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Neunzehntes Kapitel.

Mr. Grabman's Abenteuer.

Die Lakaien in ihren Livreen standen am Portale zu Laughton, während die Postillone rasch die Straße herauffuhren, welche durch die ehrwürdigen, mit herbstlichen Farben bekleideten Baumhallen nach dem stattlichen Schlosse hinführte. Aus dem Fenster des großen geräumigen Wagens, den Percival aus Rücksicht auf die Gebrechlichkeit der Madame Dalibard zu deren besonderer Bequemlichkeit gemiethet hatte, blickte Lucretia's scharfes Auge. Am Abhange des Hügels waren die Hirsche sichtbar, und unten, wo der See glänzte, ruhte der Schwan auf der Fluth. Weiter links, in der Tiefe des Thales, sah man mit ihren starken, vielzackigen Aesten noch immer Guy's denkwürdige Eiche emporragen. Jetzt sah man von weitem den grauen Kirchthurm aus den umgebenden Laubmassen emportauchen. Plötzlich wendete sich die Straße, Lucretia erblickte vor sich die Hallen von Laughton, glänzend von der Sonne beschienen. Flüstertest du aus deiner weissagenden Höhlung keine Warnung, o Guy's Eiche? Und du, der du unter dem Kirchthurm schliefest, Miles St. John, wendetest du dich nicht in deinem Grabe, als mit so zarter Sorgfalt der junge Herr von Laughton den schweigenden Gast über seine Schwelle brachte, und mit allzu leichtgläubigen feuchten Augen Verrath und Mord an seinem Herde willkommen hieß?

Dort, am Portal, blieb Helene stehen, während sie mit dem entzückten Auge der Dichterin auf die weite Landschaft schaute, welche mit den großen Schatten der sinkenden Sonne gestreift war. Dort, an ihrer Seite, weilte auch Varney, und blickte mit Künstlerauge auf die herrliche Sonne, bis ein (nicht künstlerischer) Gedanke das Antlitz der Erde verwandelte, und die Aussicht nur das Golgatha seiner Seele zurückspiegelte.

Verlassen wir sie so – wir müssen eilen.

Eines Tages hielt ein Reisender seinen Gig vor dem Wirthshaus eines Dorfes in Lancashire an. Er gab dem Stallknechte den Zügel, und als dieser fragte, wie viel Hafer das Pferd bekommen sollte, sagte er: »Heu und Wasser – das Vieh ist ein Miethgaul.« Dann ging er an den Schenktisch, und verlangte für sich ein Glas Branntwein. Während der Wirth einschenkte, fragte er in gleichgültigem Tone, ob nicht vor einigen Jahren eine Frau, Namens Joplin, in dem Dorfe gewohnt hätte?

»Seltsam,« sagte der Wirth sinnend.

»Was ist seltsam?«

»Nun, es war eben ein Herr da, der dieselbe Frage that, Ich bin kommenden Dezember erst seit neun Jahren hier, aber mein alter Hausknecht ist im Dorfe geboren, und hat es nie verlassen. Darum sprach der Herr mit dem Hausknecht, und ist nun in's Dorf gegangen, um zu sehen, was er weiter erfahren kann.«

Diese Nachricht schien dem Reisenden unangenehm aufzufallen. »Was der Teufel,« murmelte er, »mißtraut mir Jason? Hat er einen andern Hund auf die Spur geschickt? Hm!« Er trank seinen Branntwein aus, und eilte fort, um mit dem Knechte zu reden.

»Nun, mein Freund,« sagte Mr. Grabman, denn der Reisende war kein anderer, als dieser Biedermann, »entsinnen Sie sich wohl der Mrs. Joplin, die vor länger als zwanzig Jahren da war, wie?«

»Ja, ich weiß schon; sie hat den Ort seit länger als zwanzig Jahren verlassen.«

»Ach, es muß eine unruhige Frau gewesen seyn; – sie hatte ein Kind bei sich?«

»Ja, ich besinne mich.«

»Und Sie hörten gewiß, daß sie sagte, jenes Kind sey nicht ihr eigen, sie werde gut dafür bezahlt, nicht wahr?«

»Nein, ich konnte mit Nachbarin Joplin nicht viel reden. Sie wohnte da drüben, wo eben der Herr herauskommt.«

»Aha! das ist der Herr, der eben nach Mrs. Joplin fragte?«

»Ja, und er gab mir eine halbe Krone!« sagte der schlaue Hausknecht, indem er die Hand ausstreckte.

