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Es schien fast, als ob jetzt, da die Gefahr am dringendsten und nächsten war, eben diese Gefahr auch Lucretia Dalibard's geistige Fähigkeiten, die den ersteren Theil des Tages in einer stumpfen Lethargie gelegen, gekräftigt und gestärkt hätte. Die absolute Nothwendigkeit, ihre schändliche Rolle mit aller denkbaren und beharrlichen Heuchelei und Ruhe durchzuspielen, verwandelte sie fast in Eisen. Die Verstellung aber, die sie erkünstelte, war übernatürlich – sie spannte jede Fiber ihres Hirns zum Zerspringen an, und sie selbst wurde sich fast bewußt, daß, wenn ihr Zweck erst erreicht sey– entweder Leben oder Verstand dieser rasenden Anstrengung weichen müßte.
Ein Wagen hielt vor der Thür – zwei Herren stiegen aus. Nach den ersten, mit dem herzugeeilten Bedienten gewechselten Worten zog sich der Aeltere zurück, als ob er seinen Besuch jetzt für unpassend halte, der Jüngere aber, der einen Augenblick, wie von Kummer und Schmerz überwältigt, fast regungslos dagestanden hatte, schob den Diener bei Seite und sprang in das Haus. Der Aeltere blieb unentschlossen stehen, nahm endlich eine Karte heraus, die »Mr. Walther Ardworth« beschrieben war, und sagte: »Wenn man Madame Dalibard einen Augenblick sprechen kann, so geben Sie ihr doch diese Karte, und sagen Sie ihr, daß ich ihre Befehle in den nächsten Tagen in Southampton erwarten will; ein paar Zeilen, unter Adresse der Post selbst, werden mich treffen.«
Der Lakay staunte erst zögernd die Karte an, und bat dann Walter Ardworth in die Halle zu treten, bis er die Botschaft hinaufgesandt habe. Der Besuchende, der in der alten Halle über das dunkele eichene Getäfel hin- und herschritt, und auf die verblichenen Banner schaute, durfte aber nicht lange warten, bis der Diener zurückkam – Madame Dalibard wollte ihn sprechen. Er folgte seinem Führer die Treppe hinauf. Als er den Corridor betrat, sah er seinen jungen Gefährten in ernstem Gespräch mit einem Mann, dessen Miene und Kleidung den Arzt verrieth. Jener schien um etwas zu bitten, was das bewilligende Nicken des Doktors zugestand; dieser öffnete eine Thür, und der junge Mann schlich hinter ihm hinein. Von jenem unheimlichen Schauer durchbebt, der uns in einem Haus, über dem der Engel des Todes schwebt, fast unwillkürlich erfaßt, wenn wir es betreten, fühlte Walter Ardworth, wie sein eigener Schritt leiser, sein Athem schwerer wurde, als der Diener eine, der, durch die sein Begleiter verschwunden war, gerade gegenüberliegende, Thür öffnete.
Die Lehnen ihres Stuhles mit beiden Händen gefaßt, die Augen ängstlich auf sein Antlitz geheftet, erwartete Lucretia Dalibard den willkommenen Gast.
