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Der folgende Morgen war allerdings ereignißvoll für die Familie zu Laughton und er erwachte, gleichsam als wüßte er, was er brächte, trüb und sonnenlos: ein schwerer Nebel bedeckte die Landschaft und ein rauher Regen rieselte durch das gelbe Laub nieder.
Madame Dalibard verließ wegen ihrer angeblichen Gebrechlichkeit ihr Zimmer selten vor Mittag und Varney pflegte zu sehr unregelmäßigen Stunden aufzustehen; das Frühstück veranlaßte daher keine gesellige Zusammenkunft der Familie, sondern ein Jedes nahm dasselbe in der Einsamkeit seines oder ihres eigenen Zimmers. Percival, dessen Lebensweise ganz mit seinem gesunden und einfachen Wesen im Einklange stand, pflegte früh aufzustehen und ging an diesem Tage, trotz des Wetters, beizeiten aus, um die Person zu treffen, welche die Briefe für die Post zu besorgen hatte. Dies hatte er bereits seit drei oder vier Tagen gethan, weil er ungeduldig Nachrichten von seiner Mutter erwartete, da seiner Berechnung nach nunmehr die erwartete Antwort auf sein Geständniß und seine Bitte bereits angelangt seyn konnte. Er begegnete dem Boten unten beim Park, nicht weit von Guy's Eiche. Diesen Tag täuschte ihn seine Erwartung nicht. Der Briefbeutel enthielt drei Briefe für ihn, zwei mit dem fremden Postzeichen – den dritten mit Ardworth's Handschrift. Auch enthielt er einen Brief für Madame Dalibard und zwei für Varney.
Indem er es dem Boten überließ, die letztern nach dem Schlosse zu bringen, eilte Percival mit seiner eigenen Beute in den Thalgrund, der vor ihm lag, und indem er sich an Guy's Eiche niedersetzte, durch deren gewaltige Wipfel der Regen nur spärlich und nur in einzelnen Tropfen drang, öffnete er zuerst den Brief seiner Mutter und las Folgendes:
»Mein lieber, lieber Sohn! – Wie kann ich Dir die Unruhe aussprechen, die mir Dein Brief verursacht hat! Dies also sind die neuen Verwandten, die Du entdeckt hast!, Ich glaubte gern, Du bezögst Dich auf Jemand von meiner Familie und dachte nach, wer unter meinen vielen Vettern Deine Aufmerksamkeit so sehr in Anspruch genommen haben möge. Dies die neuen Verwandten! Lucretia Dalibard – Helene Mainwaring! Percival, weißt Du nicht – nein, Du kannst es nicht wissen – daß Helene Mainwaring die Tochter eines entehrten Mannes ist – eines Mannes, der (mehr als blos verdächtig des Betrugs in dem Geldgeschäft, dessen Theilnehmer er war,) seine Heimath verließ und selbst von seinem eignen Vater verurtheilt wurde. Wenn Du daran zweifelst, so brauchst Du Dich nur in *** ***, keine zehn Minuten von Laughton, wo der ältere Mainwaring wohnt, zu erkundigen. Frage dort, was aus William Mainwaring geworden! Und Lucretia, – weißt Du nicht, daß die letzte Bitte des sterbenden Sir Miles St. John, ihres Oheims, war, sie möge nie das Haus betreten, welches er Deinem Vater vererbte. Erst nach meines armen Karls Tode erfuhr ich die eigentliche Ursache von Sir Miles' Unzufriedenheit, so vertrauensvoll er auch war; aber dann fand ich unter seinen Papieren den undankbaren Brief, welcher so düstre Gedanken und so unweibliche Leidenschaften verrieth, daß ich im Namen meines Geschlechts erröthete, sie zu lesen. Könnt' es möglich seyn, daß des armen alten Mannes Bitten unbeachtet blieben – daß der verrätherische Fuß je über Deine Schwelle schritte – daß jenes grausame Auge, welches mit so barbarischer Freude die Verheerungen des Todes auf eines Wohlthäters Gesicht las, auf dem Herde ruhen konnte, an welchem Dein offnes aufrichtiges Gesicht so oft meine Thränen hinweggelächelt hat, dann würd' es mir in der That seyn, als schwebte ein