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Als Percival an diesem Tage nach Brompton kam, erzählte er Madame Dalibard von seiner Zusammenkunft mit dem excentrischen Mr. Tomkins. Lucretia schien beunruhigt durch die Nachfragen, mit denen jener Herr sie beehrt hatte, und sobald Percival gegangen war, sendete sie nach Varney. Er kam erst spät. Sie wiederholte ihm, was St. John von dem Fremden gesagt hatte. Varney theilte ihre Unruhe. Der Name war ihnen allerdings unbekannt, auch vermochten sie den Führer eines so gewöhnlichen Familiennamens nicht zu errathen; aber es gab Geheimnisse genug in Lucretia's Leben, um sie eine Begegnung der Personen fürchten zu lassen, die sie in früheren Jahren gekannt hatten; und Varney war besorgt, daß vielleicht ein St. John mitgetheiltes Gerücht dessen Vertrauen erschüttern oder die Sicherheit schwächen könne, mit welcher man ein bisher so argloses Opfer gefesselt hatte. Beide stimmten überein, daß sie sich selbst und St. John sobald als möglich von London entfernen und den Letztern verhindern müßten, genauer mit dem Fremden umzugehen, welcher augenscheinlich seine Neugier erregt hatte.
Am nächsten Tage war Helene sehr unwohl und die Symptome wurden gegen Abend so ernst, daß Madame Dalibard Unruhe zeigte und gern zugab, daß Percival (welcher Helenen nur einige Minuten sehen durfte, weil ihr Unwohlseyn so sehr zunahm, daß sie sich nach ihrem Zimmer zurückziehen mußte) fortging, um einen Arzt zu suchen. Er kehrte mit einem der ausgezeichnetsten Aerzte zurück. Auf dem Wege nach Brompton sprach Percival, in Erwiederung der Fragen des Dr. –, von der Niedergeschlagenheit, welcher sich Helene dann und wann hingab, und dieser Umstand bestärkte Dr. – in seiner Ansicht über die Krankheit, nachdem er die Patientin gesehen hatte. Außer einigen Symptomen von Fieber und Hitze, die er durch seine Verordnungen bald zu beseitigen hoffte, fand er auch eine große Nervenschwäche und stimmte gern der gelegentlichen Bemerkung des anwesenden Varney bei, daß eine Veränderung der Luft sehr heilsam für Miß Mainwaring's Gesundheit seyn würde, sobald der gegenwärtige Anfall vorübergegangen wäre. Er hielt das Uebel jetzt nicht für sehr bedenklich, und beruhigte den armen Percival durch seine tröstliche Miene und hoffnungsreichen Zusicherungen. Percival blieb den ganzen Tag im Hause und hatte, bevor er ging, die Freude, zu vernehmen, daß die Mittel bereits das Fieber gelindert und daß Helene in einen tiefen Schlaf gefallen sey. Während er mit Varney nach der Stadt zurückging, sagte der Letztere zögernd: »Sie sagten mir neulich, Sie würden auf einige Tage nach Vernon Grange und nach Laughton gehen müssen, da Ihnen Ihr Verwalter einige umfangreiche Veränderungen, welche in Betreff Ihrer Waldungen diesen Herbst vorgenommen werden sollen, angeben wollte. Da nun Helenen die Veränderung der Luft anempfohlen ist, warum laden Sie Madame Dalibard nicht ein. Sie an einem jener Orte zu besuchen? Ich würde Laughton vorschlagen. Ich weiß, daß sich meine Stiefmutter sehnt, den Schauplatz ihrer Jugend wieder zu besuchen, und Sie könnten ihr keine größere Artigkeit oder Gefälligkeit erzeigen, als durch eine solche Einladung.«
»O,« sagte Percival freudig, »es würde den liebsten Traum meines Herzens erfüllen, wenn ich Helenen in den alten Hallen von Laughton sehen könnte. Aber meine Mutter ist verreist, und es ist daher keine Dame da, um sie zu empfangen; vielleicht –«
»Ei,« unterbrach ihn Varney, »Madame Dalibard ist gerade die rechte Person, welche Sie schicklicherweise erwählen könnten, um in Lady Marie's Abwesenheit die Honneurs Ihres Hauses zu machen; nicht nur weil sie Ihnen selbst verwandt ist, sondern auch die nächste noch lebende Verwandte Sir Miles' – des direktesten Nachkommen der St. Johns; ihre reifen Jahre und ihre Stellung im Leben, ihre Verwandtschaft mit Helenen und Ihnen, müssen gewiß jeden Anschein von Unschicklichkeit beseitigen.«
»Wofern sie dieser Meinung ist, sicherlich. Ich habe kein bestimmtes Urtheil über solche Formangelegenheiten. Sie würden mich sehr verpflichten, Varney, wenn Sie im Voraus ihre Einwilligung zu dem Anerbieten einholten. Helene zu Laughton! – o, entzückender Gedanke!«
»Und in welcher Luft würde sie sich leichter erholen können?« sagte Varney, aber seine Stimme klang schwer und beklommen.