Mr. Grabman, zu gedankenvoll, zu eifersüchtig auf seinen Rival, um den Wink zu bemerken, schoß hinweg, so schnell ihn seine dünnen Beine tragen konnten, und eilte dem Manne entgegen, der sich so unwillkommen in sein eigenes Geschäft mischte.

Als er sich dem Herrn – einem großen jungen Manne von kräftigem Ansehen – näherte, milderte er seinen Ton etwas, und sagte, während er mechanisch an seinen Hut griff:

»Sie suchen also auch Mrs. Joplin, Sir?«

»Ja, Sir,« erwiederte der junge Mann, indem er Grabman aufmerksam ansah; »und Sie sind, glaub' ich, der Mann, den ich auf der nämlichen Forschung vor mir fand– zuerst in Liverpool, dann in C– , etwa fünfzehn Meilen von jener Stadt; drittens zu L–, und jetzt treffen wir uns hier. Sie sind mir voraus gewesen. Was haben Sie erfahren?«

Mr. Grabman lächelte: »Sacht, Sir, sacht. Darf ich erstlich fragen, (da offenes Fragen an der Tagesordnung zu seyn scheint,) ob ich die Ehre habe, einen Berufsgenossen vor mir zu sehen – einen Rechtskundigen, Sir – einen Rechtsgelehrten?«

»Ich bin ein Rechtsgelehrter.«

Mr. Grabman verbeugte sich.

»Und darf ich so kühn seyn, nach dem Namen Ihres Klienten zu fragen?«

»Sicherlich dürfen Sie fragen. Jedermann hat ein Recht zu fragen, was ihm beliebt; das gilt überall.«

»Aber Sie werden nicht antworten. Tief schweigsam! hm, ich verstehe. Aber ich bin eben so tief, Sir. Vermuthlich kennen Sie Mr. Varney?«

Der Herr zeigte sich überrascht. Seine buschigen Brauen zogen sich über seinen festen, klugen Augen zusammen; nach einer kurzen Pause klärte sich indeß sein Gesicht auf.

»Es ist, wie ich dachte,« sagte er halb zu sich selbst. »Wer sonst könnte ein Interesse an ähnlichen Nachforschungen haben? Sir,« fügte er rasch und entschieden hinzu, »Sie sind ohne Zweifel durch Mr. Varney in Sachen der Madame Dalibard beschäftigt, und suchen einen Beweis hinsichtlich des Verlustes eines unglücklichen Kindes. Ich bin in derselben Sache und zu gleichem Zwecke beschäftigt. Die Interessen Ihres Klienten sind die meinigen. Zwei Köpfe sind besser als einer; lassen Sie uns unsern Scharfsinn und unsere Bemühungen vereinigen.«

»Und den Gewinn theilen, vermuthlich?« sagte Grabman trocken.

»Welcher Lohn Sie auch erwartet, er soll Ihnen bleiben, mag ich Ihnen nun helfen oder nicht. Ich erwarte keinen Lohn – denn ich habe ein persönliches Interesse, dem ich meinen Dienst unentgeldlich widme. Aber ich kann Ihnen meinerseits mehr als die üblichen Gebühren für Ihre Mitwirkung zusichern.«

»Nun, Sir,« sagte Grabman freundlicher, »Sie sprechen so recht wie ein Gentleman. Ich gestehe, mein Gefühl war anfangs verletzt. Ich bin hastig, aber gebe der Vernunft Gehör. Wollen Sie mit mir nach dem Hause zurückgehen, welches Sie so eben verließen? und alsdann könnten wir ja zusammen nach dem Wirthshaus gehen und unsere Notizen vergleichen.«

»Gern!« antwortete der große Fremdling, und beide Inquisitoren machten Gesellschaft mit einander, Das Resultat ihrer Forschungen war indeß nicht sehr befriedigend. Mrs. Joplin war fort, obwohl Alle übereinstimmten daß sie in Gesellschaft eines Mannes von schlechtem Charakter und gemeiner Lebensweise gegangen sey; ebenso erinnerten sich Alle noch des Kindes und manche besannen sich, daß es feinere Kleidung gehabt habe, als man sie bei einem Kinde erwarten konnte, welches Mrs. Joplin eigenthümlich angehörte. Eine alte Frau besann sich, daß Mrs. Joplin, als sie derselben wegen einer harten Behandlung des Kindes Vorwürfe machte, erwiedert hätte, es sey nicht ihr Fleisch und Blut, und wenn sie nicht mehr erwartet hätte, als man ihr gegeben, so würde sie die Pflege nie übernommen haben.