drohender Donner über dem Hause. – Guter Gott! und die Tochter Mainwaring's ist es, die Nichte und Mündel Lucretia Dalibard's, der Du Deine treue Neigung geschenkt hast – die Du unter allen Frauen zu Deinem Weibe erlesen hast! O, mein Sohn, mein geliebtes, mein einziges Kind – glaube nicht, daß ich Dich tadle, daß mein Herz nicht blutet, während ich so schreibe; aber ich bitte Dich auf meinen Knieen, zum wenigsten zu warten – diesen Umgang abzubrechen, bis ich selber in England eintreffen kann. Und was dann? Nun, dann, Percival, versprech' ich meinerseits, daß ich Deine Helene mit vorurtheilsfreiem Auge betrachten will – daß ich mich so viel als nur möglich über alle Träume enttäuschten Stolzes hinwegsetzen will – wie über das Andenken der Vergehen, die nicht die ihren sind; und wenn sie so ist, wie Du sagst und denkst, so will ich sie an mein Herz nehmen und Tochter nennen. Bist Du zufrieden? Wenn das der Fall ist, so komm zu mir – komm sogleich und hole Trost von den Lippen Deiner Mutter. Wie sehne ich mich, bei Dir zu seyn, während Du dies liesest – wie zittre ich über den Schmerz, den ich Dir bereite! Aber meine arme Schwester fesselt mich noch hier, ich wage sie nicht zu verlassen, um ihren letzten Seufzer nicht zu verlieren. Komm also, wir wollen einander trösten.
Deine zärtliche (wie zärtliche!) und bekümmerte Mutter
Marie St. John.
3. October 1831.
Sorrento.
P. S. Du siehst aus dieser Adresse, daß wir von Pisa hieher gereist sind, weil uns der Arzt diesen Ortswechsel empfohlen hat; daher ein unseliger Verzug von mehreren Tagen für meine Antwort. Ach, Percival, wie schlaflos wird mein Kissen seyn, bis ich von Dir höre!«
Lange, sehr lange währte es, bevor St. John, stumm und überwältigt von der qualvollen Erschütterung, seine andern Briefe öffnete. Der erste war vom Kapitän Greville: –
»Auf welche Fährte bist Du gerathen, närrischer Junge? Daß Du in eine oder die andre thörichte Klemme kommen würdest, war natürlich genug. Aber in eine, die lebenslang währt, Sir – das ist ernsthaft! Indeß, Gott segne Dich für Deine Aufrichtigkeit, mein Percival – Du hast uns beizeiten geschrieben – Du bist genugsam alter Sitte treu, um einer Mutter Einwilligung zur Verbindung eines jungen Mannes für nöthig zu halten. Und Du hast es in unsere Macht gelegt, Dich noch retten zu können. Doch genug von dieser Predigt; ich werde besser thun, wenn ich, anstatt scheltende Briefe zu schreiben, selber komme und Dich persönlich schelte. Mein Diener packt in diesem Augenblick meinen Koffer, der Lohnbediente ist meines Packets wegen nach Neapel gegangen. Fast ebenso bald, als Du dies empfängst, werde ich bei Dir seyn, und zögere ich einen oder zwei Tage länger als die Post, so sey geduldig; laß Dich nicht weiter ein. Brich Dein Herz, wenn Du Lust hast, aber bewahre Deine Ehre. Ich werde sofort nach Curzonstreet kommen. Adieu.
H. Greville.«
Ardworth's Brief war kürzer als die andern. Das war ein Glück, denn sonst wäre er ungelesen geblieben: –
»Wenn ich den Tag nach Empfang dieses nicht selber komme, lieber Percival, was allerdings sehr wahrscheinlich ist, so werde ich Ihnen als Bevollmächtigten einen Mann senden, den Sie meinetwegen gewiß freundlich aufnehmen werden. Er wird mein Geschäft übernehmen und alle Geheimnisse aufklären, mit denen, wie ich glaube, meine Correspondenz Ihre lebhafte Einbildungskraft verwirrt hat.
Ganz der Ihrige
John Ardworth.
Gray's Inn.«
Percival's Phantasie beschäftigte sich in der That sehr wenig mit den Geheimnissen der Correspondenz Ardworth's. Sein Verstand faßte den Inhalt der Worte kaum, die sein Auge mechanisch überflog.
