Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Die Römerstraße

Man spricht im Dorf noch oft von ihr,
Der alten drauß' im tiefen Walde,
Sie zeige sich noch dort und hier,
Am Feldweg und am Saum der Halde.

Sie zieht herauf und steigt hinab,
Es weidet über ihr die Herde;
An ihrer Seite manches Grab:
So liegt sie drunten in der Erde.

Es führt ob ihr dahin der Steg;
Der Pflüger mit dem Jochgespanne
Geht über ihren Grund hinweg,
Und Wurzeln schlägt auf ihr die Tanne.

Der Römer hat sie einst gebaut
Und ihr den Ruhm, die Pflicht, die Trauer,
Der Gräber Urnen anvertraut
Und seines Namens ew'ge Dauer.

Und heut, aus ferner Zeiten Nacht
Bewegt es mich wie nahes Wehen,
Ein Lichtstrahl wie von selbst erwacht,
Ein Augenblick wie Geistersehen.

Mir ist, Kohorten schreiten dort
Gepanzert nach dem Lagerwalle,
Es tönt des Kriegstribunen Wort
Vom Turm her zu der Tuba Schalle.

Und eine Villa glänzt am Strom,
Wo Kähne landen, Sklaven lärmen;
Der Herr des Hauses seufzt nach Rom,
Nach Tibur und nach Bajäs Thermen.

Zur Gruftkapelle draußen wallt,
Mit Trauerspenden ihrem Sohne
Das Grab zu schmücken, die Gestalt
Der tiefverschleierten Matrone.

Der Prätor naht, vom Volk umringt;
Liktoren ziehn, behelmte Reiter –
Und wie sich Bild mit Bild verschlingt,
Am Tag traumwandelnd schreit' ich weiter.

Da plötzlich ruft ein Laut mich wach,
Ein Erdgedröhn auf nahen Gleisen –
Ich steh' am Kreuzweg; hier durchbrach
Den Römerpfad der Pfad von Eisen.

Und donnernd rollt der Wagenzug
Vorbei den alten Meilensteinen,
Wie Blitz des Zeus und Geisterflug,
Der Erde Völker zu vereinen.

Hermann Lingg

 


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