Krankheit befallen war, aus einem Gewissenspunkte zu dem Entschlusse, sein Kind vor dem Schicksal, durch ihre Lehren und Beispiele verdorben zu werden, zu bewahren. Mrs Braddell war von Liverpool abwesend auf einem Besuch, was des Gatten Freunde für sehr gefühllos erklärten; während dieser Zeit ward Braddell beständig von einem Herrn (Mr. Ardworth) besucht, welcher in manchen Dingen sich sehr von ihm unterschied, während jedoch die Politik (denn beide waren große Politiker und Republikaner) beide zu vereinigen schien. Eines Abends, als sich Mr. Ardworth im Hause befand, war Jane Prior, die einzige Magd, (denn von den zwei, die man hielt, war die eine gerade entlassen,) zum Apotheker ausgeschickt worden. Als sie wiederkam und nach der Kinderstube ging, vermißte sie das Kind. Sie glaubte, es sey bei ihrem Herrn, aber als sie in sein Zimmer kam, gebot ihr Mr. Braddell die Thür zu schließen, sagte ihr, daß er den Knaben Mr. Ardworth anvertraut hätte, um ihn rechtschaffen und fromm erziehen zu lassen, und bat und empfahl ihr, dies als ein Geheimniß vor seiner Frau zu bewahren, die er in der That, wenn er leben bliebe, nicht wieder in sein Haus nehmen wollte. Braddell überlebte diesen Vorfall indeß nicht länger als zwei Tage. Nach seinem Tode kehrte Mrs. Braddell zurück; aber Umstände, die mit den Symptomen seiner Krankheit zusammenhingen, und ein starker Verdacht, den er selber gehegt und der Jane Prior mitgetheilt hatte, nämlich daß er vergiftet sey, führten zu einer Prüfung seines Leichnams. Man entdeckte jedoch keine Spur von Gift, und der Verdacht, der sich gegen seine Gattin gerichtet hatte, konnte nicht rechtlich begründet werden; indeß ward sie immer mit solchem Mißtrauen von Allen, die beide gekannt hatten, betrachtet, sie fand so wenig freundliche Behandlung und Mitgefühl in ihrem Wittwenstande, und war so offen von Jane Prior angeklagt worden, daß man sich nicht wundern konnte, wenn sie den Ort so bald als möglich verließ. Das Haus ward ihr genommen: denn Mr. Braddells Angelegenheiten waren in solcher Verwirrung, und seine Schulden so bedeutend, daß man Alles in Beschlag nahm und verkaufte. Weder der Wittwe noch dem Kinde blieb etwas übrig (wofern man das letztere je entdeckt hätte).

Wie sich vermuthen läßt, machte Mrs. Braddell anfangs sehr viel Lärm wegen des Kindes, allein Jane Prior hielt ihr Versprechen und verrieth die Spur nicht. Mrs. Braddell war daher genöthigt, den Ort zu verlassen, ohne zu wissen, was aus dem Kinde geworden war; seitdem hat man nichts von ihr gehört, aber Jane Prior sagte, es könne unmöglich ein gutes Ende mit ihr genommen haben. Wenn Ihnen nun auch von alle dem viel bekannt seyn mag, lieber Jason, so ist es doch recht, wenn ich Ihnen den Zeugen vorstelle, damit Sie wissen, was zu erwarten ist und sich dagegen wahren können; und vor jedem Gericht müßte, um die Identität Vincent Braddells zu beweisen, Jane Prior eine Hauptzeugin seyn und sie würde die arme Mrs. Braddell gewiß nicht schonen. Was indeß den Hauptpunkt, nämlich den Verdacht wegen Vergiftung ihres Gemahls anlangt, so kann die Untersuchung und das Erkenntniß alle Besorgniß beseitigen.

Sodann stellte ich Forschungen an hinsichtlich der Spur Walter Ardworths, nachdem er Liverpool verlassen, was er that, (wie ich aus den Büchern des Gasthofs, wo er wohnte und bekannt war, ersehen,) während er dem Gasthofsbesitzer noch verschuldet war, und zwar in derselben Nacht, da ihm das Kind anvertraut worden. Hierbei bin ich noch im Unklaren. Doch habe ich mich überzeugt, daß eine Frau, eine von der Sekte, Namens Joplin, die in einem Dorfe fünfzehn Meilen von der Stadt lebte, das Kind verpflegte, und zwar an der Stelle ihres eigenen, welches sie verloren hatte. Morgen reise ich nach diesem Dorfe. Aber ich kann dort nicht viel erwarten, da jener Bericht von ihrer wahrscheinlicheren Ansicht abweicht, nämlich daß Walter Ardworth das Kind sogleich zu Mr. Fielden gebracht habe. Sie sehen indeß, daß ich mit dem Beweise bereits sehr weit gekommen bin: – die Geburt des Kindes; die Uebergabe des Kindes an Ardworth. Ich sehe nunmehr schon einen ganz hübschen Prozeß vor uns und ich zweifle keinen Augenblick am endlichen Erfolg.