Und der Brief, welcher den Besuch der Madame Dalibard in dem ihr so feierlich verbotenen Hause meldete, war unterwegs zu seiner Mutter; ja, er konnte dieselbe nunmehr fast erreicht haben. Greville befand sich auf dem Wege; ja, da seines Vormunds Brief von London ausgegangen war, so befand er sich heute vielleicht schon in Curzonstreet. Wie wünschenswerth war es, ihn zu sehen, bevor er Laughton erreichte, um ihn auf Madame Dalibard's Besuch vorzubereiten; ebenso auf Helenens Krankheit; um ihm die Lage zu erklären, in welcher er sich befand, und des alten Soldaten rauhes, liebreiches Herz mit seiner Liebe und seiner Bedrängniß auszusöhnen! Er fürchtete das Zusammentreffen mit Greville nicht; er sehnte sich darnach. Er brauchte einen Rathgeber, einen Vertrauten, einen Freund. Plötzlich seine Gäste aus seinem Hause zu entlassen, war unmöglich. Helenen wegen ihres Vaters Verbrechen aufzugeben, oder wegen der Schuld ihrer Tante (welcher Art dieselbe auch seyn mochte – eine deutliche Erklärung war nicht gegeben,) das kam ihm nicht in den Sinn! Und gleich wohl, hätte er, bevor er Helenen gesehen, oder selbst nachdem er sie einmal gesehen, vernommen, daß ihr Name von einer Schmach befleckt sey, so würde jener eigenthümliche Stolz, der ihm als ein Bestandtheil der Ehre selbst eingeprägt worden und der in der Verehrung der Unbescholtenheit und einem strengen Abscheu vor jedem Flecken auf seinem Wappenschild bestand, dieser Stolz würde ihm ohne Zweifel gesagt haben, daß er sich, ohne seinen Namen zu schänden, zwar mit der Niedriggebornen und Armen, nie aber mit dem Kinde der Unehre vermählen dürfte. Jetzt aber wurden alle diese Rücksichten, welche für die nicht verliebte Vernunft so stark sind, durch die jugendliche Kraft einer Liebe verscheucht, welche selbst jene Schmach zu einem günstigen Argument machte. Rein und unbefleckt strahlte das sternengleiche Antlitz Helenens um so heiliger aus dem umgebenden Gewölk. Ein unaussprechliches und chevalereskes Mitleid mischte sich mit seiner Liebe und stärkte seine Treue. Sie, das arme Kind, sollte für die Thaten Andrer leiden! nein. Was war seine eigne Macht als Mann und seine Würde als Edelmann werth, wenn sie in ihren Schutz nicht Diejenige nehmen konnte, die solches Schutzes nun doppelt bedürftig war! So war er, bei aller vielfachen Aufregung, doch fest und entschlossen mindestens in einem Punkte, und begann bereits die Hoffnung seiner sanguinischen Natur wieder zu kräftigen, indem er sich auf feiner Mutter Liebe, auf das Versprechen, welches ihre Eröffnungen und Warnungen milderte, und auf seine Ueberzeugung verließ, daß man Helenen nur zu sehen brauche, um jede Bedenklichkeit zu verlieren. So wanderte er nach dem Hause zurück, und begegnete, als er plötzlich die Terrasse betrat, Varney, der mit einem offenen Briefe in der Hand bewegungslos an der Balustrade lehnte. Varney war todtenblaß und seine gewöhnlich so voll gerundeten Wangen zeigten durch die Erschlaffung ihrer Muskeln eine neue und düstre Aufregung an. Allein Percival achtete darauf nicht, als er ihn ernst am Arm nahm und ihn in den Garten führte, wo er, nach einer peinlichen Pause, sagte:
»Varney, ich bin im Begriff, Ihnen zwei Fragen vorzulegen, die Sie wegen Ihrer genauen Bekanntschaft mit Madame Dalibard wohl werden beantworten können, wobei ich jedoch, aus leicht zu erkennenden Gründen, das strengste Vertrauen in Anspruch nehme. Sie werden weder gegen sie, noch gegen Helene etwas von meinen Worten erwähnen.«
Varney starrte unruhig auf Percivals ernstes Gesicht und gab das geforderte Versprechen.
