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Nachdem er einmal das Haus kannte, in welchem Helene lebte, war es keine schwierige Sache für St. John, den Namen ihrer Beschützerin zu erfahren, die, wie Beck vermuthete, ihre Mutter war. Nicht wenig Vergnügen mischte sich mit Percivals Staunen, als er in diesem Namen denjenigen wieder erkannte, den seine eigene Verwandte trug. Ihm war allerdings sehr wenig von der Familiengeschichte bekannt. Weder sein Vater, noch seine Mutter hatten jemals gern von der gefallenen Erbin gesprochen. Die Kinder hatten gefühlt, daß der Gegenstand ein verbotener war; aber in der Nachbarschaft hatte Percival natürlich Manches über Lucretia, als die stolze und hochgebildete Miß Clavering, gehört, die sich, zum Staunen Aller, zu einer Mesalliance mit ihres Vaters französischem Bibliothekar herabgelassen hatte. Nicht wahrscheinlich war es, daß er gehört haben sollte, wie ihr Verlust des St. John Besitzthums, und die Erbfolge von Percivals Vater, den Dorfbewohnern und Squires in der Runde unerwartet kam, und vielleicht die Folge einer Laune Sir Miles', oder eines durch Schlaganfälle geschwächten Verstandes war. Die Reichen haben die Politur ihrer Erziehung, und die Armen jenen instinktmäßigen Takt, der unter den Landleuten so wunderbar herrscht, um unartige Entdeckungen oder unwillkommene Andeutungen zu vermeiden: und bei Reichen und Armen waren die Vernon St. Johns zu beliebt und geachtet, als daß man sich müßige Anspielungen, um sie zu kränken, hätte erlauben mögen. Alles was daher Percival von seiner Verwandten wußte, war, daß sie von Kindheit auf bei Sir Miles gewohnt hatte; daß sie nach ihres Oheims Tode sich an einen Mann unter ihrem Stande, Namens Dalibard, verheirathet, und anderswo niedergelassen hatte: daß sie eine Person von eigenthümlichen Sitten, und, wie er einmal gehört, von seltenen Gaben gewesen sey. Er hatte den Namen der jungen Dame, die sich bei Madame Dalibard aufhielt, nicht erfahren können; er hatte nur erfahren, daß sie einen angenommenen Namen führte, und nicht die Tochter der Dame sey, die das Haus bewohnte. Jedenfalls war es möglich, daß die letztere gar nicht seine Verwandte war. Der Name, obwohl für englische Ohren fremdartig und in Frankreich nicht gewöhnlich, war für Percivals Hoffnungen keine genügende Bürgschaft für den Gedanken, daß er nun rechtmäßigen und füglichen Zutritt zu dem Hause gewonnen hätte – aber er durfte doch den Besuch wagen, und der Name gab dazu eine gute Entschuldigung.
Wie lange brachte er an diesem Tage bei seiner Toilette zu, der arme Bursch! Wie sorgsam suchte er mit Kamm und Bürste das üppige Labyrinth der schwarzen Locken zu glätten, denen er zuvor nie die geringste Achtung geschenkt! Gil Blas sagt, die Toilette sey ein Vergnügen für die Jungen, aber eine Arbeit für die Alten; Percival St. Johns Toilette war an diesem sorgenvollen Morgen für ihn kein Vergnügen.
Endlich riß er sich, mißvergnügt und verzweifelt, vom Spiegel los, nahm Hut und Peitsche, warf sich auf sein Pferd, und ritt erst sehr schnell und zuletzt sehr langsam nach dem alten verfallenen, unscheinbaren, vernachläßigten Hause, welches, gleich der Armuth gefallenen Stolzes, mitten unter den Villen und stattlichen Landhäusern des schönen und blühenden Brompton versteckt lag.
Dieselbe Magd, welche Ardworth die Thür geöffnet, erschien auf seinen Ruf, und nachdem sie ihn einige Augenblicke mit mürrischem und stupidem Staunen angestarrt, sagte sie: »Sie sind im Irrthum!« und wandte sich ab.
»Halt – halt!« rief Percival, indem er sich durch die Pforte zu drängen suchte; aber die mürrische Magd schloß den Eingang
»Es ist kein Irrthum, meine Gute. Ich komme, um Madame Dalibard zu besuchen, meine– meine Verwandte!«
»Ihre Verwandte!« und wieder starrte das Weib Percival mit einem Blicke an, durch dessen dumme Leere etwas wie Mißtrauen zu bemerken war. »Bitt' ein wenig zu verziehen, und mir Ihren Namen zu nennen.«
Percival gab der Magd seine Karte mit seinem süßesten und beredsamen Lächeln. Sie ergriff sie mit der einen Hand, und drehte mit der andern Hand den Schlüssel der Pforte um, indem sie Percival draußen ließ. Fünf Minuten vergingen, ehe sie zurückkehrte, und nun öffnete sie mit derselben ausdruckslosen Miene die Pforte, und bedeutete ihn, mitzugehen.