Der Ihrige, N. Grabman.«

Fest und ohne die Miene zu verändern, las Lucretia den Brief bis zur letzten Zeile. Dann wiederholte sie, während sie ihn auf den Tisch niederlegte, mit dem Ausdruck triumphirender Freude: »Kein Zweifel am endlichen Erfolg!«

»Fürchten Sie nicht Manches, was jenes Weib, die Jane Prior, gegen Sie sagen kann?« fragte Varney.

Lucretia's frohlockende Miene verschwand. »Es ist schon eine neue Marter,« sagte sie, »daß ich auch nur meine Ehe mit einem so niedrig gebornen Heuchler eingestehen muß. Aber der Sache wegen kann ich es ertragen,« fügte sie stolz hinzu. »Nichts vermag mich bei diesen Gerüchten und diesem vagen Skandal wirklich zu verletzen. Die Untersuchung rechtfertigt mich, und die Welt wird der Mutter dessen freundlich begegnen, der Rang und Reichthum besitzt, und dessen kräftiges Genie, das sich schon in der Unberühmtheit bewährte, im Ruhme gewiß die Meinung beherrschen wird.«

»Sie sind demnach jetzt geneigt, sofort zu handeln. Was Helenen anlangt, so ist Alles vorbereitet – die Versicherungen zu Ihrem Besten sind in Ordnung und die Pariere unterzeichnet. Hinsichtlich Percival St. John's erwarte ich indeß Ihre Weisungen. Wird es besser seyn, erst Ihres Sohnes Identität zu beweisen, oder, wenn die moralische Ueberzeugung, daß der Beweis beigebracht werden könne, vorhanden ist, in Zeiten beide Schranken von seiner Erbschaft zu beseitigen! Säumen wir in letzterem Falle, so wird die Beseitigung Percival St. John's verdächtiger, als sie es zu einer Zeit seyn würde, wo Sie noch kein sichtbares Interesse an seinem Tode haben. Ueberdies haben wir jetzt die Gelegenheit oder können sie machen; – wissen wir, wie lange das so bleibt? Ferner wird es auch natürlicher seyn, wenn des Liebenden Herz gleich bei der ersten Erschütterung bricht, sobald« –

»Ja,« unterbrach ihn Lucretia, »ich möchte gern alles Sinnen und Denken auf Verbrechen hinter mir haben, wenn ich, meinen Sohn an mein Herz drückend, sagen kann: Deiner Mutter Erbschaft ist Dein! Ich möchte keinen Mord mehr vor meinen Augen haben, wenn dieselben nur noch auf die schöne Aussicht jenseits blicken sollten. Ich möchte all' die garstigen Bilder des Grauens in den Hintergrund meines Gedächtnisses drängen, so daß mich die Hoffnung noch einmal ungestört besuchen könnte. Nein, Gabriel, spräch' ich auch ohne Ende, Sie würden doch nicht begreifen, was für mich in einem Sohne liegt! Es ist eine ganze Zukunft! Es wird damit ein Stein über das Grab der Vergangenheit gewälzt – es ist eine Auferstehung zu einer neuen Welt – es wird dabei wieder eine Regung empfunden, die nicht unrein ist – ein Plan, der nicht verbrecherisch. Es ist, mit einem Worte, so viel, als hörte ich auf in meinem Selbst zu leben, um in einer anderen Seele zu denken, um mein Herz in einem andern Körper schlagen zu hören. Alles das erwarte ich in einem Sohne. Und wenn in seinem Bilde Alles dies vor mir lächelt, soll ich dann durch das Bewußtseyn eines neuen, noch zu begehenden Verbrechens in meine Hölle zurückgerissen werden? Nein, waten wir rasch durch den blutigen Strom, damit wir unsere Gewänder trocknen und auf dem Ufer Athem schöpfen können, wo die Sonne scheint und Blumen blühen!«

»So sey es denn,« sagte Varney. »Bevor die Woche vorüber ist, muß ich unter demselben Dache wie St. John seyn. Und warum sollen nicht Alle einander, bevor diese Woche aus ist, in den alten Hallen Laughtons begegnen?«

»Ja, in den Hallen Laughtons! am Herde unserer Ahnen werden die für unsere Nachkommen vollbrachten Thaten minder dunkel aussehen!«

»Und zuerst soll, um den Weg zu bahnen, Helene in dieser Nebelluft Londons krank werden und einer Luftveränderung bedürfen.«

»Stellen Sie diesen Tisch vor mich. Ich will William Mainwarings Brief wieder und immer wieder lesen, bis aus jedem Schatten der Vergangenheit eine Stimme ruft: ›Das Kind Deiner Nebenbuhlerin, Deiner Verrätherin, Deiner Feindin steht zwischen dem Tageslicht und Deinem Sohne!‹«


 << zurück weiter >>