»Nun, erstlich, welches Vergehen hat Madame Dalibard aus meines Oheims Hause, aus dem Hause Laughton hier vertrieben? – Zweitens, welches Verbrechen legt man Mr. Mainwaring, Helenens Vater, zur Last?«
»Was das Erste betrifft,« sagte Varney, der seine Fassung wieder gewann, »so glaubte ich Ihnen schon gesagt zu haben, daß Sir Miles ein stolzer Mann war und daß er, weil er kindische Liebelei zwischen seiner Nichte Lucretia (jetzt Madame Dalibard) und Mainwaring entdeckte, der sie nachher wegen Helenens Mutter verließ – daß er deshalb sein Testament änderte, – ›sie aus seinem Hause vertrieb‹ ist ein zu harter Ausdruck. Das ist Alles, was ich weiß. Was die zweite Frage betrifft, so ist William Mainwaring nie ein Verbrechen nachgewiesen worden. Man hatte ihn im Verdacht, ungehörig mit den Geldern des Geschäfts gewirthschaftet zu haben, und er erstattete jedes Deficit, indem er sein ganzes Vermögen hingab.«
»Ist das die Wahrheit?« rief Percival freudig.
»Die schlichte Wahrheit, denk ich; aber warum diese Frage in diesem Augenblick? Auch – auch Sie haben Briefe erhalten, wie ich sehe – ich verstehe! Lady Marie führte diese Gründe an, um ihre Einwilligung zu versagen.«
»Ihre Einwilligung ist nicht versagt.« antwortete Percival; »aber, soll ich es gestehen? – erinnern Sie sich, daß ich Ihr Versprechen habe, Madame Dalibard durch die Entdeckung nicht zu verletzen oder zu beleidigen! – meine Mutter bezieht sich auf die eben angeführten Gegenstände, und Kapitän Greville, mein alter Freund und Vormund, ist unterwegs nach England – und kann vielleicht morgen in Laughton eintreffen.«
»Ha!« sagte Varney überrascht – »Morgen! – und was für ein Mann ist dieser Kapitän Greville?«
»Der beste Mann, wie ich ihn für meine Sache wünschen kann; mildherzig, obwohl kalt, klug, der feinste Beobachter, der schärfste Menschenkenner – nichts entgeht ihm. O, eine Zusammenkunft wird hinreichen, um ihn Helenens unschuldige und unvergleichliche Vortrefflichkeit sofort erkennen zu lassen.«
»Morgen! dieser Mann kommt morgen!«
»Alles was ich fürchte ist – denn er ist etwas rauh und schlicht in seinem Benehmen – Alles, was ich fürchte, ist seine erste Ueberraschung, und darf ich so sagen, sein Mißfallen, wenn er die arme Madame Dalibard, deren Vergehen, fürchte ich, größer waren, als Sie vermuthen, in dem Hause sieht, aus welchem ihr Oheim,– dem ich allerdings diese Erbschaft verdanke« –«
»Ich versteh'! ich verstehe!« unterbrach ihn Varney rasch. »Und Madame Dalibard ist die empfindlichste aller Frauen – es ist natürlich – so vornehm geboren und so arm, so begabt und so hilflos. Können Sie nicht schreiben und Kapitän Greville einige Tage fernhalten? – bis ich eine Auskunft finden kann, um unsern Besuch zu endigen?«
»Aber mein Brief kann ihn schwerlich zu rechter Zeit erreichen; er kann morgen in der Stadt seyn.«
»So gehen Sie gleich nach der Stadt; Sie können spät Abends oder wenigstens am Morgen zurück seyn. Lieber alles Andere, als den Stolz einer Frau verwunden, von welcher sie am Ende doch hinsichtlich des freien und offenen Umgangs mit Helenen abhängen.«
»Das ist genau, woran ich selbst dachte; aber was für ein Vorwand?« –
»Vorwand! – tausend für einen! Jeder Mann, der bei einem solchen Besitzthume volljährig wird, hat Geschäfte mit seinen Sachwaltern; oder weshalb nicht einfach sagen, daß Sie einen Freund treffen müssen, der so eben Ihre Mutter in Italien verlassen hat? – kurz, jeder Vorwand ist gut und keiner kann beleidigend seyn.«
»Ich will meinen Wagen gleich bestellen.«
»Gut!« rief Varney, und sein Auge folgte dem fortgehenden Percival mit einer Mischung wilder Freude und ängstlicher Besorgniß. Dann wandte er sich nach dem Fenster des Thurmzimmers, in welchem Madame Dalibard ruhte, und da er es nach innen geschlossen sah, murmelte er einen ungeduldigen Fluch. Aber in diesem Augenblicke wich die Gardine des Fensters langsam und ein Diener, der aus dem Portal trat, näherte sich Varney mit der Nachricht, daß ihn Madame Dalibard nach fünf Minuten sprechen wolle, wenn er dann die Güte haben würde, sich nach ihrem Zimmer zu verfügen.