Die Aussichten, welche ihm somit dargeboten wurden, bannten fast alle Besorgniß aus Percival's Brust. In tausend entzückenden Gestalten umgaukelten sie ihn während der schlaflosen Nacht. Und als er am nächsten Morgen vernahm, daß sich Helene über Vermuthen besser befände, drückte er Madame Dalibard seine Einladung mit einer Wärme aus, welche ihre Wange noch bleicher, und ihre Hand, während sie der bittende Jüngling faßte, todtenkalt machte. Aber sie willigte rasch ein, und Percival, dem eine kurze Unterredung mit Helenen vergönnt wurde, hatte die Freude, sie eben so fröhlich als kindlich, wie er selber, über die mitgetheilte Nachricht lächeln zu sehen, während sie mit schwimmenden Augen zuhörte, als er von den Spaziergängen sprach, die sie mit einander auf Wegen machen wollten, die ihr fortan eben so lieb wie ihm selber werden sollten. Sie sahen ein Feenland vor sich.
Der Besuch des Arztes trug dazu bei, Percival's erhöhte Stimmung zu rechtfertigen. Alle ernsteren Symptome waren bereits verschwunden. Er billigte die Abreise der Kranken aus der Stadt, sobald diese für Madame Dalibard möglich seyn würde, und verordnete nur noch eine Reihe kräftigender Arzneien, um das Nervensystem zu stärken. Damit sollte am nächsten Morgen begonnen und einige Wochen lang fortgefahren werden. Er sprach viel über die Wirkung, welche das Einnehmen dieser Arzneien, was gleich nach dem Erwachen angeordnet war, haben würde. Varney und Madame Dalibard wechselten einen raschen Blick. Entzückt über den Erfolg, welcher in diesem Falle die Kunst des großen Arztes begleitet hatte, drang Percival sehr eifrig in Madame Dalibard, wegen ihrer eigenen Krankheit doch auch die Weisheit des Dr. – zu Rathe zu ziehen; und der Doktor setzte seine Brille auf, rückte seinen Stuhl näher zu der unwilligen Gebrechlichen, und begann sie über ihren Zustand zu befragen; aber Madame Dalibard brach kurz und unfreundlich alle weiteren Erkundigungen ab – sie hatte bereits alle Mittel der Heilkunst erschöpft – sie hatte sich mit ihrem kläglichen Zustande ausgesöhnt, und alles Zutrauen zu den Aerzten verloren; – sie würde vielleicht einmal die Bäder zu Eger besuchen, aber bis dahin wollte sie ungestört leiden.
Der Arzt, der keineswegs wünschte, eine chronische Lähmung zu behandeln, stand lächelnd und mit dem freimüthigen Geständnis auf, daß die deutschen Bäder bisweilen sehr wirksam in solchen Krankheitsfällen wären; dann drückte er Percival's dargebotene Hand, fuhr mit der seinigen in die Tasche und ging unter Verbeugungen aus dem Zimmer.
