Auswahl Deutscher Gedichte für höhere Schulen
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Der Kirschbaum

I. Alemannisch

Der Liebgott het zum Früehlig gseit:
»Gang, deck im Würmli au sie Tisch!«
Druf het der Chriesbaum Blätter treit.
Viel tuusig Blätter grün und frisch.

Und 's Würmli usem Ei verwacht's,
's het geschlofen i sim Winterhuus,
Es streckt si und sperrt 's Muli uf
Und ribt die blöden Augen us.

Und druf se het's mit stillem Zahn
Am Blättli gnagt enanderno
Und gseit: »Wie isch das Gmües so guet!
Mer chunnt schier nümme weg dervo.«

Und wieder het der Liebgott gseit:
»Deck jez im Immli au si Tisch!«
Druf het der Chriesbaum Blüete treit.
Viel tuusig Blüete wiiß und frisch.

Und 's Immli sieht's und fliegt druf hi
Früeih in der Sunne Morgeschin.
Es denkt: »Das wird mi Kaffe si,
Sie hend doch chosper Porzelin.

Wie sufer sin die Chächli gschwenkt!«
Es streckt si troche Züngli dri,
Es trinkt und seit: »Wie schmeckt's so süeß!
Do mueß der Zucker wohlfel si.«

Der Liebgott het zum Summer gseit:
»Gang, deck im Spätzli au si Tisch!«
Druf het der Chriesbaum Früchte treit.
Viel tuusig Chriesi rot und frisch.

Und 's Spätzli seit: »Isch das der Bricht?
Do sitzt me zue und frogt nit lang.
Das git mer Chraft in Mark und Bei
Und stärkt mer d'Stimm zu neuem Gsang.«

Der Liebgott het zum Spötlig gseit:
»Ruum ab, sie hen jez alli gha!«
Druf het e chüele Bergluft gweiht,
Und's het scho chline Riife gha.

Und d'Blättli werde gel und rot
Und fallen eis em andre no;
Und was vom Boden obsi chunnt,
Mueß au zum Bode nidsi goh.

Der Liebgott het zum Winter gseit:
»Deck weidli zue, was übrig isch!«
Truf het der Winter Flocke gstreut.

Peter Hebel

 

II. Hochdeutsch

Zum Frühling sprach der liebe Gott:
»Geh, deck' dem Würmlein seinen Tisch!«
Darauf der Kirschbaum Blätter trug.
Viel tausend Blätter grün und frisch.

Und 's Würmlein – aus dem Ei erwacht's
Nach langem Schlaf im Winterhaus.
Es streckt sich, sperrt sein Mäulchen auf
Und reibt die blöden Augen aus,

Und drauf so nagt's mit stillem Zahn
Am zarten Blättlein hier und dort
Und spricht: »Wie ist 's Gemüs so gut!
Man kommt schier nimmer wieder fort.«

Und aber sprach der liebe Gott:
»Deck' jetzt dem Bienlein seinen Tisch!«
Darauf der Kirschbaum Blüten trug.
Viel tausend Blüten weiß und frisch.

Und bei der Sonne Morgenlicht
Schaut's Bienlein, und es fliegt heran
Und denkt: »Das wird mein Kaffee sein,
Sie haben kostbar Porzellan.

Wie sauber sehn die Kelchlein aus!"
So steckt's sein Züngelchen hinein
Und trinkt und sagt: »Wie schmeckt's so süß!
Der Zucker muß doch wohlfeil sein.«

Zum Sommer sprach der liebe Gott:
»Deck' auch dem Spätzlein seinen Tisch!«
Darauf der Kirschbaum Früchte trug.
Viel tausend Kirschen rot und frisch.

Und 's Spätzlein sagt: »Ist's so gemeint.
Da nimmt man Platz und fragt nicht lang.
Das gibt mir Kraft in Mark und Bein
Und stärkt die Kehle zum Gesang.«

Zum Spätling sprach der liebe Gott:
»Räum' ab, sie haben alle jetzt!«
Drauf kam die kühle Bergesluft,
Und schon hat's kleinen Reif gesetzt.

Die Blätter werden gelb und rot
Und fallen bei des Windes Wehn,
Und was vom Boden aufwärts kommt.
Muß auch zum Boden abwärts gehn.

Zum Winter sprach Gott zum Beschluß:
»Deck' wacker zu, was übrig ist!«
Da streut' er Schnee im Überfluß.

( Übersetzt von Echtermeyer)

 


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