Bevor diese Zeit noch verstrichen war, befand sich Varney schon in dem Gemach. Madame Dalibard war aufgestanden und saß auf ihrem Stuhle; die ungewöhnliche Freude, welche ihr Gesicht zeigte, kontrastierte sehr gegen den düstern Schatten auf ihres Stiefsohns Stirne und das Beben seiner Lippe.
»Gabriel,« sagte sie, während er sich zu ihr setzte, »mein Sohn ist gefunden.«
»Ich weiß es,« antwortete er höhnisch.
»Sie! – von wem?«
»Von Grabman.«
»Und ich von einer besseren Autorität – von Walter Ardworth selbst! Er lebt, er wird mein Kind wieder bringen!« Bei diesen Worten reichte sie ihm einen Brief. Er reichte ihr dagegen den seinigen, nicht den er noch in der Hand zerknickt hielt, sondern einen, den er aus dem Busen zog. Diese Briefe, die Beide beschäftigten, waren fast in demselben Augenblick begonnen und geendigt.
Der von Grabman lautete so: –
»Theurer Jason, – schwenken Sie Ihren Hut und rufen Sie Juchhe! Endlich, von Person zu Person, habe ich den verlorenen Vincent Braddell gesunden. Er lebt noch! Wir können seine Identität vor jedem Gericht geltend machen. Die Post wird gleich abgehen und ich kann daher nichts Einzelnes berichten. Ich werde die nächsten zwei Tage darauf verwenden, um alle Beweise in die regelrechte Form zu bringen, die ich Ihnen dann zustelle. Inzwischen machen Sie sich gefaßt, mich so bald als möglich in Besitz meiner Gebühren zu setzen – 5000 Pfund und meine Schnelligkeit verdient noch was mehr.
Der Ihrige
Nicolaus Grabman.«
Der Brief von Ardworth klang nicht minder entschieden:
»Madame! – Gehorsam dem Auftrage eines sterbenden Freundes, nahm ich sein Kind in Obhut und verbarg seine Existenz vor seiner Mutter selbst – vor Ihnen. Ich brauche nicht zu sagen, daß ich bei meiner Rückkehr nach England mit Theilnahme an meinen Schutzbefohlenen dachte. Ihr Sohn lebt; und nach reiflicher Ueberlegung habe ich mich entschlossen, denselben wieder in Ihre Arme zu legen. Dazu bin ich durch Nachrichten bestimmt worden, die mir Jemand, dem ich vertrauen darf, über Ihre geänderten Gewohnheiten, Ihr anständiges Leben, Ihre traurige Gebrechlichkeit und den großmüthigen Schutz mittheilte, den Sie der Waise meiner armen Cousine Susanna, meines alten Freundes Mainwaring, angedeihen lassen. Alfred Braddell selbst, wenn es ihm vergönnt ist, herabzusehen und meine Beweggründe zu erkennen, wird mir gewiß verzeihen, daß ich von seinen Vorschriften abweiche. Welches auch die Fehler seyn mochten, die ihm mißfielen, sie sind reichlich gebüßt worden. Und Ihr zum Manne erwachsener Sohn darf seiner Mutter nicht länger entzogen werden.
Diese Worte sind streng, aber Sie werden Sie Demjenigen vergessen, der Ihnen Ihr Kind zurückgibt. Ich werde es wagen, Ihnen persönlich aufzuwarten und Ihnen solche Beweise zu bringen, die Sie über die Identität Ihres Sohnes zufrieden stellen werden. Ich gedenke morgen nach Laughton zu kommen. Inzwischen unterzeichne ich mich einfach mit einem Namen, in welchem Sie den Verwandten eines Zweigs Ihrer Familie und den Freund Ihres verstorbenen Gatten wieder erkennen werden.
J. Walter Ardworth.
Craven-Hotel, Oktober 1831.«
»Nun, und Sie freuen sich nicht?« sagte Lucretia, indem sie erstaunt Varney's düsteres und gleichgiltiges Gesicht betrachtete.