Während man die an den verschiedenen Orten gesammelten Nachrichten verglich, fand man, daß Alles übereinstimmte, was über den persönlichen Charakter der Mrs. Joplin gesagt wurde. In dem Dorfe, wo sie zuerst nachgeforscht hatten, kannte man sie als eine achtbare junge Frau, die zu einer kleinen Gemeinde strenger Dissenter gehörte. Sie hatte ein Mitglied der Sekte geheirathet und ein Kind geboren, welches zwei Wochen nach der Geburt starb. Darauf war sie als Pflegerin eines anderen Kindes gesehen worden, obwohl man nicht wußte, wie sie dazu gekommen. Bald darauf starb ihr Mann, ein in gutem Rufe stehender Zimmergeselle; aber zum Staunen der Nachbarn fuhr Mrs. Joplin fort, eben so gut wie vorher zu leben und schien den Verdienst ihres Gatten nicht zu vermissen; ja sie begann sogar nun, gleichsam als wäre sie früher durch den jetzt Verstorbenen davon abgehalten worden, nach ihrer Art verschwenderisch zu leben und kleidete sich auf eine Weise, die sich eben so wenig mit der Trauer um den verlorenen Gatten, als mit den strengen Grundsätzen der Sekte vertrug. Dieses unanständige Betragen erregte unwillige Neugier und zog ernste Ermahnung nach sich. Mrs. Joplin, offenbar unwillig, daß man sich in ihre Angelegenheit mischte, ging aus dem Dorfe nach einer kleinen Stadt, etwa zwanzig Meilen entfernt, und öffnete dort einen Schenkladen. Aber – ihr moralischer Verfall bestätigte sich nun vollkommen; sie führte ein notorisch ärgerliches Leben und ihr Haus wurde ein Sammelplatz aller Ruchlosen im Orte. Ob sich nun ihre Mittel erschöpfen mochten, oder ob das Aergerniß, welches sie gab, die Aufmerksamkeit der Obrigkeit auf sich lenkte und ihr eine Schranke entgegensetzte, das wußte man nicht gewiß; aber sie verkaufte plötzlich ihre Habe und zog zunächst nach dem Dorfe, wo Mr. Grabman seinen neuen Gehülfen fand; und dort, obwohl ihr Benehmen minder verwerflich und ihr Aufwand minder verschwenderisch war, machte sie doch auch nur einen ungünstigen Eindruck, der durch die Flucht mit einem wandernden Hausirer der niedrigsten Art gerechtfertigt wurde.

Während sie bei ihrem Weine saßen, verglichen die beiden Herren, was sie in Erfahrung gebracht hatten und beriethen sich, wie am besten der abgerissene Faden der Forschung wieder zu finden sey; endlich sagte Mr. Grabman kalt: »Am Ende halte ich es doch für wahrscheinlich, daß wir nicht auf der rechten Spur sind. Dies Weib ist wohl nicht die Person, die man suchen.«

»Lassen wir uns durch diesen Zweifel nicht irren. Das gewünschte Zeugniß beizuschaffen, müssen wir doch dies elende Weib aufspüren.«

»Sind Sie dessen gewiß?«

»Sicherlich.«

»Hm! Hörten Sie nie von einem Mr. Walter Ardworth?«

»Ja; was ist's mit ihm?«

»Nun, der kann am besten sagen, wo man das Kind zu suchen hat.«

»Gewiß würde er meinem Rathe beistimmen.«

»Sie kennen ihn also?«

»Ja.«

»Wie – er lebt noch?«

»Ich hoff es.«

»Können Sie mir ihn nachweisen?«

»Wenn es nöthig ist.«

»Und jener junge Mann, der seinen Namen führt und von Mr. Fielden erzogen ward?«

»Nun, Sir?«

»Ist er nicht der Sohn Mr. Braddell's?«

Der Fremde schwieg, und schien, das Gesicht in der Hand bergend, in Gedanken versunken. Dann stand er auf, ergriff sein Licht und sagte ruhig:

»Sir, ich wünsch Ihnen guten Abend. Ich muß auf meinem Zimmer Briefe schreiben. Ich will morgen, wenn Sie so lange hier bleiben, zusehen, ob wir wirklich einander helfen können, oder ob wir unsere Forschungen einzeln fortsetzen müssen.« Mit diesen Worten schloß er die Thür und Mr. Grabman blieb betroffen und verwirrt zurück.