So vorbereitet Walther aber auch auf eine Veränderung in Lucretia's Zügen war, so erschrack er doch über diesen fast geisterhaften Ausdruck, der, noch durch die in ihr stürmende Bewegung erhöht, auf ihnen lagerte. Er sank in den für ihn Lucretien gegenüber gestellten Stuhl, und sagte mit gewaltsamem Räuspern und unsicherer Stimme:
»Es schmerzt mich in der That, Madame, daß mein Besuch, der eigentlich nur Freude bringen sollte, in solch' unglückliche Zeit trifft. Lassen Sie mich wenigstens hoffen, daß der Diener den Zustand Ihrer Nichte übertrieben hat, und Ihnen in Ihren spätern Jahren zwei Stützen geblieben sind. Noch dazu Susannens, der armen Susanne, einziges Kind!«
»Sir,« erwiederte mit hohler Stimme Lucretia – »diese Augenblicke sind kostbar. Sie werden sich mein Verlangen, Sie zu sprechen, denken können, wenn ich Sie in solcher Zeit empfange. Sir – Sir – mein Sohn – mein Sohn!« und ihre Augen wandten sich nach der Thür– »Sie haben einen Begleiter – wartet er draußen? mein Sohn!«
»Madame – schenken Sie mir nur wenige Minuten Gehör, ich werde mich kurz fassen, und das, was zu andern Zeiten eine lange Erzählung gäbe, in wenige Daten zusammendrängen.«
Walther Ardworth ging nun schnell über alle jene Einzelheiten, die wir dem Leser nicht zu wiederholen brauchen, hinweg; über die Befehle Braddell's – die Auslieferung des Kindes an die Frau, die sein Seitenbruder für ihn ausgewählt (der übrigens – wie es sich nach John Ardworths letzten Nachforschungen ergab – später aus der Gemeinde gestoßen worden, und – allem Anschein nach, der erste Verführer jener so Empfohlenen gewesen). Dieser Frau war aber, mit der für des Kindes Erhaltung bestimmten Summe, kein weiteres Zeichen, was seine Eltern betraf, gegeben. Gerade dies Geld wurde dabei vielleicht die Ursache, die sie auf ihre rücksichtslose Bahn zu Schande und Verderben führte. Der Erzähler ging über die Grausamkeit und Nachlässigkeit der Amme, und über ihr Verlassen des Kindes, als das Geld einmal ausgegeben war, leicht hinweg. Glücklicherweise übersah sie die Korallen um seinen Nacken, und an diesen, wie an den Anfangsbuchstaben V. B., die Ardworth damals zur Vorsicht auf des Kindes Handgelenk brennen ließ, war der verlorene Sohn erkannt worden. Die Amme selbst (in der Person einer Martha Skeggs – Lucretiens eigenem Dienstboten, entdeckt,) hatte, der Frau, der sie das Kind gegeben, gegenüber gestellt, diese augenblicklich erkannt. Auch war es nicht schwer gewesen, ein Geständniß von ihr zu erhalten, das das Zeugniß genügend vervollständigte.
»In dieser Entdeckung,« schloß Ardworth, »traf die Person, die ich selbst dazu verwandt hatte, Ihren eigenen Agenten, und die letzten Glieder dieser Kette verfolgten sie zusammen.. Dem aber – seinem Eifer und seiner Aufmerksamkeit verdanken Sie das Glück, das ich Ihnen zu bringen hoffe. Er sympathisirte mit mir um so mehr, da er Sie persönlich kannte, Ihre Sorgen theilte, und den Glauben nicht unterdrücken konnte, daß Sie ihn selbst für das so heiß ersehnte Kind hielten. Madame, Sie haben meinem Sohn das Wiedersehen des eigenen zu verdanken.«
Ohne Laut hatte Lucretia diesen Einzelheiten gelauscht, obgleich sich ihr Antlitz, im Fortlauf der Erzählung, entsetzlich veränderte – jetzt stöhnte sie in Schmerz und Pein laut auf.
»Madame,« sagte Ardworth jetzt, zwar gutmüthig, aber mit einigem Staunen, »das Wiederfinden Ihres Sohnes sollte doch freudigere Empfindungen in Ihnen hervorrufen. Obgleich Sie natürlich darauf vorbereitet seyn müssen, daß dem armen, auf solche Art erzogenen Knaben eine feine Erziehung mangelt, so habe ich doch genug gehört, um mich zu überzeugen, daß er einen redlichen Charakter und ein dankbares Herz besitzt. Urtheilen Sie selbst – er ist in diesen Mauern – er ist –«
»Von einer Metze verlassen – von einem Bettler erzogen. – Mein Sohn!« unterbrach ihn Lucretia in einzelnen Ausrufungen. »Oh Sir – herrlich haben Sie Ihr Werk vollendet – eine Mutter wieder eingesetzt.«