»Nein! Weil die Zeit drängt, weil Sie, gerade während der Entdeckung Ihres Sohnes, die Sicherung seiner Erbschaft verfehlen können; weil ich, mitten in Ihrem Triumph, sehe, wie sich Newgate für mich öffnet! Sehen Sie, auch ich habe meine Nachrichten erhalten – minder erfreulich, als die Ihrigen. Jener Stubmore (Fluch ihm!) schreibt mir, daß er gewiß nächsten Monat in der Stadt seyn wird, und daß er unmittelbar nach seiner Ankunft das Vermächtniß der Bank von England abnehmen wolle, um es zu einer vortrefflichen Hypothek zu verwenden, von welcher er gehört habe. Wäre es nicht unseres Planes wegen, so könnte ich an nichts, als an Flucht und Verbannung denken.«
»Ein Monat! – Das ist eine lange Zeit. Meinen Sie, daß ich jetzt, da mein Sohn gefunden ist, und zwar ein Sohn wie John Ardworth, (denn es ist kein Zweifel, daß ich richtig vermuthet hatte,) mit einem Genie, um die Macht zu gewinnen von welcher ich in meiner Jugend träumte, an deren Erreichung mich aber mein Geschlecht verhinderte– meinen Sie, daß ich ihn nun einen Monat fern von seinem Erbe lassen würde? Bevor der Monat um ist, soll ersetzt seyn, was Sie genommen haben, und Sie sollen, wenn es nöthig ist, des Bevollmächtigten Schweigen erkaufen können, sey es mit den versicherten Summen oder mit den Renten von Laughton.«
»Lucretia!« sagte Varney, dessen frische Gesichtsfarbe bleiern geworden war – »was geschehen soll, muß gleich gethan werden. Percival St. John hat Nachricht von seiner Mutter. Merken Sie auf!« Und Varney berichtete hastig die ihm von St. John vorgelegten Fragen, die befürchtete Ankunft des Kapitän Greville, die Gefahr eines so scharfen Beobachters – die Nothwendigkeit, jedenfalls ihren Besuch abzubrechen – die Dringlichkeit, um die Katastrophe rasch zum Schluß zu bringen.
Lucretia hörte in bedeutungsvollem und ununterbrochenem Schweigen zu.
»Aber,« sagte sie endlich, »Sie haben St. John beredet, diesen Mann in London einzuholen, seinen Besuch für jetzt abzuwenden! St. John wird morgen zu uns zurückkehren. Gut. Und wenn er findet, daß seine Helene nicht mehr ist – Gram tödtet bisweilen den Trauernden plötzlich!«
»Allein diese Raschheit, wenn überhaupt nothwendig, ist gefährlich. Nichts in Helenens Zustande läßt plötzlichen Tod bei natürlichen Mitteln erwarten. Die Seltsamkeit zweier Todesfälle – beide so jung – Greville in England, wo nicht hier – welcher zur Untersuchung mit so großer Voreingenommenheit gegen Sie herbeieilt – eine gerichtsärztliche Untersuchung muß da unausbleiblich seyn.«
»Nun gut, was kann denn entdeckt werden? Ich war es, die früher zurückbebte– ich bin es, die nun zur Vollendung drängt. Ich fühle mich wie in meinem Eigenthum in diesen Hallen. Ich mag sie nicht wieder verlassen, außer zu meinem Grabe. Ich stehe am Herde meiner Jugend. Ich kämpfe für meine und meines Sohnes Rechte. Mögen sie sterben, die sich mir widersetzen!«
Eine gräßliche Energie und Kraft lag in dem Gesichte der Mörderin, während sie sprach, und indeß ihre Entschlossenheit der minder starken Schurkerei Varney's Furcht einflößte, diente sie doch zugleich dazu, seine Besorgnisse zu mäßigen.
Während sie ihre entsetzliche Absicht genauer zu besprechen begannen, suchte Percival, indeß die Pferde angespannt wurden, um ihn zur nächsten Poststadt zu bringen, Helenen auf und fand sie in dem kleinen Zimmer, welches er als ihr eigenes beschrieben und ihr zugeeignet hatte, als ihre zärtliche Phantasie sich damit beschäftigte, die Zukunft auszumalen.