Indeß hatte auch er einen Brief zu schreiben; er forderte daher Tinte und Papier und ein Glas Branntwein und setzte seine Klagen und Nachrichten für Varney auf.

»Jason,« (begann er), »Sie treiben ein falsches Spiel mit mir. Haben Sie einen zweiten Mann auf die Spur gebracht, um mich um meinen versprochenen Lohn zu bringen? – Erklären Sie das oder ich gebe das Geschäft auf.«

Hiernach gab Mr. Grabman eine Schilderung des Fremden und berichtete ausführlich, was zwischen diesem Herrn und ihm selber vorgegangen war. Dann fügte er den Fortgang seiner eigenen Forschungen hinzu und erneuerte, so gebieterisch als er es wagte, sein Verlangen nach Aufrichtigkeit, offenem Verfahren. Nun traf es sich, daß Mr. Grabman, als er die Treppe hinaufstieg, um zu Bett zu gehen, vor dem Zimmer vorbeikam, wo sein räthselhafter College wohnte und daß, wie es in Wirthshäusern üblich ist, vor der Thür ein Paar Stiefeln standen, die am Morgen gereinigt werden sollten. Obwohl etwas betrunken, bewahrte Mr. Grabman seinen natürlichen Scharfblick doch. Eine schlaue und ganz natürliche Idee, die ihm durch den Kopf schoß, erleuchtete den Branntweinnebel; er blieb stehen, und während er sich mit der einen Hand an der Wand feststützte, ergriff er mit der andern einen Stiefel, schaute hinein und sah leserlich geschrieben: »John Ardworth, Esq., Gray's Inn.« Bei diesem Anblick empfand er das Gefühl eines Philosophen, dem plötzlich ein Licht über ein großes Problem aufgeht. Er wankte wieder hinunter, öffnete seinen Brief wieder und schrieb: –

»P.S. – Ich habe Ihnen mit meinem Verdachte Unrecht gethan, Jason; vergessen wir das – jubilate! Dieser Zwischenläufer, der mich so eifersüchtig machte, – wer, glauben Sie, ist er? Ei, der junge Ardworth selber, – d. h. der Bursch führt diesen Namen. Nun, ist es nicht klar? Natürlich, Niemand sonst könnte so viel daran liegen, die Geburt des Verlorenen auszukundschaften, als dem Kinde selbst – hier ist er! Wenn der alte Ardworth noch lebt (wie er sagt), so hat ihn der alte Ardworth in seiner eigenen Angelegenheit beschäftigt. Jener Fielden aber – doch nein, ich verstehe schon! der alte Ardworth gab den Knaben der Mrs. Joplin und nahm ihn wieder von ihr, als er zu dem Pfarrer ging. Nun dürfte jedenfalls ganz nothwendig seyn zu beweisen, erstens, daß der Knabe, den er von Mr. Braddell nahm, der Mrs. Joplin übergeben wurde; zweitens, daß der Knabe, den er bei Mr. Fielden ließ, derselbe war, den er jener Frau wieder genommen – daher die Nothwendigkeit, Mutter Joplin als Hauptzeugin aufzusuchen; darauf kommt es an, Mr. Jason.«

Erst nachdem sich die Sonne seit einigen Stunden erhoben hatte, folgte Mr. Grabman dem Beispiele dieses Gestirns. Dabei fand er denn zu seinem Aerger, daß John Ardworth bereits längst fort war. Welchen Anlaß der letztere auch zum Suchen haben mochte, er hatte von Grabman jedenfalls Alles erfahren, was ihm dieser Mann mittheilen konnte. und die Unterredung hatte ihm einen solchen Widerwillen gegen den Anwalt eingeflößt und zugleich eine so geringe Meinung von dessen Mitwirkung, (worin er sich indessen vielleicht irrte,) daß er beschlossen hatte, seine Forschungen allein fortzusetzen. Auf seinem frühen Morgenspaziergange durch das Dorf hatte er bereits erfahren, daß der Mann, mit welchem Mrs. Joplin den Ort verlassen hatte, einige Zeit nachher zu sechsmonatlicher Haft im Grafschaftsgefängniß verurtheilt worden war. Möglich, daß die Gefängnißbeamten etwas wußten, was zu seiner Entdeckung führen konnte, und durch ihn konnte man dann Nachrichten über seine Gefährtin erfahren.


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