Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Des deutschen Knaben Tischgebet

Das war einmal ein Jubeltag!
Bei Sedan fiel der große Schlag:
Mac Mahon war ins Garn gegangen,
Der Kaiser und sein Heer gefangen;
Und blitzschnell flog die Siegespost
Am Draht nach Süd und Nord und Ost,
Da gab's ein Jubeln ohnemaßen,
Von Flaggen wogten alle Straßen,
Vieltausendstimmig scholl Hurra;
Und waren noch Kanonen da,
So schoß man auch Viktoria.
Doch jedenfalls die »Wacht am Rhein«
Ward angestimmt von groß und klein.
Denn auch durch der Unmünd'gen Mund
Wird Gottes Lob von alters kund.
Und einer von den kleinsten Jungen
Der hat am lautsten mitgesungen:
Die bunte Mütze auf dem Ohr,
Die Höslein flott im Stiefelrohr,
Marschiert er wacker mit im Chor,
Beteiligt sich den Morgen lang
An jedem Schrei und jedem Sang;
So wichtig nahm's der kleine Wicht,
Als ging's ohn' ihn entschieden nicht,
War so mit Leib und Seel' dabei,
Als ob er selbst die Rheinwacht sei,
Hat drum den Glockenschlag vergessen
Und kommt zu spät zum Mittagessen.

Mit heißen Wangen, rotem Kopf,
Mit offner Brust, verwehtem Schopf,
Erscheint er endlich siegesmatt –
Die andern waren halb schon satt –
Grüßt obenhin, setzt sich zu Tisch
Und greift nach seinem Löffel frisch.
Jedoch der biedre Vater spricht:
»Fritz, ungebetet ißt man nicht!«
Worauf mein Fritz vom Stuhl ersteht,
Die Hände faltet zum Gebet
Und, weil sein Kopf noch stark zerstreut,
Gibt's, wie der Geist ihm just gebeut,
Spricht: »Lieber Gott, magst ruhig sein,
Fest steht und treu die Wacht am Rhein.
Amen!«

Karl Gerok (1870)

 


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