Dieses Zimmer war ursprünglich zur Privatandacht der katholischen Gemahlin eines der Vorfahren unter Karls II. Regierung eingerichtet worden; und in einer, halb von einem Vorhang verhüllten Nische stand noch immer jenes heilige Symbol, welches Niemand, ob Protestant oder Katholik, der von der erhabenen Weihe der heiligen Geschichte durchdrungen ist, ungerührt betrachten kann – das Kreuz mit dem sterbenden Gotte. Vor diesem heiligen Symbol stand Helena in eifriger Andacht. Sie kniete nicht, (denn die Formen der Religion, in welcher sie erzogen worden, widersetzten sich in dieser Stellung der Gottesverehrung vor dem Bilde,) aber man konnte in ihrem Gesichte, ebensoviel Begeisterung, als sanfte Frömmigkeit aussprechend, erkennen, daß die Seele erfüllt war mit den Erinnerungen und den Hoffnungen, die in allen Zeitaltern den Leidenden getröstet und den Märtyrer begeistert haben. Die Seele knieete vor dem Begriffe, wenn sich auch das Knie nicht vor dem Bilde beugte, indem sie der liebenden Hoheit des Opfers und der großen Erbschaft gedachte, welche dem Gläubigen die Erlösung verheißt.
Der junge Mann hielt den Athem zurück, während er sie betrachtete. Er war gerührt und er empfand Ehrerbietung. Langsam wandte sich Helene nach ihm und reichte ihm, süß lächelnd, die Hand. Schweigend setzten sie sich in der Fenstervertiefung nieder, und der trauernde Charakter der Landschaft draußen, wo durch den nebeligen Regen dunkel die Cedernwipfel sichtbar waren, zog sie unwillkürlich näher an einander, als wollten sie einander in ihrer Liebe vor der ringsum drohenden Welt schützen. Percival hatte den Muth nicht, zu sagen, daß er gekommen sey, um Abschied zu nehmen, obwohl nur auf einen Tag; und Helene ergriff das Wort zuerst:
»Ich weiß nicht, was es bedeutet, Percival, aber ich bin erstaunt über die Veränderung, die ich in mir fühle– nein, nicht hinsichtlich der Gesundheit, lieber Percival, ich meine im Gemüth; und zwar während der letzten Monate, seitdem wir uns kennen. Ich erinnere mich sehr gut des Morgens, wo der Brief meiner Tante in dem lieben Pfarrhaus ankam. Wir kehrten vom Dorfmarkte zurück und mein guter Vormund lächelte über meine Begriffe von der Welt. Ich war damals so munter und leicht und gedankenlos – Alles erschien mir in heiteren Farben, – ich glaubte kaum an Schmerz – ich vergaß, daß alles Leben ein Grab erwartet. Und nun ist mir, wie wenn ich zu einem wahren Begriffe von der Natur, von den großen Zwecken unseres Daseins hier, erwacht wäre; mir ist, als wüßte ich nun, daß das Leben etwas Ernstes und Bedeutungsvolles ist. Dennoch bin ich nicht minder glücklich, Percival. Nein, ich glaube vielmehr, daß ich das Glück gar nicht recht kannte, bis ich Dich kennen lernte. Ich habe irgendwo gelesen, daß der Sclave fröhlich sey an seinem arbeitsfreien Feiertage; sobald man ihn befreie und bilde, verschwinde seine Fröhlichkeit, so daß ihn nicht mehr der Tanz unter'm Palmbaum kümmert. Aber ist er weniger glücklich? Gerade so ist's mit mir.«
»Meine süße Helene, lieber wäre mir ein heiteres Lächeln von ehemals; das schalkhafte, sorglose Lachen, welches so natürlich von diesen rosigen Lippen tönte, würd' ich lieber hören, als Deine Worte von Glückseligkeit mit diesem Zittern in der Stimme – diesen Thränen in Deinen Augen.«
»Aber Fröhlichkeit,« sagte Helene sinnend und in ihrer poetischen Redeweise, »ist nur der leichte Eindruck des gegenwärtigen Augenblicks – nur ein Spiel der Laune; Glückseligkeit dagegen scheint ein Vorgeschmack der Zukunft, der alle Zeit und allen Raum umfaßt.«
»Und so lebst Du also in der Zukunft – Du hast jetzt keine Bedenklichkeiten, meine Helene. Gut, das tröstet mich! Sag' es, Helene, sage, daß die Zukunft unser seyn wird!«
»Sie wird – sie wird es, auf immer und ewig,« sagte Helene mit Nachdruck, während ihre Augen unwillkürlich auf dem Kreuze ruhten.