Ehe Ardworth etwas darauf erwiedern konnte, wurden im Corridor laute und schnelle Schritte und eine heisere – undeutliche – aber heftige Stimme gehört. Die Thür ward aufgerissen und – halb von Kapitän Greville unterstützt, halb gezogen – die Züge, ob durch Schmerz oder Leidenschaft, verzerrt – taumelte der, der Lucretia's Geheimniß entdeckt, der ihr Verbrechen an's Tageslicht gebracht, auf die Schwelle. Nach der Stelle hin, auf der sie saß, mit seinem langen mageren Arme deutend rief er aus:
»Faßt sie – ich klage sie an – von Gesicht zu Gesicht von wegen des Mordes ihrer Nichte – wegen – ich sagte es Ihnen, Sir – ich sagte Ihnen –«
»Madame!« nahm Kapitän Greville das Wort – »Sie sehen sich hier von diesem Zeugen des fürchterlichsten Verbrechens angeklagt, das nur ein Mensch begehen kann. Gebe Gott, daß Sie unschuldig sind. Ihre Nichte lebt ja noch, gebe Gott, daß ihr Tod nicht auf die Hände einer Verwandten zurückfalle.«
Lucretia – die den stieren Blick fast bewußtlos von Einem der Männer zum Andern schweifen ließ, schwieg, aber um ihre Lippen zuckte zornige Verachtung; wilder Trotz zog noch immer diese Stirn in Falten. Endlich sagte sie langsam, und zu Ardworth gewandt:
»Wo ist mein Sohn? Sie behaupten, er sey in diesen Mauern – rufen Sie ihn, daß er seine Mutter schützt – Geben Sie mir wenigstens meinen Sohn – meinen Sohn!«
Die letzten Worte wurden durch einen neuen Ausbruch von Wuth ihres Anklägers übertäubt. In den gröbsten Schmähungen, die seine Erziehung ihn gelehrt hatte, in all der pöbelhaften Sprache seines rohen Dialekts – in der ganzen ungebändigten Wildheit seines Tones, Blicks und Wesens, das einmal erregte Leidenschaft der Hefe und dem Abschaum des Volkes gibt – sprudelte Beck seine entsetzlichen Anklagen – seine wahnsinnigen Verwünschungen vor. Vergebens suchte Kapitän Greville ihn daran zu hindern, vergebens Walther Ardworth, ihn aus dem Zimmer zu ziehen. Aber noch während der Unglückliche, kaum mehr durch das Bewußtseyn des Verbrechens, als durch das Gift in seinen Adern zur Raserei getrieben, so tobte und wüthete, kreuzte ein fürchterlicher Verdacht Walther Ardworths Seele.
Fast mechanisch, da seine Hand des Klägers Arm gefaßt hielt, streifte er den Aermel empor, und am Handgelenk – standen die dunkelblauen in die Haut gebrannten Buchstaben, die seine Identität mit dem verlorenen Vincent Braddell bezeugten.
»Halt ein! halt ein!« rief er, »da – unglücklicher Mann – es ist Deine Mutter, die Du anklagst!«
Lucretia sprang empor – ihre Augen schienen aus ihren Höhlen pressen zu wollen – sie erfaßte den Arm, der in Wuth und Drohung gegen sie gerichtet war und dort – zwischen den Buchstaben, die ihr den Sohn verkündeten, war jene kleine Wunde von einem rothen Zirkel umgeben.
In demselben Augenblick entdeckte sie ihr Kind in dem Mann, der sie dem Schaffot überlieferte, und wußte sich selbst als seine Mörderin.
Sie ließ den Arm fallen und sank in den Stuhl zurück; Beck aber – ob nun das Gift sein Inneres erreicht oder so heftige Erregung in so schwachem Körper genügt hatte für den Todesstoß – glitt mit einem leisen, halbunterdrückten Schrei aus Ardworths Arm und sein Blut stürzte, nachdem er ein oder zwei Schritte getaumelt war, aus dem Mund über Lucretiens Kleid – sein Haupt sank – ruhte im Fall zuerst auf ihrem Schoß und schlug dann schwerfällig auf den Boden nieder. Die beiden Männer bogen sich über ihn und hoben ihn auf – seine Augen öffneten und schlossen sich seine Kehle gurgelte, und als er, eine Leiche in ihre Arme zurücksank, erschallte dicht neben ihnen ein Lachen auf, das von den Wänden wiederklang und fern und nah – oben und unten gehört wurde. Kein Ohr war in dem Haus, das jenes Lachen nicht vernommen. Mit diesem aber floh für immer, bis zu dem Tag des letzten Strafgerichts, und aus den Ruinen ihrer schwarzen Seele – der Verstand der Kindesmörderin!