Von aller Besorgniß befreit, nahm Percival mit sehr guter Laune die Andeutung der Madame Dalibard auf, daß die Aufregung, in welcher sie seit den letzten vier und zwanzig Stunden erhalten worden, sie untauglich für seine Gesellschaft mache; er ging heim, um nach Laughton zu schreiben und Alles für die Aufnahme seiner Gäste vorzubereiten. Varney begleitete ihn. Percival fand in dem Vorhaus Beck, der bereits sehr verändert war und durch eine neue Livree ein stattlicheres Ansehen bekommen hatte. Der Exkehrer starrte Varney scharf an, welcher jedoch, ohne in so schmucker Gestalt das zerlumpte Wesen wieder zu erkennen, welches ihm zu Mr. Grabman's Wohnung vorgeleuchtet hatte, an ihm vorüberging und sich in Percival's kleines Studierzimmer im Erdgeschoß begab.
»Nun, Beck,« sagte Percival, der stets an Andere dachte und das Staunen, mit welchem sein Stallknecht Varney betrachtete, der Bewunderung zuschrieb, die er dem stattlichen Aeußern dieses Herrn schenken mochte – »Ich werde Dich morgen mit zwei von den Pferden auf's Land schicken – daher mag der heutige Tag Dein gehören, damit Du von Deiner Pflegemutter Abschied nehmen kannst. Ich hoffe, Du wirst ihre kleinen Räume behaglicher als gestern finden.«
Beck hörte klopfenden Herzens zu, und sein Herr, der ihm einen freundlichen Schlag auf die Schulter gab, ließ ihn hinausgehen, um den Weg nach Becky's Wohnung anzutreten.
Er fand in der That, daß die letztere bereits die magische Umgestaltung erfahren hatte, welche dem Reichthum stets zu Gebote steht. Mrs. Mivers, die von Natur rasch und thätig war, hatte Vergnügen darin gefunden, Percival's Auftrag auszuführen. Früh am Morgen waren die Dielen gescheuert, die Fenster gereinigt, der Ventilator angebracht worden; dann kamen Träger mit Tischen und Stühlen, einer stattlichen Wanduhr, neuen Betten und einem schönen Teppich; dann kamen zwei Mägde der Mrs. Mivers, um all' die Sachen in Ordnung zu stellen, und endlich, nachdem fast Alles fertig war, erschien Mrs. Mivers selbst, um Allem mit eigener Hand die Vollendung zu geben, und zwar mit ihrer eigenen hausfräulichen Schürze angethan.
Die gute Dame war noch beschäftigt, eine Reihe Theetassen in gehöriger Ordnung auf die Kommode zu stellen, als Beck eintrat; seine alte Pflegerin eilte im Uebermaß ihrer Freude dem Findling entgegen und umarmte ihn.
»Das ist recht so!« sagte Mrs. Mivers freundlich, während sie sich umsah und eine Thräne im Auge trocknete. »Sie sind ihm viel schuldig, dem armen Burschen; er ist Ihnen ein wahrer Gottesbote geworden, und, meiner Treu, er nimmt sich recht gut in den neuen Kleidern aus. Aber was ist das da? eine Kinderklapper?« fügte sie hinzu, als sie einen der Kommodenkasten öffnete und Becks Schatz entdeckte. »Lieber Himmel, eine recht hübsche Klapper – ei, diese Schellchen sehen wie Gold aus!« Und während sie einen Augenblick ihres Schützlings Ehrlichkeit bezweifelte, verdunkelte sich ihre Stirn. »Wie in aller Welt kommen Sie dazu, Mrs. Becky?«
»Nun, wirklich.« erwiederte Becky mit ihrer ungeschickten Verneigung, »'s ist mir sehr lieb, daß das Ding jetzt erst gefunden ist, und nicht schon vor langer Zeit, sonst wär' ich wohl schlecht genug gewesen, es mit allem Andern zum Pfandleiher wandern zu lassen; und ich weiß noch, obwohl es sehr lange her ist, während der Bursch noch ein kleiner Junge war, daß ich der Versuchung widerstand und sagte: Nein, Becky Carruthers das darf der Pfandleiher nicht bekommen!«
»Und warum nicht, meine gute Frau?«