Bei seinem jugendlichen Muthe und seinem minder phantasiereichen Wesen begriff Percival die Tiefe der Schwermuth nicht, welche Helenens Antwort kund that; er nahm die letztere wörtlich, ihm war, als wenn eine Bürde von seinem Herzen genommen wäre, und indem er mit Entzücken ihre Hand küßte, rief er: »Ja, diese Hand soll bald, o, recht bald mein seyn! Da Du hoffst, fürchte ich nichts mehr. Du ahnst nicht, warum Deine Worte mich erquickt haben, denn ich verlasse Dich jetzt, wenn auch nur auf wenige Stunden, und ich werde jene Worte wiederholen – sie werden mir im Ohr, im Herzen tönen, bis wir einander wiedersehen.«
»Mich verlassen!« sagte Helene erbleichend und seine Hand stärker drückend. Das arme Kind empfand in seiner Nähe einen geheimnißvollen Schutz.
»Aber höchstens auf einen Tag. Mein alter Vormund, von dem wir so oft sprachen, ist auf dem Wege nach England – vielleicht schon jetzt in London. Er hat einige falsche Ansichten über Deine Tante – sein Benehmen ist schlicht und rauh. Es ist nothwendig, daß ich ihn sehe, bevor er hierher kommt. Du weißt, wie empfindlich der Stolz Deiner Tante ist – ich muß ihn darauf vorbereiten, daß er sie hier finden wird – Du verstehst?«
»Welche Ansichten gegen meine Tante? Kennt er sie denn?« fragte Helene; und wenn ein Gefühl wie Argwohn diese reine Seelenunschuld bewohnen konnte, so beunruhigte sie jetzt dies Gefühl gegen die strenge Verwandte, deren Arme sie nie umschlungen, deren Lippen nie über die Vergangenheit gesprochen hatten, deren Geschichte ein versiegeltes Buch war.
»Eben weil er sie nie kannte, that er ihr Unrecht. Eine alte Geschichte von ihrem Betragen als Mädchen – von ihres Oheims Mißfallen – was hat das jetzt zu bedeuten?« sagte Percival, indem er vor einer Eröffnung zurückbebte, welche Helenen im Namen ihrer Verwandten verwunden konnte. »Inzwischen, Theuerste, wirst Du vorsichtig seyn – wirst diese schwere Nebelluft vermeiden, ruhig zu Hause bleiben und Dich unterhalten, in süßen Zukunftgedanken schwärmen und daran denken, wie diese alten Hallen zu verschönern sind, wenn sie und ihr unwürdiger Besitzer Dein eigen seyn werden. Gott behüte Dich! Gott schütze Dich, Helene!«
Er stand auf, und mit jener treuen Ritterlichkeit der Liebe, die nur ehrerbietiger war, je nachsichtiger und unbekümmerter die Vormundschaft war, unter welcher seine Helene stand, enthielt er sich selbst des Abschiedskusses, den sie gewährt hätte und nach dem er sich sehnte. Aber während er zögerte, bewegte ein unwiderstehlicher Antrieb Helenens Herz. Mechanisch öffnete sie ihre Arme und ihr Haupt sank auf seine Schulter. Schweigend blieben sie einige Augenblicke in dieser Umarmung und ein Engel konnte ohne Tadel ihre reinen Herzen durch die Stille schlagen hören.
Endlich riß sich Percival selbst aus diesen Armen, die ihn widerstrebend ließen– so wie der Ertrinkende auf grausamer See das einzige Brett läßt. Sie hörte seinen Tritt die Treppe hinabeilen und einen Augenblick später den Wagen durch den Hof rollen. Ein banges Gefühl, wie das der äußersten Verlassenheit, der ewigen Betäubung, machte sie schaudern. Regungslos wie in Stein verwandelt stand sie da. Plötzlich berührte etwas Warmes ihre Hand – ein leises Winseln erregte ihre Aufmerksamkeit; – Percival's Lieblingshund vermißte seinen Herrn und hatte zu ihr seine Zuflucht genommen. Das bange Gefühl der Verlassenheit verschwand bei dieser bescheidenen Gesellschaft und indem sie sich an den Boden setzte, nahm sie den Hund in die Arme, beugte sich über ihn und weinte still.