Der weichherzige Jüngling seufzte, als er einen Blick auf das öde und ärmliche Ansehen des Hauses warf, und er dachte bei sich: »Ach, lieber Himmel, sie ist vielleicht meine Verwandte, und dann werd' ich das Recht haben, für sie und für dieses süße Mädchen eine ganz andere Wohnung zu schaffen!« Das alte Weib öffnete die Thür eines Zimmers, und Percival befand sich seiner Tod-Feindin gegenüber. Der Armstuhl ward gegen den Eingang gewendet, und unter den Hüllen, welche die Gestalt verbargen, tauchte das eigenthümliche Gesicht der Madame Dalibard hervor, welches sich scharf und eifrig nach dem Eindringling richtete.
»So,« sagte sie langsam, während sie ihn fast mit ihren scharfen, festen Blicken verschlang – »so, Sie sind Percival St. John! Willkommen! Ich wußte nicht, daß wir je zusammen kommen würden. Ich habe Sie nicht gesucht – sie suchen mich! Seltsam – ja, seltsam – daß der Junge und Reiche die Leidende und Arme aufsucht!«
Ueberrascht und verlegen durch diese sonderbare Begrüßung blieb Percival plötzlich in der Mitte des Gemachs stehen; und es war etwas unbeschreiblich Anziehendes in seiner schüchternen aber anmuthigen Verwirrung. Sie schien in schweigender Beredsamkeit zu rechtfertigen und zu entschuldigen. Und als er mit seiner Silberstimme, die kaum noch den vollen Ton der Männlichkeit erlangt, mit Innigkeit sagte: »Verzeihen Sie, Madame, aber meine Mutter ist nicht in England,« – bewies die Entschuldigung ein so zartsinniges Denken, einen so feinen Sinn für hohen Anstand, daß die ruhige Versicherung des weltgewandten Mannes die Ritterlichkeit des geborenen Edelmannes nicht stärker hätte bezeugen können.
»Ich habe Ihnen nichts zu verzeihen, Mr. St. John,« sagte Lucretia in milderem Tone. »Vergeben vielmehr Sie mir, daß meine Gebrechlichkeit mir nicht gestattet, aufzustehen, und Sie zu empfangen. Lassen Sie sich nieder – hier – neben mir. Sie haben eine starke Aehnlichkeit mit Ihrem Vater.«
Percival nahm die letzte Bemerkung für ein Compliment und verbeugte sich. Darauf betrachtete er, als er seine sinnige Stirn erhob, zum ersten Male seine neugefundene Verwandte genau. Die Eigenthümlichkeiten in Lucretia's Gesicht während ihrer Jugend hatten sich natürlich bei den mittleren Jahren mehr ausgeprägt. Die Umrisse von jeher zu kräftig und scharf, waren nun stark und knochig, wie die eines Mannes. Die Linie zwischen den Augenbrauen war zu einer Furche vertieft. Das Auge hatte noch seinen alten unruhigen, unheimlichen Seitenblick; auch in seltenen Momenten (z. B. als Percival eintrat) das Forschende, Durchdringende und Gebieterische; aber die Augenlieder, roth und geschwollen, wie von Gram oder Nachtwachen, gaben ihren Blicken in jedem Falle etwas Häßliches und Wildes. Trotz der Lähmung der Gestalt zeigte das Gesicht, wenn auch blaß und hager, doch keinen körperlichen Verfall. Eine Kraft, welche über die Stärke des Weibes ging, war noch immer in dem kühnen Muskelspiel, in der Festigkeit der zusammengezogenen Lippen zu sehen. Was die Aerzte Lebenskraft nennen und zugleich (wo sie es entdecken) in der Physiognomie als Prognosticon langen Lebens betrachten, wogte rastlos in jedem Zuge des Gesichts, jeder Bewegung der magern nervigen Hände, welche, im Gegensatz zu der übrigen regungslosen Gestalt, nie zur Ruhe zu kommen schienen. Die Zähne waren noch weißer und regelmäßiger als in der Jugend und gaben, wenn sie beim Sprechen hervorschimmerten, dem sonst so abgefallenen Gesicht eine seltsame unnatürliche Frische.