»Ja, sehen Sie, Madame, wenn diese Koralle reden könnte, die wüßte was zu erzählen – ja, wer weiß, wie viel! Sehen Sie, Madame, als mein guter Mann noch nicht lange todt war und ich nicht aus noch ein wußte, da sagt' ich zu mir: Becky Carruthers, du mußt auf die Straße gehen und betteln! Ich hatte nie gedacht, daß ich so weit kommen würde; aber sehen Sie, Madame, mein guter Mann fiel von einem Gerüst – er war zwar immer ein guter Mann –«
»Ja, ja, das haben Sie mir schon erzählt,« sagte Mrs. Mivers, die ungeduldig wurde und bereits von dem Interesse an der Koralle durch eine neue Ladung, ganz nagelneu vom Zinngießer, abgezogen ward, welche nicht minder die Bewunderung Beck's und seiner Pflegerin in Anspruch nahm. Und während der Besichtigung dieser Gegenstände und der begleitenden Kommentare ruhte die Klapper in Frieden in der Kommode, bis Mrs. Mivers, als sie so eben ihre Nachfragen erneuern wollte, durch den Schlag der Wanduhr, welche die vierte Stunde anzeigte, an die Eile der Zeit und ihre eigene Eßstunde erinnert wurde. Daher nahm sie Abschied, während sie wiederholt versprach wiederzukommen und ausführlich mit der armen Freundin zu reden, und sie ging, von den Segenswünschen Becky's und den minder geräuschvollen, aber nicht weniger dankbaren Komplimenten Becks begleitet.
Der Abend war den beiden armen Geschöpfen sehr glücklich bei der ersten Tasse Thee aus dem neuen glänzenden Kupferkessel und dem Zwieback vergangen: ein Luxusartikel, dessen sie sich bei ihren veränderten Umständen ohne Verschwendung wieder erfreuen konnten. Im Laufe des Gesprächs hatte Beck mitgetheilt, wie sehr er erstaunt gewesen, den Gast Grabman's, den Aufreizer des gefährlichen Leichenräubers in dem vertrautesten Bekannten seines Herrn wiederzufinden; und als Becky ihm sagte, daß sie, während sie bei Familien ihrem Berufe des Scheuerns oblag und dabei ihre Erfahrungen sammelte, gar oft von dem Verderben gehört hätte, in welches reiche junge Männer durch Spieler und Gauner gebracht worden, da gelobte sich Beck, ein scharfes Auge auf Grabman's stattlichen Bekannten zu haben. »Denn mein Herr ist nur wie ein Kind,« sagte er würdevoll; »und lieber wollt' ich mich in tausend Stücke zerreißen lassen, eh' ich ihm ein Leid zufügen ließe, wenn ich's verhindern könnte.«
Es versteht sich, daß seine Pflegmutter ihn in diesen guten Vorsätzen bestärkte.
»Und nun,« sagte Beck, als die Zeit zum Abschied gekommen war, »wirst Du doch vom Branntweinladen fern bleiben, nicht wahr, und unserem jungen Herrn keine Schande machen?«
»Ei, gewiß nicht,« antwortete Becky, »nur wenn man heruntergekommen ist in der Welt, geht man in den Likörladen. Jetzt, meiner Treu« – und dabei blickte sie recht stolz umher – »bin ich in so anständigen Umständen, daß ich mich gewiß danach halten will, und man soll nicht sagen, Becky Carruthers wisse sich nicht zu betragen. Die Koralle wird sicher genug seyn – aber vielleicht wär's am besten, wenn Du sie selber mit Dir nähmst.«
»Was sollt' ich damit thun? Ich habe damit so schon genug zu verantworten gehabt. Wickele sie in ein Tuch ein, und wenn dann der Herr heirathet und ein Kindchen hat, welches Zähne bekommt, dann wird er vielleicht sagen: Danke schön, Beck, für Deine Koralle. Müßt' uns das nicht stolz machen, Mama?«
Während er bei dieser Aussicht herzlich lachte, küßte Beck seine Pflegemutter und ging. Er gab sich Mühe, recht steif und stattlich aufzutreten und seinem neuen Kleide Ehre zu machen, während er den Weg nach seinem Gemache überm Stalle antrat.