Während Percival auf sie blickte und beim Hinblicken diese unsteten Augen zwar gesenkt sah, doch gleichwohl fühlte, daß sie ihn beobachteten, fuhr ein Schauer, fast wie von Furcht, durch sein Herz. Trotzdem war er um so empfänglicher für liebreiche und vertrauensvolle, als für argwöhnische und scheue Empfindungen, daß, als Madame Dalibard plötzlich emporblickte und das Haupt leise schüttelnd sagte:
»Sie sehen nur ein trauriges Wrack, junger Vetter,« daß bei diesen Worten alle jene Triebe des Instinkts, welche die Natur selbst für die Selbsterhaltung zu dictiren scheint, in himmlischer Zärtlichkeit und Mitleiden untergingen.
»Ach!« sagte er, indem er aufstand und eine jener todtenhaften Hände zwischen seine eigenen drückte, und während ihm Thränen in die Augen traten, »ach, seit Sie mich Vetter nennen, hab' ich auch alle Vorrechte eines Verwandten. Sie müssen den besten Rath – die besten Aerzte erhalten. O, Sie werden genesen – Sie müssen nicht verzweifeln.«
Lucretia's Lippen bewegten sich unruhig. Die Freundlichkeit erregte ihr Erstaunen. Verzweifelt wand sie sich los von dem menschlichen Strahle, der durch die siebenfache Dunkelheit ihrer Seele leuchtete. »Denken Sie nicht an mich,« sagte sie mit erzwungenem Lächeln »ich liebe Anspielungen auf mich selbst nicht, obwohl ich sie diesmal selbst hervorrief. Sprechen Sie mit mir von den alten Cederbäumen in Laughton – stehen sie noch? Sie sind jetzt der Gebieter von Laughton. Es ist eine schöne Erbschaft!«
Nun sprach St. John, um ihr gefällig zu seyn, von dem alten Herrenhaus, beschrieb die Verbesserungen, die sein Vater vorgenommen, und äußerte sich heiter über diejenigen, die er selbst beabsichtigte; und während er fortfuhr, ward Lucretia's einen Augenblick verdüsterte Stirn glätter und glätter und das Dunkel wich von ihrer Seele zurück.
Auf einmal unterbrach sie ihn: »Wie entdeckten Sie mich – geschah es durch Varney? Ich hieß ihn meiner nicht erwähnen – aber wie anders konnten Sie es erfahren?« Während sie dies sagte, lag eine ängstliche Unruhe in ihrem Tone, die sich steigerte, als sie bemerkte, daß St. John etwas verlegen blickte.
»Nun,« begann er zögernd, indem er den Hut mit der Hand bürstete, »nun, vielleicht hörten Sie von dem – es ist – ich meine, es ist ein junges – Doch, Sie sind es, Sie sind es, ich sehe Sie wieder!« Damit sprang er auf und stand an Helenens Seite, die in diesem Augenblick ins Zimmer getreten war und jetzt, mit niedergeschlagenen Augen, glühender Wange und bewegter Brust, diesen leidenschaftlichen Ausbruch der Freude vernahm, aber nicht antwortete.
Erstaunt betrachtete Madame Dalibard die Beiden, während sich ihre Hände fest an den Stuhllehnen hielten. Sie hatte von ihrer frühern Begegnung nichts gehört, nichts errathen. Alles, was zwischen ihnen vorgegangen, war ihr unbekannt. Aber deutlich und unverkennbar war der Beweis, daß der Sohn ihres Räubers die Tochter ihrer Nebenbuhlerin liebte, und, wenn das jungfräuliche Herz durch äußere Zeichen spricht, so sagten diese niedergeschlagenen Augen, die errötheten Wangen, diese bebende Brust, daß er sie nicht vergebens liebte.
Vor ihren grimmigen und mörderischen Blicken, gleichsam um ihr zu trotzen, standen die beiden Erben einer durch das Grab nicht ausgelöschten Rache auf räthselhafte Weise vereinigt bei einander. Aus dem weiten Ocean ihres Hasses stieg diese arme Insel der Liebe empor; darauf faßten die Opfer Fuß, die nichts von dem Entsetzen ringsum ahnten! Wie schön in diesem Augenblick ihre Jugend – ihre Unkenntniß ihrer eigenen Gefühle – ihre schuldlose Fröhlichkeit – ihre süße Unruhe! Die grausame Zuschauerin holte tief Athem im Gefühle teuflischer Selbstgefälligkeit und Freude, und ihre Hände öffneten sich weit und schlossen sich dann langsam, als wenn sie jene in ihrer Gewalt hätten.